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Nichts als Hunger

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Die Brotrationen und die Kartoffeln wurden immer knapper. Der Frühling, auf den wir all unsere Hoffnungen gesetzt hatten, zögerte mit seinem Einzug. Die ersten Hungertoten zogen aus den Baracken auf den kleinen Dorffriedhof, die Hoffnung auf ein Entkommen wurde immer kleiner, ja winzig. Dann ging es wie am laufenden Band. Menschen verhungerten oder erfroren massenweise. Sie erfroren, weil sie nicht mehr die Kraft aufbrachten, Holz aus dem Wald zu holen. Und das mitten im Urwald! Die Dorfbewohner konnten uns nicht helfen. Sie wollten auch keine Kleidung mehr gegen Kartoffeln eintauschen, denn ihre Vorräte gingen ebenfalls zur Neige. Da hörte ich eines Tages, dass im Herbst von einem Feld der Kolchose die Kartoffeln nicht geerntet worden waren. Ich nahm mir fest vor, da einmal nachzuschauen.

Als ich im Morgengrauen durch den Schnee zu dem Feld watete, sah ich dort Scharen von Kindern und Greisen aus den Baracken. Jeder, der nicht zur Zwangsarbeit in den Wald musste, war auf dem Feld. Mich überkam panische Angst, ich könnte leer ausgehen. Wie von Sinnen stürzte ich auf das Feld, buddelte hastig den Schnee weg und versuchte mit bloßen Händen den Boden aufzukratzen. Vor lauter Verzweiflung musste ich weinen: Der Boden war festgefroren, hart wie Stein. Ich hätte mich ohrfeigen können. Warum nur hatte ich nicht daran gedacht, einen Spaten mitzunehmen? Jetzt musste ich zurück, den ganzen weiten Weg durch den Schnee! Und die Schule? Die Schule konnte mir doch nicht weglaufen. Hauptsache, mir gelang es, einen Spaten aufzutreiben.

Also lief ich zurück ins Dorf. Die Angst, die Kartoffeln könnten alle sein, ehe ich einen Spaten gefunden hatte, trieb mich an. Vor lauter Hilflosigkeit hörte ich nicht auf zu heulen und platzte verheult und von Kopf bis Fuß voller Schnee in die Küche, wo die Familie Jurlow gerade beim Frühstück saß. Beim Anblick Sergej Iwanowitschs versiegten meine Tränen im Nu. Ich war nur noch ein klägliches Bündel Angst.

„Wo kommst du denn her, und wieso heulst du schon wieder?“ Kostja zog mich in die Mitte der Küche unter die Lampe, als sähe er mich zum ersten Mal.

„Ich, ich brauche einen Spaten, die Kartoffeln, sie buddeln alle aus, wir, wir brauchen auch Kartoffeln, wenigstens ein paar, einen Spaten wollte ich, ich dachte, ich wollte Kartoffeln, wollte bitten …“ Schon heulte ich wieder.

„Mensch, so reiß dich doch zusammen!“ Kostja schrie mich immer an, wenn ich weinte. „Was für Kartoffeln? Hast du denn noch nicht gemerkt, dass wir immer noch Winter haben und nicht Herbst? Also, was sind das für Kartoffeln, die du jetzt im Schnee ernten willst?“, er sah mich belustigt an. Sergej Iwanowitsch schien von der ganzen Angelegenheit gehört zu haben, so dass ich nicht viel zu erklären brauchte. Konnte ich auch nicht, vor lauter Heulen. Ungeduldig sah ich von einem zum anderen und konnte nicht begreifen, wieso sie alle so seelenruhig bleiben konnten, wo doch meine Kartoffeln in Gefahr waren!

Dann bot sich Kostja an, mit mir zu gehen. Das war das einzig Richtige, denn ein Spaten allein hätte mir wenig genützt. Man brauchte schon etwas mehr Kraft als die meine, um in dem steinharten, durch und durch gefrorenen Boden mit dem Spaten an die Kartoffeln zu kommen. Wir quälten uns ab, doch der Boden wollte nicht nachgeben.

Kostja lief zurück und holte eine Axt. Nun kamen wir besser voran. Die Kartoffeln lösten sich nicht von den Erdklumpen. Wir warfen einfach alles in meinen Sack und buddelten weiter, als Kostja plötzlich schrie: „Mensch, Emmi, deine Nase!“

In der Tat, erst jetzt merkte ich, dass ich weder Nase noch Wangen spürte, ein sicheres Zeichen, dass sie erfroren waren.

„Wir müssen jetzt weg, wenn du deine Nase behalten willst.“ Kostja schleifte den Sack hinter sich her, ich trug Spaten und Beil.

Die Beute ließ mich den prickelnden Schmerz im Gesicht vergessen, außerdem konnte ja nichts mehr passieren, denn Kostja hatte mir sofort das ganze Gesicht mit Schnee abgerieben. Ich aber ließ kein Auge vom Sack:

„Unglaublich, so viele Kartoffeln!“, frohlockte ich.

