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Das Hochwasser

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Ich war die Heldin des Tages. Kostja hatte nach der Schule die Wolfsspuren entdeckt. Ich hatte also nicht gelogen, um anzugeben, und die Tatsache, dass ich mich durch den Schneesturm gekämpft hatte und dabei nicht erfroren war, brachte mir die bewundernde Anerkennung selbst der Alteingesessenen.

Mama machte sich große Sorgen, dass ich mich erkältet haben könnte. In unserer Gegend gab es gegen die Erkältung nur zwei Mittel – den Wodka und das Schwitzbad. Für den Wodka war ich noch zu klein, und außerdem, wer hätte den schon bezahlen können? Also blieb das Schwitzbad. Tante Njura ging frühmorgens ihr Badehäuschen heizen.

Diese einzigartige Einrichtung im Gemüsegarten hinter jedem Bauernhaus verdient es, ausführlicher beschrieben zu werden. Das Badehäuschen war ebenso wie die Bauernhäuser aus ungehobelten runden Baumstämmen gebaut. Es hatte einen Vorraum zum Umkleiden, ein winzig kleines Fensterchen und einen Ofen aus großen Rollsteinen, aber ohne Rauchfang. Längs der Wände waren breite Bänke angebracht, die an einer Seite stufenartig bis an die Decke aufgebaut waren. In der Ecke standen zwei riesengroße Holzbottiche mit Wasser. Wenn das Feuer im Ofen richtig brannte, legte man Steine in die Glut, die dann mit einem Spaten oder einer Zange in die Bottiche mit Wasser geworfen wurden, so dass es da zu zischen und zu brodeln begann. Damit war das heiße Wasser für das Bad fertig. Wenn die Steine im Ofen glühend rot geworden waren und der Rauch sich durch die offene Tür verflüchtigt hatte, legte man kein Holz mehr nach. Erst nach einer Weile machte man dann die Tür zu, denn das Kohlengas im Raum konnte lebensgefährlich werden. Danach konnte das große Bad beginnen, eine festliche Angelegenheit für die ganze Familie.

Als ich an Tante Njuras Hand das kleine Badestübchen betrat, verschlug mir die beißende Hitze den Atem. Tante Njura schien sich überhaupt nichts daraus zu machen. Mit einer riesigen Blechkelle füllte sie zwei Holzkübel mit heißem Wasser, fügte kaltes hinzu, drückte mir einen Bastwisch in die Hand und befahl mir, den Körper damit nass zu machen. Dann musste ich mich bäuchlings auf eine der Bänke legen.

Tante Njura ging zum Ofen und goss eine Kelle voll Wasser auf die glühenden Steine, dann noch eine und noch eine. Es zischte, qualmte, und in Sekundenschnelle war der ganze Raum von so dichtem Dampf gefüllt, dass man überhaupt nichts mehr sehen konnte.

Wie ein Gespenst tauchte Tante Njura vor mir auf, in der Hand ein Birkenbesen. „Nanu“, dachte ich, „was will sie denn damit?“ Gebannt verfolgte ich jede ihrer Bewegungen. Sie tauchte den Besen in einen der Kübel und begann zu meiner Bestürzung damit leicht meinen Rücken zu beklatschen. Das war am Anfang ganz angenehm, aber dann schwang sie ihren Besen immer kräftiger, und nun tat es schon weh. Bald schrie ich um Gnade, aber Tante Njura lachte nur, der Birkenbesen sauste unbeirrt auf meinen Rücken, Po und die Beine, dass es nur so klatschte.

Dann reichte sie mir ihr Werkzeug:

„So, und nun mach mal selber weiter. Ich muss schließlich auch baden.“ „Baden“ nannte sie das! Es sah mehr nach Selbstkasteiung aus, was sie da tat. Nach Kräften schlug sie mit dem Besen auf ihren Körper ein. Zuerst hatten sich breite rote Striemen gebildet, und Minuten später war Tante Njura von Kopf bis Fuß rot wie ein gekochter Krebs.

„Kannst du mir mal den Rücken so richtig verdreschen?“, sie reichte mir den Besen. Ich war in der Rolle einer Bademeisterin kläglich, denn mir fehlte nicht nur die Kraft, sondern ich hatte auch Angst, ich könnte der Frau wehtun.

Als ich dachte, alles wäre überstanden und wir würden uns nun anziehen, goss Tante Njura einen Kübel kaltes Wasser über mich. Ich schrie entsetzt auf, aber ohne von meinem Gehabe auch nur Notiz zu nehmen, schubste sie mich auf eine der obersten Bänke und befahl mir, mich rücklings darauf auszustrecken. Ich wusste nicht mehr so recht, wie mir geschah. Die Hitze hier oben war unerträglich, der Dampf so dick, dass man ihn mit einem Messer hätte schneiden können. Aber für Tante Njura war das alles in Ordnung. Seelenruhig ging sie zum Ofen und goss noch einmal Wasser auf die Steine. Dann bearbeitete sie mit ihrem Besen aufs Neue meinen Körper. So wurde ich etwa zwei Stunden gemartert. Dann gingen wir endlich hinaus in den Vorraum, wo es viel heller und angenehm kühl war. Als Tante Njura mich bei Tageslicht sah, begann sie plötzlich zu lachen. Sie lachte und lachte und konnte gar nicht mehr damit aufhören. Dann zeigte sie auf meinen Körper: Meine Hände, Beine, Bauch und Rücken waren voller Rußflecken. Ich war ratlos.

