Читать книгу Eine echt verrückte Story - Ned Vizzini - Страница 6
zwei
Оглавление»Wie geht es Ihnen?«, fragt Dr. Minerva.
In ihrem Behandlungszimmer steht ein Bücherregal wie bei allen Seelenklempnern. Ich wollte eigentlich nicht Seelenklempner sagen, aber jetzt, wo ich schon so viele hinter mir habe, fühle ich mich doch dazu berechtigt. Es ist ein Erwachsenenwort und respektlos, und ich bin ja selbst schon fast ganz erwachsen und respektlos, also was soll’s.
Jedenfalls steht bei ihr wie überall in den Zimmern der Seelenklempner lauter Fachlektüre im Bücherregal. Zuerst mal das DSM, das Diagnostic and Statistical Manual, in dem alle bekannten psychischen Störungen verzeichnet sind – macht Spaß, das zu lesen. Ganz schön dicke Schwarte. Richtig viel von dem, was da drinsteht, hab ich nicht – bloß eine große Sache. Aber durch das Blättern weiß ich Bescheid. Stehen tolle Sachen da drin. Es gibt eine Krankheit namens Undine-Syndrom, da verliert der Körper die Fähigkeit, unwillkürlich zu atmen. Wenn man sich das vorstellt! Man muss dauernd »atme, atme!« denken, sonst hört man auf damit. Die meisten, die das kriegen, sterben daran.
Wenn die Frau Doktor Format hat, hat sie (denn meistens ist es eine Frau und kein Herr Doktor) einen ganzen Haufen DSMs da rumstehen, die gibt es nämlich in verschiedenen Ausgaben – III, IV und V sind die gebräuchlichsten. Ein DSM II wird man wohl nicht finden. Das kam 1963 oder so raus. Es dauert um die zehn Jahre, ein neues rauszubringen, jetzt arbeiten sie an Ausgabe VI.
Du meine Güte, ich könne selber Seelenklempner sein.
Zusätzlich zu den DSMs steht da ein ganzes Sortiment von Fachbüchern über psychiatrische Störungen, Bücher wie das Arbeitsbuch Wege aus der Depression, Angst & Panikattacken: Ursachen und Heilung oder Gewohnheiten von Hocheffektiven. Immer gebundene Ausgaben. Taschenbücher kommen in das Behandlungszimmer eines Seelenklempners nicht rein. Gewöhnlich findet sich auch ein Buch über Kindesmisshandlung, Ins Herz getroffen zum Beispiel. Einmal hat mich eine Ärztin dabei erwischt, wie ich mir das angesehen hab, und gleich gesagt: »In dem Buch geht es um Kindesmisshandlung.«
Und ich nur: »Hm-hm.«
Darauf sie: »Das ist für Menschen, die eine Missbraucherfahrung haben.«
Und ich bloß genickt.
»Haben Sie eine?«
Diese eine Ärztin hatte so ein verhutzeltes Altfrauengesicht und einen Schopf weißer Haare – ich bin nie wieder hingegangen. Was für eine Frage sollte das denn sein? Natürlich bin ich nicht missbraucht worden. Wenn, dann wäre ja alles so einfach. Dann hätte ich einen Grund dafür, mich bei Seelenklempnern rumzudrücken. Dann hätte ich eine Rechtfertigung und etwas, woran ich arbeiten könnte. Aber so was Ordentliches und Klares würde mir die Welt nie schenken.
»Mir geht’s gut. Na ja, nicht gut – ich bin schließlich hier.«
»Ist damit irgendwas nicht in Ordnung?«
»Absolut nicht.«
»Sie kommen doch schon eine ganze Weile.«
Dr. Minerva trägt immer so erstaunliche Sachen. Nicht dass sie besonders sexy oder hübsch wäre, sie macht sich nur gut zurecht. Heute hat sie einen roten Pullover an und dazu einen roten Lippenstift in genau demselben Rot. Als ob sie in ein Farbengeschäft gegangen wäre, um alles abzustimmen.
»Ich möchte nicht hierher kommen müssen.«
»Na ja, Sie machen einen Prozess durch. Wie fühlen Sie sich?«
Sie gibt mir das Stichwort. Die Seelenklempner haben immer so eine Stichwortfrage. Ich hab schon welche gehabt, die sagten: »Na, wie ist es?«, oder: »Wie geht es uns?«, oder sogar: »Was passiert in Craigs Welt?« Das ändert sich nie. Es ist wie ihre Kennmelodie.
