Читать книгу In den Fängen der Zeit - Nelli Kossko - Страница 17
Die „Weihnachtsverschwörung“ der Verdammten
ОглавлениеWeihnachten 1946 fiel traurig aus. Mama hatte mir zwar einen wunderbaren Tannenbaum aus dem Wald mitgebracht, doch konnten wir ihn nur mit der Watte aus den Resten unserer Steppdecke schmücken. Die Kerzen musste unser Docht in der Petroleumflasche ersetzen, und die Geschenke fielen diesmal ganz aus.
Ich war auch früher nicht gerade mit Geschenken überhäuft worden, doch diesmal gab es obendrein nichts zu essen. Mama versuchte, ‚Stille Nacht, Heilige Nacht’ anzustimmen, brach jedoch mitten in der ersten Strophe ab und begann sich hastig anzukleiden.
„Komm, Kind, wir gehen in die Baracken, Pfarrer Seiler hat versprochen, heute eine Weihnachtspredigt zu halten!“
Als wir im Freien waren, empfing uns eine wahre Weihnacht. Das winterliche Dorf überflutete heller Mondschein, die verschneiten Häuser, Bäume und Straßen waren wie verzaubert, und über allem lag eine erhabene Ruhe – wahrlich eine stille, eine heilige Nacht! Wir wagten kaum zu sprechen, nur das Knarren des Schnees bei jedem Schritt durchbrach diese Stille.
In der Baracke schlug uns Stimmengewirr entgegen, es war wie in einem Bienenstock. Im langen Gang, an dessen Ende eine Petroleumlampe angebracht war, saßen und standen viele Menschen, meist Frauen und Kinder. Jemand stimmte ‚Oh, du fröhliche’ an. Sofort bildete sich ein mehrstimmiger Chor. Der Gesang schwoll an, schwang sich in die Höhe, prallte von der Holzdecke ab, zwang sich wieder in die Höhe. Es schien, als wollten sich die Menschen ihr Leid und ihren Kummer von der Seele singen. Doch schon in der zweiten Strophe begannen die Stimmen zu beben; bei den Worten ‚Gnaden bringende Weihnachtszeit’ brach der Gesang jäh ab, und alle Anwesenden begannen inbrünstig zu beten, noch bevor der Pastor mit seiner Predigt beginnen konnte. Tränen liefen über die Gesichter der Frauen und Kinder, die um Gnade, um Erlösung von den Qualen des Hungers und der Kälte, um Beistand in dieser Zeit der Not und Ausweglosigkeit baten.
Plötzlich flog die Eingangstür auf. Auf der Türschwelle stand der wütende Kommandant.
„Aufhören!“, brüllte er. Doch die Menge betete unbeirrt weiter, als ginge es um ihr Leben. „Aufhören oder ich schieße!“, brüllte der Kommandant abermals, und sein Gesicht verzerrte sich vor Hass und Wut zu einer widerlichen Fratze. Er riss seine Pistole aus dem Halfter. Totenstille trat in der Baracke ein.
„Wer hat euch erlaubt, hier zusammenzukommen?“ Schweigen war die Antwort. „Wer waren die Rädelsführer?“ Abermals Schweigen. „Ich frage das letzte Mal, ihr faschistischen Missgeburten, wer steckt dahinter, wer hat das alles organisiert?“ Schweigen. Doch dann trat Pastor Seiler vor: „Herr Kommandant, wir feiern Weihnachten, das Fest der Geburt Jesu Christi.“
Barsch fuhr der Kommandant den Geistlichen an:
„Pass auf, du Pfaffe, euer Gott bin ich, ist das klar? Merkt euch das alle!“ Er kniff die Augen zusammen: „Weihnachten!? Dass ich nicht lache! Weihnachten ist ja erst in zwei Wochen!“ Nach dem russisch-orthodoxen Kalender hatte er ja sogar recht! „Ihr habt hier bestimmt etwas aushecken wollen gegen unser Land und die Sowjetmacht! Aber ich werde euren Umtrieben ein Ende bereiten, ihr nazistisches Gesindel! So, nun geht ihr alle sofort nach Hause. Und morgen“, er grinste genüsslich, wie eine Hyäne, wenn sie den Kadaver wittert, „morgen werden wir alles klären. So leicht kommt ihr mir diesmal nicht davon, ihr deutschen Schweine!“ Er spie verächtlich vor die Füße und verschwand in der dunklen, stillen Nacht.
