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drei

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Als ich vier war, lief es so:

Unsere Familie wohnte in einer schäbigen Wohnung in Manhattan. Zu der Zeit wusste ich nicht, dass sie schäbig war, ich kannte noch keine andere Wohnungen, mit denen ich sie hätte vergleichen können. Die Rohrleitungen waren über Putz verlegt. Das ist nicht gut. Man möchte sein Kind nicht in einem Haus großziehen, in dem die Rohre über Putz liegen. Ich weiß noch: Da gab es ein grünes Rohr und ein rotes und ein weißes, und die liefen an der Ecke im Flur zusammen, direkt vor dem Bad, und sobald ich laufen konnte, hab ich mir die alle genau angesehen. Ich bin hingetippelt und hab die Hände so mit zwei Millimeter Abstand davor gehalten, um zu testen, ob sie heiß oder kalt waren. Eines war kalt, eines warm, und das rote war richtig heiß. Zwei Millimeter waren nicht genug. Ich hab mich daran verbrannt, und Dad, der das nicht gemerkt hatte (»Es soll eigentlich nur nachmittags heiß werden«), hat mit Klebeband dunkelbraunes Schaumzeug drumgeklebt, aber Klebeband hat mich noch nie aufgehalten. Und an dem Schaumstoff zu zerren und darauf rumzukauen hat Spaß gemacht, da hab ich ihn abgerissen und drauf rumgekaut, und als dann andere Kinder zu uns kamen, hab ich sie angestachelt, das wieder freigelegte Rohr anzufassen. Ich hab behauptet, jeder, der dort reinkommt, müsse das Rohr anfassen, sonst wäre er ein Waschlappen, ein Wort, das Dad aus dem Fernsehen hatte. Ich fand es toll, denn es hatte zwei Bedeutungen: einmal das Ding zum Waschen, das im Bad am Haken hing, und dann das, womit man Leute dazu brachte, etwas Bestimmtes zu tun. Genau wie Huhn, das hatte auch zwei Bedeutungen: der Vogel, der herumlief, und das weiße Zeug, das man aß. Manche fassten das heiße Rohr aber auch an, wenn man dummes Huhn zu ihnen sagte.

Ich hatte ein eigenes Zimmer, war darin aber nicht gern allein. Der einzige Raum, in dem ich mich gern aufhielt, war das Wohnzimmer, und zwar unter dem Tisch, auf dem all die Enzyklopädien lagen. Ich baute mir eine kleine Höhle, zog eine Decke über mich und arbeitete darin mit einer Lampe, die Daddy mir gebastelt hatte. Ich beschäftigte mich mit Landkarten. Landkarten hatte ich sehr gern. Ich wusste, dass wir in Manhattan wohnen, und besaß auch eine Straßenkarte davon, einen Atlas von Hagstrom, der alle fünf Boroughs verzeichnete mit all den jeweiligen Straßen. Ich konnte auf der Karte ganz genau zeigen, wo wir wohnten: an der Ecke 53rd Street und 3rd Avenue. Die Third Avenue war eine gelbe Straße, weil es eine Avenue war, breit und lang und wichtig. Die Fifty-Third Street war eine kleine weiße Straße und zog sich quer durch Manhattan. Straßen verliefen quer, Avenues nach oben und nach unten; mehr brauchte man sich nicht zu merken. (Dad half mir auch beim Einprägen, wenn wir rausgingen und uns Pfannkuchen holten. »Möchtest du deine in Streets und Avenues geschnitten haben, Craig?«, hat er mich immer gefragt. Und ich immer: »Ja!«. Und er hat ein Gitter in den Stapel Pfannkuchen geschnitten, und unterwegs haben wir jede Straße und jede Avenue aufgezählt und aufgepasst, dass wir auch ja zur Ecke 3rd Ave. und 53rd Street kamen.) Das war ganz einfach. Und wenn man schon richtig weit war (so wie ich, hm-hm), wusste man, dass die geraden Straßen Einbahnstraßen nach Osten und die ungeraden Einbahnstraßen nach Westen waren. Und alle paar Straßen kamen dicke gelbe dazwischen, so wie die Avenues zum Beispiel, die in beiden Richtungen befahrbar waren. Das waren die berühmten Straßen: die 42nd Street, die 34th Street. Von unten nach oben lautete die komplette Liste: Chambers St., Canal St., Houston St., 14th St., 23rd St., 34th St., 42nd St., 57th St., 72nd St. (in den 60ern gab es keine breiten Straßen; die wurden übergangen), 79th St., 86th St., 96th St., und dann war man in Harlem, wo Manhattan endgültig zu Ende war, jedenfalls für kleine Jungs, die sich unter Enzyklopädien Höhlen bauten und Landkarten ansahen.