»Ich bin heute nicht gut aufgewacht.«
»Haben Sie gut geschlafen?«
»Das Schlafen war okay.«
Sie guckt vollkommen versteinert, sieht stur geradeaus. Ich begreif nicht, wie die das hinkriegen, dieses Psychologen-Pokerface. Psychologen sollten Poker spielen. Vielleicht machen sie das ja auch. Vielleicht sind sie diejenigen, die das ganze Geld im Fernsehen gewinnen. Und dann besitzen sie auch noch die Frechheit, meiner Mom hundertzwanzig Dollar pro Stunde abzuknöpfen. Sie kriegen den Hals nicht voll.
»Was ist passiert, als Sie aufgewacht sind?«
»Ich hatte einen Traum. Ich weiß nicht, was es für einer war, aber als ich aufgewacht bin, hab ich gemerkt – ich bin wach! Schrecklich war das. Das hat mich wie ein Tritt in den Unterleib getroffen.«
»Wie ein Tritt in den Unterleib, verstehe.«
»Ich wollte nicht aufwachen. Mit dem Schlafen ging es mir viel besser. Und das ist echt traurig. Es war fast wie ein Albtraum andersrum, denn wenn man aus einem Albtraum aufwacht, ist man doch total erleichtert. Ich bin aber in einen Albtraum hinein erwacht.«
»Und was ist dieser Albtraum, Craig?«
»Das Leben.«
»Das Leben ist ein Albtraum.«
»Ja.«
Wir halten inne. Wohl ein kosmischer Moment. Ohhh, ist das Leben wirklich ein Albtraum? Wir brauchen zehn Sekunden, um darüber nachzudenken.
»Was haben Sie gemacht, als Sie merkten, dass Sie wach sind?«
»Ich hab im Bett gelegen.« Da waren noch mehr Dinge, die ich ihr sagen musste, Dinge, die ich zurückhielt: wie die Tatsache, dass ich heute Morgen im Bett Hunger hatte. Ich hatte gestern Abend nichts gegessen. Von den Hausaufgaben erschöpft, bin ich ins Bett gegangen, und kaum dass ich auf dem Kissen lag, wusste ich, dass ich am Morgen dafür würde büßen müssen, dass ich also richtig Hunger haben würde beim Aufwachen, dass ich die Grenze überschreiten würde, wo mein Magen so dringend etwas braucht, dass ich nichts essen kann. Ich bin aufgewacht, und mein Magen hat geschrien, war unter meiner schmächtigen Brust ganz ausgehöhlt. Ich wollte nichts essen. Beim bloßen Gedanken ans Essen hat es noch mehr wehgetan. Mir ist nichts eingefallen – kein einziges Nahrungsmittel –, mit dem ich klarkommen würde, außer Mocca-Joghurt. Und gerade den Mocca-Joghurt hatte ich so satt.
Ich hab mich auf den Bauch gedreht und die Fäuste geballt und mir auf den Unterleib gepresst, als würde ich beten. Mit den Fäusten hab ich meinen Magen zusammengequetscht und zu dem Irrglauben verleitet, er wäre gefüllt. So hab ich eine Weile gelegen, warm, meine Gedanken sind gekreist, die Sekunden verstrichen. Nur der pure Drang, das eine, auf das ich mich immer verlassen kann, hat mich fünfzig Minuten später aus dem Bett gebracht.
