Читать книгу In den Fängen der Zeit - Nelli Kossko - Страница 28
Meine neue Freundin
ОглавлениеAls Mama gegen Abend aus Semjonowskoje zurückkam, traute ich meinen Augen nicht: Sie trug schwer an einem Sack, der mehr als bis zur Hälfte gefüllt war, und führte an der Leine eine echte weiße Ziege! Musja, diese Ziege, gehörte, wie es sich sofort herausstellte, uns! Sie war wunderschön, ganz weiß, mit langen, gewundenen und weit auseinanderstehenden, an den Enden nach unten gebogenen Hörnern, einem kurzen Schwanz und prallem Euter! Nur eines störte mich, nämlich der lange Bart. Schließlich war es doch eine Ziege und kein Ziegenbock! Mama lachte und sagte, ich solle unsere Zinnkanne holen. Außer Atem kam ich zurückgelaufen und sah zu, wie Mama sich auf den Melkschemel setzte und kräftig an den Zitzen der Ziege zu ziehen begann. Ich wurde unruhig. Ob das Musja nicht weh tat?
Doch dann hörte ich den feinen Klang der Milchstrahlen in der Kanne – ding-dong, ding-dong in regelmäßigem Takt und dann immer schneller und schneller. Musja stand still, offensichtlich machte es ihr sogar Spaß, gemolken zu werden. Ich war erleichtert und konnte es nicht erwarten, von der Milch, unserer eigenen Milch zu kosten. Musja war großzügig, gleich einen ganzen Liter Milch hatte sie uns abgegeben!
Doch Mama schien es nicht eilig zu haben. Sie seihte die Milch durch, goss dann langsam zwei Tassen voll, während ich mir die Hand vor den Mund halten und kräftig schlucken musste, damit mir der Speichel nicht über das Kinn lief. Dann ging Mama zum Sack, den sie mitgebracht hatte, bückte sich und kramte darin herum. Als sie sich aufrichtete, begann sich alles um mich herum zu drehen: Wie eine Märchenfee stand Mama in der Mitte unserer Stube und hielt ein Brot in den Händen, einen ganzen Laib Brot! Durch meine hungrigen Tränen starrte ich ungläubig auf dieses Wunder, dann auf Mama, die unsicher lächelte, als ob sie sagen wollte:
„Ich kann’s ja auch nicht glauben, aber es scheint wahr zu sein!“
Endlich gelang es mir, einigermaßen klar zu denken. Ich stand auf und ging unsicher auf das Brot zu, betastete es, roch daran, sah dann wieder zu Mama hoch, nein, es war keine Attrappe, es war richtiges Brot, schwarzes Brot mit Kruste, von dessen Geruch allein man schon verrückt werden konnte!
Mama setzte das Messer an, zögerte einen Augenblick, schnitt dann ganz schnell zwei fingerdicke Scheiben ab und legte den Rest in den Spind.
Ich konnte mich nicht länger beherrschen, griff, noch bevor sich Mama an den Tisch setzte, nach Milch und Brot, biss hastig in die schwarze klebrige Masse. Mama, die solche Unartigkeiten auch in der Hungerzeit nicht duldete, sah mich vorwurfsvoll an:
„Du musst jetzt langsam essen, mein Kind, lange, lange kauen musst du, dann wirst du auch einigermaßen satt!“
Doch gerade das war zu viel verlangt, ich hätte ihren Rat um keinen Preis befolgen können, auch wenn man mich auf der Stelle für meine Unsitte erschlagen hätte! So schlang ich blitzschnell alles hinunter. Mama wiegte nur traurig den Kopf, seufzte und schob mir dann den Rest ihres Anteils zu. Ich hatte noch so schlimmen Hunger! Das bisschen Milch und Brot waren wie ein Tropfen Wasser auf den heißen Stein.
„Aber Mama hat doch auch noch Hunger“, versuchte ich das hungrige Tier in mir zu besänftigen, während meine Hand wie von selbst blitzschnell nach der Tasse und dem Brot griff! Ich verschlang alles gierig und konnte vor lauter Scham den Blick nicht heben. Dann hörte ich Mama weinen.
Sie drückte mich an sich, mich, das Ekel, das ihr eben das Stückchen Brot weggegessen hatte, und hörte nicht auf zu weinen.