Am nächsten Morgen ganz früh lief ein Junge durchs Dorf, klopfte an die Fenster der Häuser, wo Deutsche einquartiert waren, und schrie, von einem Fuß auf den anderen hüpfend, die Botschaft des Kommandanten in die glasklare frostige Luft:
„Deutsche dürfen heute die Häuser nicht verlassen!“
Wie alles im Leben hatte auch das seine gute Seite: Mama hatte unverhofft einen freien Tag bekommen und freute sich darüber. Doch die Freude war verfrüht. Um 11 Uhr fuhr ein Schlitten am Haus des Kommandanten vor, aus dem vier uniformierte Männer in dicken Schafspelzen stiegen. Einige Minuten später kam Bewegung ins Dorf.
In kleinen Gruppen wurden Deutsche aus den Baracken zu dem Haus geführt. Ein Rotarmist begleitete sie. Wenn die Menschen nach einer oder zwei Stunden wieder herauskamen, schienen sie kleiner geworden zu sein. Die Köpfe eingezogen, ohne sich umzusehen, eilten sie dann den Weg zu den Baracken hinunter.
Ich musste herausfinden, was los war, kostete es, was es wolle. Pawlik, der mir ganz bestimmt geholfen hätte, war in der Schule, so dass ich selber irgendwie raus musste. Als Mama heftig gegen meinen Plan protestierte, beruhigte ich sie:
„Aber Mama, der Befehl des Kommandanten betrifft ganz sicher nur die Erwachsenen, nicht die Kinder.“
Von Angst und Ungewissheit hin- und hergerissen, ließ mich meine Mutter widerstrebend gehen.
Ich nahm meinen Schlitten und lief zu den Baracken. In der Nacht hatte es geschneit. Es war still, klar und sonnig, so herrlich, dass ich beinahe mein Vorhaben vergessen hätte, als ich auf meinem Schlitten den Berg hinuntersauste. Doch eine Schar meiner Spielkameraden brachte mich sofort wieder in die trostlose Wirklichkeit zurück, die voller Ängste war. Über den Purzelbaum, den ich mit meinem Schlitten geschlagen hatte, verzogen sie nicht einmal eine Miene. Vor mir schienen lauter Greise zu stehen. Ich schaute zu den Baracken hinüber: überall in den Fenstern bleiche, verängstigte, erstarrte Gesichter. In diesem Moment war ich wieder heilfroh darüber, dass wir nicht in einem dieser Ungetüme wohnen mussten, obwohl ich, ähnlich wie Mama, auch ganz gerne unter den ‚eigenen Leuten’ gelebt hätte. Doch in diesem Augenblick wurde mir, glaube ich, auch die Weisheit des Spruches bewusst: „Je weniger man weiß, desto besser.“ Denn in den Baracken brodelte es vor wilden Vermutungen, die von Mund zu Mund gingen und immer mehr zur Gewissheit wurden. Wir saßen zu Hause und wussten von nichts.
Also fürchteten wir uns auch weniger … Ich brauchte nicht lange zu fragen, was denn eigentlich los war. Meine Freunde wollten die Neuigkeiten loswerden:
„Unsere Eltern werden verhört. Es sind ganz hohe Tiere aus dem Rayon gekommen, wahrscheinlich werden viele verhaftet.“
„Ein Stacheldraht soll nun um die Baracken gezogen werden.“
„Die Russen fragen, wo die deutschen Männer geblieben sind.“
„Ja, ja, wo mein Papa ist, wollten sie wissen, und mein ältester Bruder“, piepste Johannes, der Kleinste von uns allen.
Mir wurde schwarz vor Augen. Ich sah plötzlich ganz deutlich die Gefahr, die meiner Mutter drohte: Unser Papa, verurteilt als „deutscher Spion“, meine Brüder vermisst in den Wirren des Krieges, ein gefundenes Fressen für den Kommandanten und seine Leute. Ich machte auf der Stelle kehrt und lief davon.
