Читать книгу Eine echt verrückte Story - Ned Vizzini - Страница 9
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ОглавлениеMeine Familie hat es nicht verdient, sich mit mir herumplagen zu müssen. Sie sind gute Leute, solide, fröhlich. Wenn ich mit ihnen zusammen bin, denke ich manchmal, ich wär im Fernsehen.
Wir wohnen in einer Wohnung in Brooklyn – viel besser als die damals in Manhattan, aber immer noch nicht gut genug, nichts, auf das man stolz sein könnte. Brooklyn ist ein dicker, fetter Klecks mit einer hässlichen Form auf der gegenüberliegenden Seite von Manhattan. Es sieht aus wie Jabba the Hutt beim Geldzählen. Seine Brücken verbinden es mit Manhattan, es ist durchzogen von Kanälen und Bächen – dreckigen grünen Wasserstreifen, die einen daran erinnern, dass es früher mal ein Sumpf war. Bebaut ist es mit braunen Stein- und Kalksteinhäusern – hellen und dunklen, die dastehen wie Zaunpfähle und dauernd von Indianern renoviert werden, und alle sind verrückt auf diese Häuser und bezahlen Millionen von Dollar dafür, dass sie in einem wohnen können. Doch davon abgesehen macht Brooklyn nicht allzu viel her. Es ist eine Schande, dass wir aus Manhattan weggezogen sind, wo all die Leute wohnen, die wirklich was zu sagen haben.
Der Weg von Dr. Minervas Praxis bis zu unserer Wohnung ist nur kurz, aber wie zum Hohn voll von Läden. Lebensmittelläden. Das Essen ist der absolut schlimmste Teil am Deprimiertsein. Die Beziehung zum Essen ist eine der wichtigsten Beziehungen eines Menschen. Die Beziehung zu den Eltern ist wahrscheinlich nicht so wichtig als diese. Manche Menschen kennen ihre Eltern nicht mal. Und die persönliche Beziehung zur Luft – die ist der Schlüssel zu allem. Mit der Luft kann man nicht Schluss machen. Sie und du, ihr seid unlöslich verbunden. Nur etwas weniger wichtig ist Wasser. Und dann kommt schon Essen. Du kannst Essen nicht den Laufpass geben und dir was anderes suchen. Du musst eine Übereinkunft mit ihm treffen.
Ich hab die üblichen amerikanischen Gerichte nie gemocht: T-Bone-Steaks, gebratene Lammkeule und solche Sachen ... Ich mag sie immer noch nicht. Von Gemüse ganz zu schweigen. Ich mochte Essen, das in geometrischer Form existierte: Chicken Nuggets, Fruit Roll-Ups, Hotdogs. Ich mochte Fastfood. Ich konnte eine ganze Tüte Cheez Doodles vertilgen; das Zeug war mir so tief in die Haut eingezogen, dass ich es den ganzen Tag überall an mir schmeckte. Darum lief es so gut mit mir und dem Essen. Ich dachte daran, wie es jeder tut: wenn man Hunger hat, isst man was.
Dann passierte das im letzten Herbst und ich hörte auf zu essen.
Jetzt werde ich von diesen Lebensmittelläden verhöhnt, diesen Pizzabuden, Eisdielen, Delis, China-Imbissen, Bäckereien, Sushi-Theken, McDonald’s. Die hocken da in den Straßen und strecken mir entgegen, woran ich keine Freude habe. Mein Magen muss geschrumpft sein oder so; er kann nicht mehr so viel aufnehmen, und wenn ich eine bestimmte Menge hineinzwängen will, lehnt er alles ab und schickt mich ins Bad, wo ich im Dunkeln alles wieder von mir geben muss. Es ist wie ein Nagen, ein Zerren an einem Seil, das ums Ende meiner Speiseröhre gewickelt ist. Da unten sitzt ein kleiner Mann, der was zu essen will, aber darum bitten kann er nur, indem er an dem Seil zerrt. Wenn er das aber tut, schließt es den Mageneingang ab, und ich kann nichts reingeben. Wenn er bloß lockerlassen, das Seil loslassen würde, dann könnte ich ihm alles zu essen geben, was er haben will. Aber er sitzt da unten und macht mich benommen und müde, und wenn ich an Restaurants vorbeikomme, wo es nach Öl und Bratfett riecht, zieht er noch mal extra.
Wenn ich etwas esse, läuft es auf eins von beidem hinaus: Kampf oder Gemetzel. Wenn ich böse bin – wenn meine Gedanken wie wild kreisen –, wird es ein Kampf. Jeder Bissen tut weh. Mein Magen will nichts damit zu tun haben. Alles ist erzwungen. Das Essen möchte auf dem Teller bleiben, und wenn ich es erst mal in mir habe, will es auf den Teller zurück. Die Leute sehen mich seltsam an. Was hast du denn, Craig, warum isst du nicht?
Aber dann gibt es Momente, da passt es. Die Wende ist noch nicht da, vielleicht kommt sie auch nie, und manchmal – eben oft genug, dass ich die Hoffnung nicht verliere – schwirren meine Gedanken dahin zurück, wo sie hingehören. Wenn ich das spüre (ich sage Falsche Wende dazu), müsste ich eigentlich immer etwas essen, tu es aber nicht, sondern will, eigensinnig und dämlich, wie ich bin, nur das Gefühl festhalten und Dinge erledigen, solange mein Gehirn ordentlich arbeitet, und achte nicht aufs Essen und bin dann natürlich wieder genau da, wo ich angefangen habe. Aber wenn ich in der Nähe von Essen auf einmal wieder okay bin, dann – Vorsicht! Dann schlinge ich alles in mich rein: Eier und Hamburger und Fritten und Eiskrem und Marmelade und Cornflakes und Kekse, sogar Brokkoli – und Nudeln und Sauce. Verflucht, ich ess euch alle auf ! Ich bin Craig Gilner, und von euch werde ich groß und stark. Keine Ahnung, wann die Chemie meines Körpers das nächste Mal so auf Zack ist, dass ich was essen kann, und deshalb putz ich jetzt alles weg.
Und das fühlt sich so klasse an. Ich esse alles, und der Mann hat sein Seil losgelassen. Er ist da unten schwer damit beschäftigt, alles zu essen, was reingefallen kommt, rennt rum wie ein Huhn mit abgehacktem Kopf, und der Kopf liegt schon am Boden und mampft auch so vor sich hin. Und meine Zellen nehmen die Nahrung auf und finden das so gut und lieben meinen Kopf dafür, dass er es zulässt, und ich lächle und bin pappsatt. Ich bin pappsatt, funktioniere und kann alles machen, und wenn ich erst mal esse – das ist ja das Erstaunliche –, wenn ich esse, schlafe ich auch, ich schlafe, wie es sein sollte, wie ein Jäger, der gerade seine Beute nach Hause gebracht hat ... aber dann wache ich auf, und der Mann ist wieder da, mein Magen hat sich verkrampft, und ich weiß nicht, wie es dazu kam, dass ich ein Essen erlebt habe, das wie ein Gemetzel war. Das kommt nicht vom Pot. Auch nicht von den Mädchen. Und nicht von meiner Familie. Ich glaub allmählich, dass das eine rein chemische Angelegenheit ist, und falls das stimmt, suchen wir nur danach, was die Wende bewirkt, und haben es noch nicht gefunden.