„Mein Gott, Kleines, was würde ich nicht alles tun, damit wenigstens du nicht zu hungern brauchtest!“ Sie hob die zum Gebet gefalteten Hände empor, und Tränen überströmten ihr Gesicht:
„Heiliger Jesus Christus, unser Retter und Erlöser!“, flüsterte sie inständig unter Tränen, das Gesicht gegen die Decke gewandt, „warum hast du uns so hart bestraft? Was haben wir verschuldet, o Herr, dass wir so schwer an unserem Kreuz tragen müssen? Bitte, o Herr, lass endlich Gnade walten, nicht für uns bitten wir, sondern für unsere Kinder, die doch nichts haben verschulden können!“
So war unser Festschmaus traurig ausgegangen, und ich war schuld daran. Doch es gab eine Möglichkeit, einiges wiedergutzumachen. Ich sollte noch einige Birken- und Espenzweige für unsere Ziege holen, meinte Mama. Hatte ich richtig gehört? Zweige? Soweit ich wusste, fraß das Vieh schon immer Gras und im Winter Heu. Mir kamen starke Zweifel, doch ich tat wie befohlen und staunte nicht schlecht, als Musja nicht nur die kleinen jungen Blätter vernaschte, sondern auch genüsslich an den Zweigen knabberte! Während ich der Ziege zusah, ertappte ich mich plötzlich dabei, dass ich Musja beneidete. Ein Tier müsste man sein, dann wäre das Leben ganz einfach und leicht! Tiere schienen doch wichtiger als Menschen zu sein, Tiere ließ man nicht verhungern. Ob Musja einverstanden wäre, mit mir zu tauschen? Ich hätte auf jeden Fall nichts dagegen gehabt.
„In einer Woche haben wir Ferien“, frohlockte Lore, „da können wir uns den ganzen Tag im Wald herumtreiben. Es soll hier im Sommer viele Beeren und Pilze geben, sagen die Leute.“
„Zeugnisse wird es auch geben“, gab ich zu bedenken. Meine Gedanken gingen in eine ganz andere Richtung, denn in der Schule waren wir alle nicht besonders gut. Sprachschwierigkeiten, ewige Ängste und der Hunger förderten nicht gerade unsere geistigen Leistungen.
Meine Befürchtungen trafen zu. Außer in dem Fach Schönschreiben hatte ich überall nur ‚ausreichend’. Und obschon ich das vorausgesehen hatte, litt ich sehr darunter, denn ich lernte eigentlich gern und gut. Mama aber tröstete mich:
„Das ist ja glänzend in unserem Fall! Und jetzt sieh zu, dass du dich in den Ferien gut erholst. Obwohl“, sie sah mich traurig an, „obwohl ich mir nicht so sicher bin, dass du überhaupt dazu kommen wirst. Wir müssen für den nächsten Winter gut vorsorgen, wenn wir überleben wollen.“
Wir Kinder waren in dieser Zeit die eigentlichen Ernährer der Familie, besonders im Sommer, wenn es genug Brennnesseln, Pilze und Beeren im Wald und Fische im Fluss gab. Aber im Winter? Da konnten wir von Glück sagen, wenn wir etwas Essbares auftreiben konnten.
Wir waren verwahrloste, kleine, altkluge Greise, die hart zupacken mussten, sei es beim Mähen, Graben, Säen, Dreschen, Melken oder Pferdeversorgen. In der Zeit, die uns blieb, waren wir stets auf der Suche nach etwas Essbarem. Alle unsere Wünsche, Gefühle, Träume, all unser Denken, Sinnen und Trachten galten dem Essen. Wir hatten nicht einmal Lust zum Spielen. Nur manchmal wurden wir wieder wir selbst. Irgendwann hatte jemand ein Spiel erfunden, das etwa so hieß: „Was würdest du machen, wenn du ganz plötzlich einen Laib Brot fändest?“ Mit glänzenden Augen schrien wir wild durcheinander, unserer Phantasie waren keine Grenzen gesetzt.
Doch jedes Mal ging das Spiel traurig aus, denn am Ende waren wir wieder kleine, schutzlose, hungrige Kinder.
Doch schlimmer noch als die Kälte und der Hunger war unser Status als Feinde, Verschmähte, Ausgestoßene und Geächtete. Dass das Wort „Deutsche“ wie ein Peitschenhieb, wie eine unerträgliche Folter klingen kann, wird nur ein Betroffener nachempfinden können.
Aber es gab noch Steigerungsmöglichkeiten: Fritzen, Faschisten, deutsche Schweine, Nazis – und Worte, die unübersetzbar sind. Diese Beschimpfungen, dazu die Art, wie sie uns ins Gesicht geschleudert wurden, mit Abscheu, Verachtung, Ekel und Hass, waren eine zu schwere Bürde für unsere schmächtigen Schultern, und sicher waren wir oft nahe daran, aufzugeben und uns zu verleugnen.
Da hatten wir jedoch unsere Mütter gegen uns! Obwohl sie weder Zeit noch Kraft hatten, legten sie eine erstaunliche Ausdauer und Beharrlichkeit an den Tag, wenn es darum ging, Deutsch mit uns zu sprechen, Gebete und Gebote zu lehren, deutsche, vorwiegend kirchliche Lieder zu singen und uns wie „deitsche Mädle un Buwa“ zu erziehen, sehr oft gegen unseren hartnäckigen Widerstand. Aber gerade das erklärt, warum die meisten von uns nicht den Weg der Anpassung und Selbstverleugnung gegangen sind, sondern trotz allem zu ihrer Herkunft standen …