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Mein Freund Karl Marx

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Wir hatten Erziehungsstunde. Die Lehrerin der dritten Klasse, unser Schutzengel Ljudmila Petrowna, hatte sich in den Kopf gesetzt, der Feindschaft der Völker ein Ende zu bereiten.

„Heute möchte ich über die Freundschaft der Völker und den Internationalismus sprechen. Wir haben in unserer Klasse Kinder verschiedener Nationalitäten, Russen, Tataren, Ukrainer und Deutsche.“

Ein Raunen ging durch die Klasse, Köpfe wurden nach uns gewandt. Wir schauten neidisch zu den Glücklichen, die zu den ‚guten’ Völkern gehörten.

„In der letzten Zeit“, Ljudmila Petrowna sprach unbeirrt weiter, „habe ich immer wieder einen sehr traurigen Vorgang erleben müssen, nämlich wie die Mehrzahl die Schwächeren schikanierte. Das ist eines Menschen unwürdig.“

„Sie haben es nicht anders verdient“, unterbrach Sascha, der schlimmste Raufbold in unserer Klasse, die Lehrerin, „die Deutschen sind und bleiben unsere ärgsten Feinde!“

„Du hältst jetzt gefälligst den Mund, Sascha!“ – Ljudmila Petrowna war sichtlich verärgert. „Wir müssen einiges lernen, zum Beispiel, dass es verschiedene Deutsche gab und gibt. So war beispielsweise der Führer des Weltproletariats, Karl Marx, ein Deutscher.“

„Wer ist denn das?“, fragte mich Klara flüsternd.

„Nie gehört“, mir machten die Worte der Lehrerin zu schaffen: Ein Deutscher, der von den Russen nicht nur akzeptiert, sondern sogar zu ihrem Führer ernannt wurde, das war allerhand!

„Aber auch Friedrich Engels, der Freund und Gefährte von Karl Marx, war ein Deutscher, ebenso Ernst Thälmann, der Führer der deutschen Kommunisten, der wie Tausende seiner Parteigefährten im KZ ermordet wurde.“ Während Ljudmila Petrowna weiter sprach, schienen wir ein beträchtliches Stück gewachsen zu sein. Denn nun erfuhren wir, dass die „lichte Zukunft der Menschheit“, die „Gesellschaft neuen Typs“, also alles, was in Russland nach der Revolution 1917 aufgebaut wurde, den Deutschen Karl Marx und Friedrich Engels zu verdanken war, deren Sache von den russischen Führern Lenin und Stalin fortgesetzt wurde! „Wie Ihr schon wisst, sprechen wir von der großen und unbesiegbaren Lehre von Marx-Engels-Lenin und Stalin“, sagte sie zum Schluss.

Als mir in der Pause auf dem Gang ein Junge „Fritzin“ zurief, fasste ich ihn am Kragen und fragte:

„Schon mal was von Karl Marx gehört?“

Verblüfft über mein ganzes Auftreten, schüttelte der nur den Kopf.

„Er war der Führer des Weltproletariats und Deutscher, also auch ein ‚Fritz’, du Idiot!“ Ich war überglücklich: Jetzt hatte ich ganz offensichtlich eine wirksame Antwort auf die „Fritzin“.

Ich hatte mir wohl all die Liebknecht, Luxemburg, Thälmann gemerkt, aber zu meinem Beschützer hatte ich Karl Marx, den Mann mit dem riesigen Bart, auserkoren und führte ihn bei jeder Auseinandersetzung ins Feld. Es verfehlte nie seine Wirkung. Ich ging sogar so weit, zu behaupten, dass die Russen ohne unseren Karl Marx gar nicht erst auf den Gedanken gekommen wären, den Kommunismus aufzubauen, Lenin und Stalin hätte es ohne ihn auch nicht gegeben.

Ljudmila Petrowna war entsetzt, als sie diese Interpretation ihres gut gemeinten Vortrags hörte. Sie rang mir das Versprechen ab, nie mehr so etwas zu behaupten. Woher sollte ich auch wissen, dass es hier weniger um Marx, Lenin oder Stalin ging als um das Schicksal unserer Lehrerin, die für derartige Aussagen ihrer Zöglinge mit ihrem Leben hätte bezahlen müssen? Es war Ljudmila Petrowna, der es gelang, ein für uns erträgliches Klima in der Klasse zu schaffen, und die später die Idee durchsetzte, auch deutsche Kinder in die Pionierorganisation aufzunehmen.

Ich war schon immer von den leuchtend roten Halstüchern der Jungpioniere begeistert gewesen, sie nahmen sich so schön auf der grauen, ärmlichen Kleidung aus.

Ljudmila Petrowna bereitete uns nach den Schulstunden zur Aufnahme vor, denn um Pionier zu werden, musste man schon einiges wissen. Sie erzählte uns, dass das Halstuch symbolisch ein Teil der roten kommunistischen Fahne sei. Rot, weil sie mit dem Blut der Arbeiter und Bauern durchtränkt war. Die drei Zipfel des Halstuches sollten den Bund zwischen der kommunistischen Partei, dem kommunistischen Jugendverband und den Jungpionieren darstellen.

Noch interessanter war das Salutieren: Die fünf Finger der Hand bedeuteten die fünf Kontinente, und die Tatsache, dass sie dabei eng aneinander gedrückt werden mussten, symbolisierte die feste Freundschaft aller Völker auf diesen Erdteilen. Ob wir, die Deutschen, damit auch gemeint seien, wollte ich wissen.

„Selbstverständlich“, Ljudmila Petrowna schloss uns nicht aus. Dafür taten es unsere Mütter.

Es gab einen Riesenkrach, als Mama erfuhr, was ich da in der Schule mitmachte. Sie verbot mir ein für alle Mal, nur daran zu denken. Der schöne Traum vom roten Halstuch war futsch. Doch Kostja, der älteste der Söhne von Tante Njura, erlaubte mir oft, sein Halstuch zu Hause zu tragen, und spielte sogar „Pioniere“ mit mir, wobei er der Pionierleiter war. Nach seinen Worten: „Pioniere, zum Kampf für die Sache Lenins und Stalins, seid bereit!“ musste ich in strammer Haltung „Immer bereit!“ zurückbrüllen und salutieren. Nur war ich so eifrig bei der Sache, dass meine rechte Hand nicht selten gewohnheitsgemäß zum Hitlergruß emporschnellte und ich gerade noch das „Heil Hitler“ verschlucken konnte. Kostja rollte dann jedes Mal die Augen, was furchterregend aussehen sollte, und grollte in seinem tiefen Bass: „Gitler kaputt!“ Walja, Pawlik und ich schrien mit, tobten, lachten, es war wunderbar zu Hause, wenn uns die Erwachsenen nicht dazwischenkamen! Als Kostja dann noch herausfand, wer uns verprügelt hatte, stellte er die „ruhmreichen Kämpfer“ zur Rede und verdrosch sie anschließend einen nach dem anderen, so dass sie nicht mehr wagten, uns anzurühren. Überhaupt wurde Kostja von allen respektiert, manchmal sogar mehr als die Lehrer.

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