Читать книгу In den Fängen der Zeit - Nelli Kossko - Страница 24

Der Wolf

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Ich hatte verschlafen! Eilig schlüpfte ich in meine Sachen und lief zum Treffpunkt, an dem wir uns morgens gewöhnlich versammelten, bevor es zur Schule ging. Kein Mensch war da! Ich kochte vor Wut. Wie konnten die mich bloß vergessen?

Es war noch dunkel, und die sechs Kilometer durch Wälder und Felder waren eine unheimliche Strecke. Noch nie war ich allein so weit gegangen, und noch dazu bei so schauriger Dunkelheit.

Ich zog dennoch los, aus Trotz. Durch das erste Wäldchen raste ich gepeitscht von Angst und wagte kaum, nach rechts und links zu schauen, ich hätte am liebsten überhaupt die Augen geschlossen, denn die Bäume und Sträucher, die in weiße Gewänder gehüllt am Tage friedlich und still dahinträumten, sahen in der Dunkelheit wie unheimliche, düstere Gestalten aus, die ihre langen Arme nach mir ausstreckten und bedrohlich raunten. Ich erinnerte mich an die Erzählungen der Russenkinder, dass es hier im Winter von Wölfen wimmeln sollte, und erschrak noch mehr, aber da gelangte ich schon auf den Weg, der nicht durch den Wald, sondern über ein Feld führte, und hier schien alles halb so schlimm zu sein. Es wurde auch allmählich heller, und ich hatte nur noch etwa zwei Kilometer vor mir, als ich plötzlich auf einer kleinen Anhöhe einen Hund sah. Vor Freude schrie ich auf, nun war ich nicht mehr ganz allein! Durch den tiefen Schnee lief ich schnell auf den Hund zu, pfiff, schnalzte mit der Zunge, der Hund rührte sich nicht von der Stelle.

Ich war schon ganz nahe bei ihm, als ich leicht verwundert feststellen musste, dass dieser Hund weder aus Dorofejewo noch aus unserem Dorf sein konnte, die kannte ich längst alle. Aber was war schon dabei? Hauptsache, ich war nicht mehr allein!

Ein langgezogenes, tiefes Heulen ließ mich zusammenschrecken. Ich blieb wie angewurzelt stehen und sah den Hund an. „Scharik, Scharik“, sagte ich aufs Geratewohl, denn die meisten Hunde in unserer Gegend hießen so. Nichts geschah. Ich wollte mich dem Hund nähern und streckte schon die Hand aus, um ihn zu streicheln. Da fletschte er die Zähne und knurrte. Es lief mir kalt über den Rücken:

„Mein Gott, das ist ja gar kein Hund! Ein Wolf!“, schoss es mir durch den Kopf. Weglaufen!, war der erste Gedanke. Aber meine Beine gehorchten mir nicht.

Mensch und Wolf standen einander gegenüber und starrten sich an. Dann bewegte sich der Wolf. Vor Entsetzen drückte ich die Augen fest zu und schrie, schrie entsetzlich laut und schrill und konnte nicht mehr aufhören. Als ich dann wieder einigermaßen klar denken konnte und nichts passierte, machte ich vorsichtig die Augen auf.

Ich saß im Schnee, wann war ich bloß hingefallen? Der graue Räuber lief hinkend übers Feld zum Wald, und seine Spuren zogen sich rot durch den weißen Schnee. Wahrscheinlich war er angeschossen worden und hatte mich aus diesem Grund nicht angegriffen.

Den Rest des Weges schaffte ich nur noch mit großer Mühe.

In der Schule angekommen, nahm ich mir meine Kameraden vor. Pawlik lachte übers ganze Gesicht.

„Es sollte eine Mutprobe sein. Du hast sie doch bestanden, oder etwa nicht?“

„Da bin ich nicht so sicher“, Kostja hielt den Kopf schief und sah mir mit zusammengekniffenen Augen ins verweinte Gesicht. „Der Heulsuse scheint das Wasser wieder zu hoch in die Augen gestiegen zu sein!“

Ich ging mit Fäusten auf die beiden los:

„Ihr Angeber, ihr“, ich heulte schon wieder, so furchtbar leid tat ich mir jetzt selber. „Mich hätte beinahe ein Wolf gefressen!“

Schallendes Gelächter war die Antwort. Ich hörte auf zu heulen, sah die beiden einen Augenblick lang an.