„Dein Schlitten! Dein Schlitten!“, hörte ich die Kinder rufen, doch ich rannte so schnell ich konnte, als ginge es um mein Leben. Zu Hause riss ich die Tür auf und wollte Mama berichten, brachte aber vor lauter Aufregung kein Wort über die Lippen. Dann erzählte ich. Sonderbar, Mama blieb ganz ruhig, nur weiß wie die Wand war ihr Gesicht geworden. Reglos, mit starrem Blick, flüsterte sie:
„Das ist das Ende! Ich habe alles verschwiegen. Wenn jetzt aber jemand von unseren Nachbarn auch nur ein Sterbenswörtchen sagt, ist alles aus.“
1944. Irgendwann kamen in unser Dorf Marienheim in der Ukraine lustige und nette deutsche Soldaten, die uns verstehen konnten, wenn wir uns beim Sprechen etwas Mühe gaben, und wir gaben uns reichlich Mühe. Die Soldaten bekamen feuchte Augen beim Klang der deutschen Sprache, auch wenn es ein uraltes Schwäbisch war. Als Belohnung gab es Bonbons oder Schokolade, und das war mehr als das siebte Weltwunder! Die Erwachsenen waren froh. Sie glaubten, den Peinigern entkommen zu sein und feierten die deutschen Soldaten als Befreier.
Das Wort „Krieg“ bestimmte unseren Alltag, und je bedrohlicher, ja furchterregender, desto fester und klarer prägten sich die Ereignisse dieser gnadenlosen Zeit in mein Gedächtnis ein: der Treck nach Polen, die Flucht nach Deutschland, das Inferno in Dresden, insbesondere aber die Nachkriegszeit in Russland. Denn dorthin wurden nach Kriegsende alle Russlanddeutschen verschleppt, derer man im zerstörten Deutschland habhaft werden konnte – sehr häufig übrigens mit eifriger Hilfe der Alliierten.
Zunächst, im Frühjahr 1944, hieß es noch, alle „Volksdeutschen“ – so nannte man uns – müssten ins „Reich“; „müssen“, wohlgemerkt, nicht „wollen“, wie manche heutzutage behaupten. Denn gerade jetzt begann sich das Leben der Bauern in den deutschen Kolonien zu normalisieren, begannen die durch Revolution, Bürgerkrieg, Enteignungen und Terror geschlagenen Wunden zu heilen. Beim Einmarsch der deutschen Truppen wurden die Kolchose aufgelöst und das Land unter den Bauern verteilt; sie bekamen einen Teil ihres Eigentums zurück. Eben erst war es ihnen gelungen, ihre Dörfer in blühende Inseln zu verwandeln, und nun zwang man sie wieder, alles stehen und liegen zu lassen, ein paar Habseligkeiten und Proviant für die Familie auf einen Pferdewagen zu laden und ins Ungewisse, in die Ferne, zu ziehen, wo sie niemand erwartete.
Für die Marienheimer schlug die Stunde Null am 17. März 1944, an einem Sonntag. Bevor sie auf die „Reise“ gingen, nahmen sie Abschied von der Heimat – von dem Dorf, den Feldern, so weit das Auge reichte, vom Friedhof, wo ihre Ahnen begraben waren, von jedem Baum, jedem Strauch, jedem vertrauten Gegenstand im Elternhaus. Trotz aller Hektik und Eile, trotz der Angst vor dem Fliegeralarm ließen sich die Menschen Zeit, als hätten sie schon damals geahnt, dass die Trennung von der Heimat endgültig war, dass sie nirgendwo mehr heimisch werden und nie mehr ein Zuhause haben würden. Dann erst setzte sich der Zug, – der mit Persenningplanen überdachten Pferdewagen in Bewegung. Zurück blieb ein Geisterdorf. Mit dem großen Treck ging es über Tiraspol, Bessarabien, Rumänien und Ungarn nach Polen. Nicht die schlechten Witterungsverhältnisse, der katastrophale Zustand der Wege, nicht die vielen Krankheiten oder der Mangel an Futter für die Pferde waren das Schlimmste – man hatte sich mit allem abgefunden und war bereit, sein Kreuz zu tragen. Es waren vielmehr die fast regelmäßigen Angriffe der sowjetischen Flieger und der Partisanen!
Die Flugzeuge kamen tagsüber, wenn der Treck Rast machte, und schossen auf alles, was sich bewegte. Sie machten ganze Arbeit – zielsicher, gewissenhaft, gnadenlos. In dem heillosen Durcheinander verloren sich oft Menschen, die sich erst nach Jahren, gar Jahrzehnten wiederfanden. Oder überhaupt nicht mehr. Während eines Angriffs brach der Riesentreck unerwartet seine Zelte ab, als meine Brüder gerade Futter für die Pferde holen wollten. Im entstandenen Chaos konnten sie unseren Wagen nicht mehr finden. Mama suchte sie verzweifelt einige Tage, doch es war aussichtslos – sie waren verschollen. Es dauerte Jahrzehnte, ehe wir sie wiedersahen. Den einen in den weißen Weiten Sibiriens, den anderen in Deutschland.