Nachdem Tante Njura sich einigermaßen beruhigt hatte, zeigte sie mir die Wände des Badestübchens:

„Du hast nicht aufgepasst. Schau mal her“, sie zeigte auf die Wand, die mit einer fingerdicken Schicht Ruß bedeckt war. „Das Badehaus hat nur eine offene Feuerstelle und keinen Rauchfang“, erklärte sie, „deshalb bleibt der ganze Ruß an den Wänden hängen.“

„Warum wischst du ihn nicht ab?“ Tante Njura sah mich belustigt an:

„Da hätte ich wirklich viel zu tun!“

Ich musste noch einmal gewaschen werden, aber diesmal nur mit warmem Wasser und einem Bastwisch – Gott sei Dank!

Das Bad tat gut. Die Haut brannte angenehm unter der warmen Kleidung, und mein Schnupfen war wie weggeblasen. Voller Ungeduld wartete ich auf das nächste Bad, aber das war erst in einem Monat fällig, denn gründlich wurde hier, wenn überhaupt, nur einmal im Monat gebadet. Obschon der Winter seinem Ende zuging, wüteten die Schneestürme öfter als früher. Die Dorfbewohner behaupteten, der Winter tobe zum Schluss immer besonders wild, weil er dem Frühling das Feld räumen müsse.

Tatsächlich gab es schon Zeichen des nahenden Frühlings. An den Dächern der Häuser hingen riesige Eiszapfen, die am Tag in der zaghaften Sonne etwas schmolzen, um am nächsten Tag in noch größerer Anzahl zu erscheinen. Auch die obere Schneeschicht schmolz und war nicht mehr blendend weiß wie im Winter, sondern schmutziggrau. Außerdem bildete sich in der Nacht eine dicke Eiskruste. Nur zu gern liefen wir querfeldein, aber die Filzstiefel wurden durch das ständige Durchbrechen der Schneekruste in Mitleidenschaft gezogen. Unsere Mütter schimpften, wir jedoch konnten einfach nicht widerstehen. Es war ein wunderbares Gefühl, über die hohen Schneeberge laufen zu können.

Auch die Wälder veränderten sich zusehends: Die Bäume, noch vor wenigen Tagen schneebedeckt, waren kahl und grau, mit Ausnahme der Tannen und Fichten. Ein aufmerksames Auge konnte schon die vielen schwellenden Knospen und, an besonders sonnigen Stellen, sogar kleine Bächlein unter dem Schnee hervorrinnen sehen.

Dann ging alles sehr schnell. Ein warmer Frühlingswind rauschte durchs Dorf, fraß sich in den Schnee und hinterließ große kahle Flecken. Dutzende von Bächlein, große und kleine, wanden sich durch die ganze Gegend. In Filzstiefeln oder Schuhen konnte man gar nicht mehr auf die Straße gehen. Man brach durch die dünne Eiskruste und stand gleich bis an die Knöchel im Schneematsch.

Die angenehmste Überraschung stand uns jedoch noch bevor. Als wir eines Morgens auf dem Weg zur Schule an unser kleines Flüsschen kamen, blieben wir fassungslos stehen. Das friedliche, stille Flüsschen war nicht wieder zu erkennen. Breit und reißend war es geworden, der schmale Steg war weggeschwemmt, das graue Wasser, in dem Schnee- und Eisschollen wie kleine Schiffchen schwammen, brodelte wie in einem Kessel. Der Fluss war über seine Ufer getreten und hatte die Ebene überschwemmt.

„Hurra! Hochwasser!“ Die Russenkinder waren vor Freude wie aus dem Häuschen. Verdutzt starrten wir sie an.

„Guckt doch nicht so doof!“ Kostja fasste mich unter den Armen und wirbelte mich durch die Luft. „Hochwasser, verstehst du?“

Ich schüttelte stumm den Kopf.

„Sagen wir’s denen, oder lassen wir sie auf den Kohlen der Ungewissheit schmoren?“, Kostja sah seine Gefolgschaft verschwörerisch an. Die Russenkinder ließen Gnade walten.

„Schön“, lachte Kostja noch ausgelassener. „Sobald wir Hochwasser haben, fällt die Schule aus, klärchen?“ Statt „klar“, sagte er immer „klärchen“, das war sein Lieblingswort.

„Nichts ist klärchen“, sagte ich trotzig, „sollen das Ferien sein? Wenn ja, wie lange werden sie dauern?“

Es brach ein schallendes Gelächter aus.

„Erstens sind das keine Ferien, und zweitens bestimmt hier nicht die Schule, sondern die Natur, wie lange wir frei haben werden, klärchen?“ Zum ersten Mal sah ich den ernsthaften, besonnenen Kostja so ausgelassen. Er, unser anerkannter Anführer, hatte eine Idee:

„Will jemand nach Hause auf den warmen Ofen?“

Ich wollte, sehr gerne sogar, wagte aber nicht, aus der Reihe zu tanzen, und stimmte in den begeisterten Chor der Mehrheit ein:

„Nee!“

Der Wald gab diesen jubelnden Schrei der Einstimmigkeit mehrfach zurück.

„Los denn!“ Kostja eilte mit großen Schritten voran, „Wir gehen jetzt zum Sinega“, erklärte er im Gehen.

Der Sinega war ein größerer Fluss, etwa zehn Meter breit, und lag am entgegengesetzten Ende unseres Dorfes.

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