»Ich bin aufgestanden, als ich pissen musste.«
»Aha.«
»Es war toll.«
»Sie urinieren gern. Das haben Sie schon erwähnt.«
»Ja. Es ist so einfach.«
»Sie mögen es einfach.«
»Geht das nicht allen so?«
»Manche Menschen blühen bei kniffligen Dingen richtig auf, Craig.«
»Na ja, ich nicht. Als ich hierher gekommen bin, dachte ich ... ich hab so eine Phantasie, da bin ich Fahrradkurier.«
»Ah.«
»Das wäre so einfach und direkt, und ich würde sogar dafür bezahlt werden. Es wäre ein Anker.«
»Und die Schule, Craig? Sie haben doch die Schule als Anker.«
»Die Schule breitet sich zu sehr aus, die zerteilt sich in tausend unterschiedliche Dinge.«
»Ihre Tentakel.«
Das muss ich ihr lassen: Dr. Minerva hat sich ziemlich schnell in meine Ausdrucksweise eingefuchst. Tentakel ist mein Wort – die Tentakel sind die grässlichen Aufgaben, die in mein Leben eingreifen. Zum Beispiel letzte Woche die Stunde in amerikanischer Geschichte, in der ich einen Aufsatz über die Waffen im Unabhängigkeitskrieg schreiben sollte, wodurch ich genötigt war, zum Metropolitan Museum zu fahren und mich über einige der alten Waffen zu informieren, wodurch ich genötigt war, mit der U-Bahn zu fahren, wodurch ich genötigt war, eine Dreiviertelstunde ohne Handy und E-Mail auszukommen, was zur Folge hatte, dass ich nicht auf eine Rundmail meines Lehrers antworten konnte, der wissen wollte, wer Zusatzpunkte brauchte, was zur Folge hatte, dass andere sich die Zusatzpunkte schnappten, was zur Folge haben würde, dass ich keine 98 Punkte für den Kurs bekäme, was zur Folge haben würde, dass ich nicht mal annähernd einen Durchschnitt von 98,6 erreichen würde (kurz vorm Kochen, diese Temperatur musste man erreichen), was zur Folge haben würde, dass ich an kein gutes College käme, was zur Folge haben würde, dass ich keinen guten Job fände, was zur Folge haben würde, dass ich keine Krankenversicherung dabei hätte, was zur Folge haben würde, dass ich Unsummen für die Seelenklempner und Medikamente würde bezahlen müssen, die ich mit meinem Kopf brauchte, was zur Folge haben würde, dass ich nicht genug Geld hätte, um ein gutes Leben zu finanzieren, was zur Folge haben würde, dass ich mich schämte, was zur Folge haben würde, dass ich depressiv würde. Und das war der Oberhammer, denn ich wusste ja, was das bei mir bewirkte: Ich würde nicht aus dem Bett aufstehen, und dann käme es zum Allerschlimmsten – ich würde obdachlos werden. Wenn man lange genug nicht aus den Bett kommt, kommen welche und nehmen einem das Bett weg.
Das Gegenstück zu den Tentakeln sind die Anker. Die Anker sind Dinge, die mein Denken beschäftigen und durch die ich mich vorübergehend wohlfühle. Mit dem Fahrrad zu fahren ist ein Anker. Lernkärtchen machen ist ein Anker. Andern zuzusehen, wie sie bei Aaron Videospiele spielen, ist ein Anker. Die Antworten sind einfach und folgerichtig. Ich brauche nichts zu entscheiden. Es gibt keine Tentakel. Es gibt nur einen Haufen Aufgaben, die man in Angriff nimmt. Man braucht sich nicht mit anderen Leuten abzugeben.
»Was tun Sie, um einfach bloß faul zu sein, Craig?«
»Ich lieg tagtäglich mindestens eine Stunde sinnlos im Bett. Dann vertrödel ich Zeit, indem ich hin und her laufe. Ich vertrödel Zeit mit Nachdenken. Damit, dass ich den Mund halte und nichts sage, weil ich Angst hab, ich könnte stottern.«
»Haben Sie Probleme mit dem Stottern?«
»Wenn ich deprimiert bin, kommt es nicht richtig raus. Dann hör ich mitten im Satz auf.«
»Verstehe.« Sie schreibt was auf ihren Notizblock. Craig, das kommt in deine Patientenakte.
»Das mit dem Rad«, sage ich und schüttele den Kopf, »das ist nicht – «
»Was? Was wollten Sie gerade sagen?« Auch so ein Trick, den die Seelenklempner auf Lager haben. Sie lassen nicht zu, dass man mitten im Satz aufhört. Man braucht bloß den Mund aufzumachen, schon wollen Sie ganz genau wissen, was man sagen wollte. Zu den tiefsten Wahrheiten über uns gehört genau das, wo wir mittendrin beim Reden abbrechen; da sind sie sich alle einig, aber ich glaube, das sagen sie nur, damit wir uns bedeutend vorkommen. Eins steht mal fest: Es gibt sonst niemanden in meinem Leben, der sagt: »Moment, Craig, was wolltest du gerade sagen?«
»Ich wollte sagen, ich glaub, das Stottern ist kein ernstes Problem. Das ist nur eins meiner Symptome.«
»Wie das Schwitzen.«
»Genau.« Das Schwitzen ist grässlich. Es ist zwar nicht so schlimm wie das Nicht-Essen, aber es ist verrückt – kalter Schweiß, auf der ganzen Stirn, den ich alle zwei Minuten abwischen muss und der wie Hautkonzentrat riecht. Andere registrieren das. Es gehört zu den wenigen Dingen, die anderen auffallen.
