Читать книгу In den Fängen der Zeit - Nelli Kossko - Страница 18

Die Fremden in unserem Dorf

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Mittlerweile war es Nachmittag geworden. Wir hatten weder gekocht noch geheizt und konnten an nichts anderes denken als an die fremden Männer im Dorf. Als es immer später wurde und die leise Hoffnung aufkeimte, das Unheil hätte uns diesmal gemieden, kamen sie. Mama stand wortlos auf und zog sich die Wattejacke über. Alles in mir schrie verzweifelt nach Hilfe, doch ich saß da wie gelähmt und konnte mich nicht vom Fleck rühren. Mama sagte nur:

„Heiz den Ofen, ich komme bald.“ Als ob sie auf einen Sprung zu den Nachbarn hätte gehen wollen.

Die Tür fiel ins Schloss. Ich war nun ganz allein in der dämmrigen Stube und wurde fast wahnsinnig vor Angst. Schnell lief ich zum Fenster. Drei Gestalten stapften durch den Schnee zum Hause des Kommandanten, ganz vorne meine Mutter, zwei Männer hinterher. Dann verschwanden sie alle im Haus. Ich weiß nicht, wie lange ich reglos aus dem Fenster starrte, bemüht, die Tür, hinter der meine Mutter verschwunden war, nicht aus den Augen zu lassen, aber es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Plötzlich ging die Tür auf, und ein Mann trat ins Freie. Er ging hinter das Haus, kam nach einigen Minuten mit einem Schlitten angefahren und hielt vor dem Eingang. Die Tür ging abermals auf, und heraus kamen die Herren vom Rayon, eine Gruppe von Barackenbewohnern und schließlich meine Mutter.

Ich geriet ganz aus dem Häuschen vor Freude, doch etwas hielt mich weiter am Fenster fest. Die Herren machten es sich auf dem Schlitten bequem, aber das Grüppchen der Deutschen schien es überhaupt nicht eilig zu haben, nach Hause zu kommen. Als sich der Schlitten in Bewegung setzte, trabten sie ihm mit gesenkten Köpfen hinterher, als wären sie mit einem unsichtbaren Seil an die vier dort auf dem Schlitten gefesselt.

„Wahrscheinlich werden einige verhaftet.“ Die Worte des kleinen Johannes vom Vormittag kamen mir plötzlich in den Sinn. Auf einmal begriff ich. Ohne Mantel stürzte ich hinaus in den Schnee und die Kälte und lief dem Schlitten hinterher. Ich fiel hin, raffte mich auf, fiel wieder und schrie, schrie aus Leibeskräften nach meiner Mutter.

Man hatte mich bemerkt. Mama machte kehrt und lief mir entgegen, einer der Männer ihr nach. Als sie mich erreicht hatte und vom Boden aufheben wollte, stieß er sie grob beiseite und packte mich fest an den Armen. Ein zweiter Mann kam ihm zur Hilfe und schleifte Mama zum Schlitten. Ich wehrte mich nach Kräften, stemmte mich mit den Füßen auf den Boden, schlug wild mit den Armen um mich, doch der Mann war kräftiger. Er steckte mich einfach unter seinen Arm wie einen zappelnden Fisch und ging zurück zum Dorf. Auf seinem Weg kreuzte Sergej Iwanowitsch auf. Vor Schreck hörte ich auf zu schreien und kniff die Augen ganz fest zu.

„Hör mal, Kumpel“, hörte ich den Fremden sagen, „sei so gut, bring diese Göre hier ins Dorf. Das kleine Biest ist nicht zu bändigen.“

„Pass mal auf, du Bulle“, entgegnete Sergej Iwanowitsch gefährlich leise, „ich bin Soldat und kämpfe nicht gegen Kinder, merk dir das, ja?“ Er ließ den Fremden stehen und ging einfach weg. Dieser fluchte dreckig und schrie Sergej Iwanowitsch irgendwelche Beleidigungen nach, die offensichtlich so schlimm waren, dass der plötzlich kehrtmachte und mit Fäusten auf den verdutzten Milizmann losging. Dann zog er mich unter dem Arm des Bulligen hervor, der auch sofort die Flucht ergriff.

Erst jetzt merkte ich, wie kalt es war. Ich konnte weder Arme noch Beine bewegen, aber es war mir auch alles egal, denn der Schlitten entfernte sich immer weiter und das Grüppchen der Menschen wurde immer kleiner, bis es schließlich zu einem winzigen Punkt schrumpfte und dann ganz im Wald verschwand.