„Was seid ihr bloß für Idioten“, sagte ich nur, machte kehrt und ließ sie einfach stehen.

In der Pause kam Kostja in unsere Klasse. „Friede?“ Er streckte mir seine Hand hin. „Krieg!“ Ich versteckte meine Hand hinter dem Rücken. Als ich weglaufen wollte, erwischte er mich am Zopf:

„Sei nicht albern! Ich will auch vergessen, dass du mit deinem Wolf angegeben hast!“

„Angegeben?“ Ich war schon wieder die wilde Katze. „Schön, heute nach der Schule wirst du es selber sehen!“ Ich stellte mir sein verdutztes Gesicht vor, wenn er erst die Spuren sehen würde.

Leider aber funkte Ljudmila Petrowna dazwischen. Weil ich mich verspätet hatte, ließ sie mich eine Stunde nachsitzen, und weil ich dann aus lauter Angst vor dem Rückweg ganz allein nicht begreifen konnte, was Kongruenz ist, gab es noch eine Stunde dazu.

Im Winter wurde es sehr schnell dunkel. Als ich die Schule verließ, ohne mit der Kongruenz ins Klare gekommen zu sein, dämmerte es schon. Ich überlegte, was ich tun sollte. Die einfachste Lösung wäre gewesen, unter eine Schulbank zu kriechen und unbemerkt von dem Schulwächter einfach bis zum nächsten Morgen zu warten. Oder ins erste beste Haus gehen und da übernachten, das war kein Problem. Hier auf dem Lande fand man jederzeit ein Obdach.

Aber meine Mama? Die würde doch wahnsinnig werden vor lauter Sorgen! Das konnte ich ihr nicht antun. Ich musste nach Hause „Und der Wolf?!“, durchzuckte es mich. Aber der Gedanke an Mama verdrängte die Angst, und ich machte mich auf den Weg.

Hinter dem Dorf blieb ich stehen. Hier schieden sich zwei Wege, der eine, den wir gewöhnlich nach Hause gingen, und der andere, der zwar etwas länger, aber belebter war und auch nach Gorki führte. Wir mussten ihn benutzen, wenn Schneestürme den kurzen Weg zuwehten. Die Angst vor dem Wolf ließ mich den zweiten, weiteren Weg nehmen.

Dann und wann kamen mir Schlitten entgegen, manche beladen mit Heu oder Stroh, auf denen hoch oben Bäuerinnen in dicken Schafspelzen und Kopftüchern thronten. Sie winkten, eine warf mir sogar einen großen Kartoffelfladen zu. Ich winkte und grüßte zurück, meine Angst legte sich allmählich. Nur eines beunruhigte mich: Wolken zogen am Himmel auf. Es wurde immer dunkler, und auch der Wind nahm an Stärke zu, ein Zeichen, dass ein Schneesturm im Anmarsch war.

Der brach ganz plötzlich aus. Ein kräftiger Windstoß wirbelte den Schnee in die Luft, schleuderte ihn gegen die Bäume, in den Himmel und auf die Erde, verstopfte mir Gesicht, Augen und Nase, dass ich keine Luft mehr bekam. Dann folgte ein zweiter, noch stärkerer Windstoß, dann ein dritter, und schon konnte ich nichts mehr sehen außer diesem tobenden, wütenden Tanz des Sturmes. Der Wind heulte wie ein unheimliches Tier, brach Baumzweige und riss ganze Bäume aus. Der Wald stöhnte und grollte bedrohlich, in wenigen Minuten verwandelte er sich in ein reißendes Ungeheuer.

Ein neuer Windstoß riss mich zu Boden. Ich überlegte, was ich jetzt tun sollte, und erinnerte mich daran, dass man bei einem Schneesturm auf keinen Fall weitergehen darf. Denn dann würde man sich total verlaufen, und dies bedeutete unvermeidlich auch, erfrieren. Ich kroch unter eine große Tanne. Da kauerte ich, ein Menschenkind, dem wildgewordenen Element ausgeliefert.