»Jetzt stottern Sie nicht.«
»Das hier wird ja auch bezahlt. Ich möchte die Zeit nicht vergeuden.«
Schweigen. Jetzt führen wir einen unserer stillen Kämpfe: Ich sehe Dr. Minerva an und sie sieht mich an. Es ist ein Wettkampf, wer zuerst klein beigibt. Sie zieht ihr Pokerface; ich hab kein Extragesicht, das ich ziehen könnte, bloß das normale Craig-Gesicht.
Unsere Blicke treffen sich. Ich warte darauf, dass sie etwas Tiefsinniges sagt – das mach ich immer, obwohl es nie eintritt. Ich warte darauf, dass sie »Craig, Sie müssen das und das tun« sagt und dass es dann die Wende gibt. Ich wünsch mir diese Wende so dringend. Ich möchte, dass mein Denken wieder dort einrastet, wo es hingehört, und an Ort und Stelle bleibt, wie bis zum vorigen Jahr im Herbst. Damals war ich noch jung und witzig, und meine Lehrer sagten, ich ließe Unglaubliches erwarten. Und ich hab im Unterricht den Mund aufgemacht, weil ich die Welt so aufregend fand und so Kluges darüber zu sagen hatte. Ich wünsch mir die Wende so sehr. Ich warte auf den Satz, der sie auslöst. Das wird dann wie ein richtiges Wunder in meinem Leben sein. Aber kann Dr. Minerva Wunder bewirken? Nein. Sie ist eine dünne, sonnengebräunte Frau aus Griechenland, mit rotem Lippenstift.
Sie bricht das Schweigen als Erste.
»Zu Ihrem Radfahren, Sie haben gesagt, Sie wären gern Fahrradkurier.«
»Ja.«
»Sie haben schon ein Fahrrad, stimmt’s?«
»Ja.«
»Und Sie fahren oft?«
»So viel nun auch wieder nicht. Mom erlaubt mir nicht, damit zur Schule zu fahren. Aber am Wochenende fahr ich in Brooklyn rum.«
»Wie fühlt es sich an, wenn Sie auf Ihrem Fahrrad herumfahren, Craig?«
Ich überlege kurz. »... Geometrisch.«
»Geometrisch.«
»Ja. Du musst diesem Truck ausweichen und so. Diese Metallrohre nicht an den Kopf kriegen. Bieg rechts ab. Es gibt festgelegte Regeln, und an die hält man sich.«
»Wie bei einem Videospiel.«
»Klar. Ich mag Videospiele. Allein das Zusehen. Schon als Kind.«
»Und dazu sagen Sie ja oft: damals, als Sie noch glücklich waren.«
»Genau.« Ich streiche mein Hemd glatt. Ich achte auch für diese kleinen Treffen auf mein Äußeres. Eine gute Khakihose und ein weißes Anzughemd. Wir brezeln uns beide auf, jeder für den anderen. Eigentlich sollten wir zusammen einen Kaffee trinken gehen und einen Skandal anzetteln – die griechische Therapeutin und ihr Freund, der Junge von der Highschool. Wir könnten berühmt sein. Das würde mir Geld einbringen und mich glücklich machen.
»Erinnern Sie sich an Dinge, die Sie glücklich gemacht haben?«
»Die Videospiele.« Ich muss lachen.
»Was ist so komisch?«
»Vorgestern bin ich bei mir die Straße langgegangen, und hinter mir ging eine Mutter mit ihrem Kind. Die Mutter sagte: ›Also Timmy, darüber möchte ich keine Klagen von dir hören. Du kannst nicht den ganzen Tag lang PlayStation spielen.‹ Und Timmy: ›Ich will aber!‹ Da hab ich mich rumgedreht und zu ihm gesagt: ›Ich auch.‹«
»Sie wollen den ganzen Tag lang PlayStation spielen?«
»Oder zusehen. Ich will einfach nicht ich sein. Egal ob beim Schlafen oder beim Videospielen oder beim Radfahren oder beim Lernen. Ich will meine Gedanken los sein. Darauf kommt es an.«
»Sie haben sehr klare Vorstellungen von dem, was Sie wollen.«
»Ja.«
»Was wollten Sie als Kind? Damals, als Sie glücklich waren. Was wollten Sie werden, wenn Sie erst mal groß sind?«
Dr. Minerva ist eine gute Ärztin, glaub ich. Das ist zwar nicht die Antwort, aber es war eine verdammt gute Frage. Was wollte ich werden, wenn ich erst mal groß bin?