„Komm!“ Sergej Iwanowitschs Stimme ließ mich zusammenschrecken. Da ich mich dennoch nicht von der Stelle rührte, kam er näher heran, zog seinen Schafspelz aus, wickelte mich darin wie ein Baby ein und trug mich nach Hause, wo er mich Tante Njura aushändigte. Sonderbar, ich hatte auf einmal keine Angst mehr vor ihm, überhaupt eigentlich vor nichts und niemandem mehr, und mein einziger Wunsch war, zu sterben. An das, was darauf folgte, konnte ich mich später nur vage erinnern. Ich lag im Bett, Tante Njura und einige Frauen aus den Baracken standen im Zimmer und flüsterten. Dann zog wieder Nebel vor meinen Augen auf, und ich tauchte in die Bewusstlosigkeit zurück. Manchmal schnappte ich ein paar Gesprächsfetzen auf, in denen es um ein armes Waisenkind ging. Als ich begriff, dass ich damit gemeint war, wollte ich sagen, es wäre nicht wahr, meine Mama würde ganz bestimmt zurückkommen, doch dann überkam mich erneut die Dunkelheit. Wenn ich für eine Zeit lang zu mir kam, suchte ich die Gesichter in der Stube nach dem vertrauten ab, aber es war nicht dabei.

Ich hatte Durst und erwachte. Auf dem Schemel neben dem Bett, mit den Armen auf das Kopfende gestützt, schlief Tante Rosie. Als ich mich bewegte, wachte sie auf:

„Endlich, du armer Wurm, du hast uns ja einen schlimmen Schrecken eingejagt!“ Sie strich mir über die Wange.

„Was habe ich denn angestellt, Tante Rosie?“

„Nichts, gar nichts! Nur hohes Fieber hattest du, und in diesem gottverlassenen Nest gibt es weit und breit keinen Arzt.“

Ich begann mich allmählich zu erinnern:

„Wo ist meine Mama, Tante Rosie?“ Ihr Blick wich meinem aus. „Wo ist sie?!“

„Sie ist noch immer nicht zurück.“ Tante Rosies Stimme klang gequält, doch dann fügte sie hastig hinzu: „Aber sie kommt ganz bestimmt, da kannst du ganz sicher sein, vielleicht schon morgen.“ Sie hielt inne, da in diesem Augenblick die Stubentür leise aufging und Sergej Iwanowitsch mit einem Tonkrug in der Hand eintrat. Vor Schreck zog ich die Bettdecke bis ans Kinn und starrte ihn an wie einen Geist. Er würdigte mich keines Blickes, stellte den Tonkrug wortlos auf den Tisch und ging hinaus.

„Du darfst ihm nicht böse sein, Emmi. Ich glaube, man muss den Mann schon verstehen. Auch ich beginne jetzt anders über manche Dinge des Lebens zu denken.“ Ich war fassungslos:

„Über welche Dinge denkst du jetzt anders?“

„Über den Krieg beispielsweise, den Hass, der jetzt die Welt zu beherrschen scheint.“

„Auch über den Führer?“ Ich hoffte, sie würde nein sagen, doch Tante Rosie schwieg bedrückt.

„Sieh mal!“, sagte sie dann vorsichtig, „warum sollten wir, ich und Sergej Iwanowitsch, einander hassen? Weder er noch ich wollten den Krieg.

Aber wir mussten der jeweiligen Führung gehorchen, wobei die meisten auch glaubten, der rechten Sache zu dienen. Und nun …“, sie ließ kraftlos die Arme sinken, „wer weiß jetzt noch, was recht und was unrecht ist?“ „Und der Führer?“ Diese Frage ließ mir keine Ruhe. „Nur sag bitte nicht, ich wäre zu klein!“

„Ich fürchte, da kann ich dir nicht helfen. Nur, ich habe an so vieles geglaubt, und dann das alles …“

„Und der Russenführer, ist der denn besser?“ Irgendwie hatte es mir der großväterlich anmutende russische Führer mit seinem gutmütigen Lächeln angetan. Außerdem konnte ich mir das Leben so ganz ohne einen Führer überhaupt nicht vorstellen. „Ist der denn gut?“, bohrte ich weiter, doch Tante Rosie schwieg.

„Ich weiß nicht“, sagte sie nach einer langen Pause, meinem Blick ausweichend, „vielleicht“.

Doch ich sah ihr an, dass es nicht die Wahrheit war. Sie log, log aus Angst, ich könnte sie verraten, gewollt oder ungewollt! Diese verlogene, heuchlerische Welt der Erwachsenen, wie ich sie hasste!

Ohne noch ein Wort zu sagen, drehte ich mich mit dem Gesicht zur Wand, und große, hilflose Tränen liefen über mein Gesicht. Tante Rosie schwieg noch immer.

In den Fängen der Zeit

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