Ich hatte die Manhattan-Karte kaum gesehen, da wollte ich sie schon zeichnen. Ich sollte doch wenigstens in der Lage sein, die Stadt zu zeichnen, in der ich wohnte. Deshalb fragte ich Mom nach Pauspapier, sie kaufte mir auch welches, ich nahm es in meine Höhle mit und fing gleich mit der ersten Karte aus dem Hagstrom-Atlas an – mit Downtown, wo die Wall Street und die Börse lagen. Und richtete meine Lampe darauf. Die Straßen hier unten waren der reine Wahnsinn, die waren gar nicht in Straßen und Avenues geordnet, hatten bloß Namen und sahen aus wie Mikadostäbchen. Doch bevor ich überhaupt an die Straßen denken konnte, musste ich erst mal das Land richtig hinkriegen. Manhattan war im Grunde ja auf Land gebaut. Wenn irgendwie Straßen aufgerissen wurden, sah man’s unter dem Belag – richtige Erde! Und das Land beschrieb unten an der Spitze der Insel einen bestimmten Bogen, gekrümmt wie ein Dinosaurierkopf, rechts hucklig und links gerade, ein majestätisch geschwungenes unteres Ende.

Ich drückte mein Pauspapier nach unten und versuchte die Linie des unteren Manhattan nachzuziehen.

Ich schaffte es nicht.

Ich meine: es war lächerlich. Meine Linie hatte mit der echten nichts zu tun. Ich verstand das nicht – ich hielt das Pauspapier doch fest. Ich sah auf meine kleine Hand. »Halt still«, sagte ich zu ihr, knüllte das Papier zusammen und probierte es noch einmal.

Die Linie stimmte wieder nicht. Ihr fehlte der Schwung.

Ich zerknüllte das Papier und probierte es zum dritten Mal.

Diese Linie war sogar noch schlimmer als die vorherige. Manhattan sah kantig aus.

Ich probierte es wieder.

Oh Mann, jetzt sah es aus wie eine Ente.

Knüll.

Jetzt sah es aus wie ein Haufen Scheiße, noch ein Ausdruck, den ich von Dad aufgeschnappt hatte.

Knüll.

Jetzt sah es aus wie eine Birne.

Es sah aus wie alles andere, bloß nicht so, wie es aussehen sollte: wie Manhattan. Ich bekam es nicht hin. Mir war nicht klargewesen, dass man, um etwas durchzupausen, einen Zeichentisch haben sollte, von unten beleuchtet, und dazu Klemmen, die das Papier hielten, statt der zitternden Hand eines Vierjährigen, und deshalb hielt ich mich für einen Versager. Im Fernsehen sagten sie immer, man könne alles, was man wolle, und jetzt versuchte ich etwas und kriegte es nicht hin. Ich würde es nie schaffen. Ich knüllte den letzten Bogen Pauspapier zusammen und fing in meiner Höhle an zu schluchzen, den Kopf in die Hände gestützt.

Mom hörte mich.

»Craig?«

»Was ist? Geh weg!«

»Was hast du denn, Liebling?«

»Mach ja nicht den Vorhang auf! Lass zu! Ich hab hier Sachen drunter.«

»Warum weinst du denn? Was ist los?«

»Ich kann es nicht.«

»Was denn?«

»Nichts!«

»Sag’s Mami, komm schon. Ich zieh das Laken hoch –«

»Nein!«

Ich sprang ihr ins Gesicht, als sie das Bettlaken so zur Seite zog, dass die Bücher ins Rutschen gerieten. Mom warf die Arme hoch und hielt die Bücher auf, rettete uns beide davor, sie über den Kopf zu kriegen. (Eine Woche später ließ sie Dad die Enzyklopädien an einen anderen Platz räumen.) Da sie die Hände voll hatte, rannte ich – tränenüberströmt, wie ich war – durchs Zimmer, wollte ins Bad und mich dort bei ausgeschaltetem Licht aufs Klo setzen und mir warmes Wasser ins Gesicht spritzen. Aber Mom war zu schnell. Sie schob die dicken Bücher auf den Tisch zurück, fing mich im Rennen auf und hob mich mit ihren dünnen Armen, an deren Ellbogen man die Haut vom Knochen abziehen konnte, hoch. Ich trommelte mit den flachen Händen auf sie ein.