Doch es waren gar nicht so viele. Im Sack war mehr Erde als Früchte dieser edlen Retterin unseres Lebens. Kostja brachte einen Eimer Wasser. Jede Kartoffel wurde säuberlich gewaschen und zum Auftauen auf die Wachstischdecke gelegt. Was wir übrigens nicht hätten tun sollen, die aufgetauten Kartoffeln waren ein einziger Matsch, aus dem man nur Fladen hatte backen können. Auch schmeckten die gefrorenen Kartoffeln scheußlich. Die Schale reizte die Schleimhäute, aber es war immer noch besser als gar nichts.

In dieser Zeit konnten wir nur ans Essen denken. Der Hunger verdrängte alle Gedanken und oft auch die Gefühle. Wir hatten immer weniger Lust zum Spielen. In der Schule kamen wir auch nicht mehr mit. Wir schliefen in den Schulstunden mit offenen Augen, weil schon der lange Weg dorthin für unsere geschwächten kleinen Körper eine ungeheure Anstrengung war. Mama bekam neuerdings auch etwas Geld für ihre Arbeit, aber es war nichts wert. Für Geld konnte man nichts kaufen, die Dorfbewohner tauschten lieber Ware gegen Ware.

Nachmittags trieb ich mich in den Viehställen der Kolchose herum, sah den Kühen und Schafen zu, ging zu den niedlichen kleinen Kälbchen und anschließend zu „meiner“ Stute Golubka. Man konnte sie streicheln, tätscheln und auch mit ihr sprechen. Einmal, als sie mir wie gewöhnlich zuhören musste, hielt ich plötzlich in meinem Geplauder inne. Golubka hatte gerade ihr Futter bekommen, fast einen ganzen Eimer voll praller, goldener Haferkörner. Wie gebannt verfolgte ich jede Bewegung der Stute: wie sie den Kopf zum Futtertrog senkte, mit den weichen, wulstigen Lippen die Körner aufnahm und zu kauen begann. Unerwartet für mich selber streckte ich blitzschnell meine Hand aus, grub sie tief in den Hafer, und hielt wieder inne: „Du sollst nicht stehlen!“ Dass mir ausgerechnet jetzt dieses Gebot einfallen musste! Jedoch der Hunger, der zehrende, jeden anderen Gedanken ausmerzende Hunger half mir die Angst vor der Sünde verdrängen. Hastig stopfte ich eine Handvoll Hafer in den Mund, begann zu kauen, kaute, kaute selbstvergessen mit Genuss und wagte kaum, den Kopf zu heben und Golubka in die Augen zu sehen. Mir schien, nein, ich war ganz sicher, dass sie mich mit ihren großen samtenen Augen vorwurfsvoll anschaute.

„Aber ich habe doch auch Hunger“, versuchte ich mich vor ihr zu rechtfertigen. Ohne den Blick zu heben, griff ich noch einmal in den Futtertrog, holte eine Handvoll Hafer heraus und steckte sie in meine Manteltasche. Vor lauter Scham verabschiedete ich mich diesmal nicht von meiner Lieblingsstute, aber nichts auf der Welt hätte mich dazu bewegen können, den Hafer freiwillig zurückzugeben! Mit meinem Schatz in der Tasche raste ich nach Hause, schälte jedes Körnchen, tat sie in den Topf mit Wasser, warf noch zwei gefrorene Kartoffeln dazu und setzte das Ganze aufs Feuer.

Als Mama abends von der Arbeit kam, freute sie sich sehr über das warme Mahl. Aber schon beim ersten Löffel Suppe wurde sie stutzig.

Es gab einen Riesenkrach! Mama versuchte, mir das bewusste Gebot in Erinnerung zu bringen, aber ihr Widerstand war schwach. Die Suppe hat sie schließlich auch gegessen.

Es ist leicht gesagt: Wahre dein Gesicht. In unserem Leben sah es ganz anders aus. Mit meinen neun Jahren hatte ich viele Tote gesehen, denn, der Sensenmann war unser ständiger Begleiter. Nur war es nie ein würdevoller Tod, sondern ein Eingehen, Verenden, ja Krepieren von Menschen – im Krieg von Bomben und Granaten zerfetzt, erfroren und verhungert im Frieden.

Um mich herum ging es immer ums nackte Überleben und am Ende angelangt, vergaß man Skrupel und manchmal auch Anstand. Was machte schon dieses bisschen Hafer aus? Es passierten viel schlimmere Dinge, über die sich keiner sonderlich aufregte.

So wie damals, als Opa Kolberg starb.

Er war sehr lange bettlägerig, und eines Tages sagte er ganz verklärt, er werde jetzt endlich sterben und möchte vor seinem Tod noch ein kleines Stückchen Brot haben. Tante Annie, seine Tochter, hatte fünf Kinder, aber kein Brot. Sie lief durch die Baracke, um sich welches zu borgen. Der alte Mann weinte wie ein kleines Kind, als er das matschige schwarze Klümpchen Brot in der Hand hielt. Aber es war ihm nur ein Bissen gegönnt. Der alte Mann starb mit dem Stückchen Brot im Mund, und sein Gesicht war das einzig zufriedene unter all unseren früheren und späteren Toten. Das Stückchen Brot aber, das er im Mund gehabt hatte, war irgendwann verschwunden. Unauffindbar. Keinem kam es damals sonderbar oder gar makaber vor.

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