Es war bitterkalt, ich war müde und wollte schlafen. „Ich erfriere“, dachte ich plötzlich ganz klar. „So einfach ist das. Da sitzt du so, fast gemütlich, und dann? Dann bist du nicht mehr da, und kein Hunger wird dich mehr quälen, keine Alpträume, keine Ängste, es gibt da keine ‚Fritzen’ mehr und keine ‚Faschisten’, nichts! So einfach ist das.“

Im Halbschlaf malte ich mir aus, wie man meinen Sarg zum Friedhof tragen würde, begleitet von allen meinen Peinigern mit dem Kommandanten an der Spitze, denen es leid tat, dass sie mir soviel Schlimmes angetan hatten. Ganz plötzlich tauchte Mamas Gesicht vor mir auf, verzweifelt, verweint. Dieses Bild riss mich hoch. „Mama, Mama, ich komme, ich komme, ich komme ganz bestimmt!“, schrie ich verzweifelt. Der Wind zerrte an meinen Kleidern und warf mich zu Boden, doch ich stand immer wieder auf, ging aufs Geratewohl durch die weiße, tobende Schneewand vor mir und um mich herum. „Ich muss weitergehen, ich muss“, redete ich auf mich selbst ein.

Der Schneesturm hörte ebenso jäh auf, wie er begonnen hatte. Der Wind raste davon und trug die schweren dunklen Wolken auf seinen Schwingen mit. Erleichtert seufzten die Bäume auf und rauschten mit ihren Zweigen. Es hörte sich an, als klagten sie flüsternd einander ihr Leid.

Es war ganz still geworden und sogar heller. Am Himmel, der mit funkelnden Sternen übersät war, hing die helle Mondsichel, die, von den Wolken befreit, ihr gelbes Licht auf die Erde schickte.

Ich sah mich um. Mir war sofort klar, dass ich mich verirrt hatte. Wie ich auch suchte, den festgefahrenen Weg fand ich nicht. Verzweifelt arbeitete ich mich durch Wald und Gestrüpp, und siehe da, ganz unerwartet stand ich auf einem festen Weg! Der Wald war hier besonders dicht, so dass der Schneesturm nicht viel Unheil hatte anrichten können. Der Weg war ganz deutlich zu erkennen, zumal er mit hohen Tannen zu beiden Seiten gesäumt war. Ich begann zu rennen, was die Füße hergaben. Jetzt waren alle meine Ängste wieder da. Ich lief und lief und stand plötzlich vor einer Waldschneise, gespickt mit Holzstapeln.

Vor Enttäuschung heulte ich los. Die ganze Zeit war ich auf einem Waldweg, der von den Holzfällern benutzt wurde, immer weiter in den Wald hineingelaufen! Nahe dran, aufzugeben, dachte ich dennoch, es könnten auch Holzarbeiter aus Gorki hier gearbeitet haben. „Dann müssten es etwa zehn Kilometer bis nach Hause sein“, rechnete ich mir aus. Ich raste zurück. Meine Kräfte versagten, die Beine wollten mir nicht mehr gehorchen.

Um den unheimlichen nächtlichen Wald nicht sehen zu müssen, hob ich mein Gesicht zum Himmel, zu den Sternen, zum Mond – und betete, sang Lieder, schrie, damit die Geister und die Raubtiere, die sich hinter jedem Baum versteckt zu haben schienen, wussten, dass ich keine Angst hatte, meine Tränen konnten sie ja nicht sehen!

Der Wald wollte kein Ende nehmen. Ich war schon heiser vor lauter Geschrei, das immer mehr zum Krächzen wurde. Meine Gedanken waren stumpf, der Schritt wurde unsicher. Ich ging nur noch wie eine aufgezogene Puppe, als plötzlich der Wald endete und den Blick auf ein weites Tal freigab. Die gelben Lichter sah ich sofort:

„Wölfe!“, durchzuckte es mich, „Wölfe haben in der Dunkelheit gelbe, glühende Augen!“

Doch es waren keine Wölfe, es waren die Lichter eines Dorfes.