»Craig! Wir schlagen Mami nicht!«

»Ich kann es nicht, ich kann es nicht, ich kann es nicht!« Ich schlug sie.

»Was denn nicht?« Sie drückte mich so fest an sich, dass ich die Arme nicht mehr bewegen konnte. »Was kannst du nicht?«

»Ich kann Manhattan nicht zeichnen!«

»Huch?« Mom schob den Kopf nach hinten und wandte mir ihr Gesicht zu. »Das hast du da unten probiert?«

Ich nickte schniefend.

»Du wolltest Manhattan zeichnen? Mit dem Pauspapier, das ich dir mitgebracht habe?«

»Ich kann es nicht.«

»Craig, das kann niemand.« Sie lachte. »Das einfach so freihändig zu zeichnen, das kannst du nicht können. Das ist unmöglich.«

»Wie zeichnen die denn dann die Landkarten?«

Mom verstummte.

»Siehst du? Siehst du? Irgendjemand kann es doch.«

»Die haben auch Geräte dafür, Craig. Das sind Erwachsene, und sie haben spezielle Werkzeuge, die sie dafür verwenden.«

»Dann brauch ich eben diese Werkzeuge.«

»Craig.«

»Kaufen wir welche!«

»Liebling.«

»Kosten die viel Geld?«

»Liebling.«

Mom setzte mich auf das Sofa, das sich nachts für sie und Dad in ein Bett verwandelte, und setzte sich neben mich. Ich weinte nicht mehr. Ich schlug nicht mehr um mich. Damals war mit meinem Kopf noch alles in Ordnung, ich landete nicht dauernd auf irgendwelchen toten Gleisen.

»Craig«, sagte sie seufzend und sah mich an. »Ich habe eine Idee. Anstatt die Manhattan-Karte nachzuzeichnen könntest du doch versuchen, eigene Karten zu machen, von Plätzen, die du dir selber ausdenkst

Näher bin ich einer Epiphanie bisher noch nicht gewesen.

Ich konnte mir eine eigene Stadt machen. Konnte meine eigenen Straßen nutzen. Konnte einen Fluss da hinzeichnen, wo ich ihn haben wollte. Konnte den Ozean da hinzeichnen, wo ich ihn haben wollte. Die Brücken genauso – wo ich wollte, und ich konnte einen großen Highway mitten durch die Stadt zeichnen, wie Manhattan einen haben sollte, aber nicht hatte. Ich konnte mir ein eigenes U-Bahnnetz ausdenken. Konnte Straßennamen so erfinden, wie ich wollte. Ich konnte mein eigenes Straßengitter haben, das sich bis zu den Rändern der Karte erstreckte. Ich lächelte und umarmte Mom.

Sie besorgte mir dicken Zeichenkarton – weißes Zeichenpapier. Als ich größer wurde, nahm ich dann lieber einfaches weißes Computerpapier. Ich kroch wieder in meine Höhle, schaltete das Licht an und begann mit meiner ersten Karte. Und das tat ich die nächsten fünf Jahre lang – in der Schule hab ich nie irgendwie herumgekritzelt, sondern immer Karten gezeichnet. Und zwar Hunderte. Wenn ich eine fertig hatte, zerknüllte ich sie; ich hatte sie gezeichnet, darauf kam es an. Ich hab Städte im Ozean gemacht, Städte, in denen sich zwei Flüsse in der Mitte treffen, Städte mit einem breiten, gewundenen Fluss, Städte mit Brücken, mit verrückten Autobahnkreuzen, Kreisverkehren und Boulevards. Ich hab Städte erfunden. Das hat mich glücklich gemacht. Das war mein Anker. Und bis ich neun wurde und mit den Videospielen anfing, wollte ich das werden, wenn ich groß war: Kartograph.

Eine echt verrückte Story

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