Als ich an das Fenster des ersten Hauses klopfte, kam eine Bäuerin heraus und starrte mich ungläubig an:

„Um Himmels willen, wo kommst du denn her?“

Ich hatte keine Kraft mehr zum Sprechen und schwieg. Erst jetzt, als mich die Frau entsetzt anstarrte, wurde mir das volle Ausmaß der Gefahr bewusst, in der ich mich noch vor wenigen Minuten befunden hatte. Ich begann zu weinen, und die gute Frau versuchte mich zu beruhigen. Sie gab mir eine Tasse Milch und wollte mir ein Bett auf dem Ofen machen. Unter Tränen erklärte ich ihr, dass ich nicht bleiben kann, weil ich wegen Mama nach Hause muss.

„Wo ist denn deine Mama?“, fast weinte die Frau mit mir mit.

„Zu Hause, wo denn sonst?“

„Ich meine, in welchem Dorf, denn ich habe dich bei uns hier noch nie gesehen.“

Dass mir das nicht früher aufgefallen war! Auch ich hatte diese Bäuerin noch nie gesehen.

„Wir wohnen in Gorki“, sagte ich und ließ die Frau nicht aus den Augen. „In Gorki?!“, die Bäuerin sah mich zweifelnd an, „und wie kommst du jetzt hierher?“

Ich versuchte ihr meine Irrungen zu beschreiben.

„Heilige Mutter Gottes!“, die Frau wandte sich den Heiligenbildern in der Ecke zu und schlug inbrünstig einige Male das Kreuz. „Weißt du denn, dass du in Igodowo bist, zwölf Kilometer von Gorki entfernt?!“

Ich war nicht weniger verwirrt als die gute Frau. Aber wie sollte ich nach Hause kommen?

„Ich muss gehen“, der Gedanke an Mama ließ mir keine Ruhe. Mühsam richtete ich mich auf. Mein ganzer Körper schmerzte, als hätte mich jemand ganz schlimm verprügelt.

„Nein, Töchterchen, das machst du nicht“, die Frau versperrte mir resolut den Weg zur Tür.

„Aber ich muss gehen, begreifen Sie doch!“

„Gut!“, sagte die Frau, nahm mich an der Hand, und schon waren wir wieder draußen in der Kälte. An einem Haus klopfte sie ans Fenster und rief:

„Stepan, Stepan!“

Ein älterer Mann mit einem Stock humpelte heraus. Nachdem ihm die Frau alles erzählt hatte, sagte er mürrisch:

„Nicht einmal ein bisschen Ruhe wird einem gegönnt! Wie soll ich denn in der Nacht und bei diesem Wetter nach Gorki fahren? Was steht ihr da an der offenen Tür wie bestellt und nicht abgeholt? Rein mit euch!“, herrschte er uns dann barsch an. „Habe nicht die Absicht, das ganze Dorf zu beheizen!“ Den letzten Satz sagte er, während er schon seine Walenki anzog. Dann verschwand er hinter der Tür.

Ich sah die Frau fragend an.

„Hab keine Angst“, der tut nur so, aber sonst ist er ein herzensguter Mensch!

Sie lächelte mir zu, und ich lächelte zögernd zurück.

Als Onkel Stepan mit dem Schlitten kam, wurde ich in einen großen Schafspelz gewickelt und in das Heu auf dem Schlitten gebettet. Der Schlitten fuhr an, ich hatte nur noch Zeit zu fragen:

„Wie heißen Sie denn, Tantchen?“

„Nastja, mein Töchterchen, Nastja“, hörte ich und dann verschwand alles: Von der Müdigkeit überwältigt, schlief ich in meinem warmen Nest sofort ein und erwachte erst wieder in Gorki.

Dort hatte man schon Suchtrupps ausgeschickt, die gerade erfolglos zurückkamen, als unser Schlitten eintraf. Sergej Iwanowitsch hatte sie angeführt. Der benahm sich ganz sonderbar: Zuerst riss er mich aus dem Schlitten und drückte mich so fest an sich, dass ich vor Schrecken erstarrte, dann fuhr er mich an:

„Wo zum Teufel hast du dich herumgetrieben?“ Er war überhaupt in der letzten Zeit ein ganz anderer geworden. Zwar blieb er wie früher schroff und kurz angebunden, aber etwas an ihm hatte sich geändert. Ich wusste nicht, was es war, jedenfalls hatte ich keine Angst mehr vor ihm.

In den Fängen der Zeit

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