Читать книгу In den Fängen der Zeit - Nelli Kossko - Страница 15

Sie sind schon komisch, diese Russen

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Das erste, was ich am nächsten Morgen hörte, war betrunkenes Gegröle.

Ich lief zur Tür und sah durch das Schlüsselloch. Die Küche sah wie ein Rummelplatz aus, so viele Menschen hatten sich da versammelt, um Sergej Iwanowitsch – so hieß Tante Njuras Mann – zu Hause willkommen zu heißen. Er selbst saß breitbeinig am Tisch, seine Söhne neben ihm, und schenkte jedem der Gäste ein Teeglas Wodka ein. Tante Njura schleppte eine Schüssel nach der anderen mit der in solchen Fällen üblichen ‚Sakuska’ – verschiedenen Vorspeisen – herbei. Man trank, aß, unterhielt sich lautstark. Jemand brachte eine Ziehharmonika. Die Gäste, die dem Wodka offensichtlich schon gut zugesprochen hatten, begannen zu singen.

Schön sangen die Russen, und schön waren ihre Lieder. Ich holte mir einen Schemel und bezog Stellung an der Tür. Obwohl ich vor Sergej Iwanowitsch furchtbare Angst hatte, wollte ich mir nichts von dem Trubel in der Küche entgehen lassen. Und gerade in diesem Augenblick wurde es ganz spannend. Die Russen begannen nämlich zu tanzen! Der Tanz nahm sich sonderbar, ja sogar komisch aus: Der Tänzer oder die Tänzerin stellte sich in die Mitte der Küche, breitete die Arme weit aus, sang ein vierstrophiges Lied (Tschastuschka hieß das), tanzte dann einige Takte solo, indem ausgeklügelte, ja halsbrecherische Tanzschritte ausgeführt wurden, tanzte, steppte und sang immer zur gleichen Melodie. Bald tummelten sich alle Gäste auf der kleinen Tanzfläche in der Küche, in der Mitte Sergej Iwanowitsch, der zum Takt der Musik bald in die Hocke ging, bald in die Höhe schnellte – lustig, fröhlich und wieder ganz gutmütig und nett. Wenn man ihn so sah, konnte man kaum glauben, dass er es war, der mich gestern so hasserfüllt angebrüllt hatte.

Nach dem Tanz setzten sich alle wieder an den Tisch, aßen und tranken, sangen ihre wehmütigen Lieder und – weinten, Frauen wie Männer. Vor Schreck fiel ich fast von meinem Schemel. Was sollte das nun bedeuten? Später hatte ich für diese meine Frage nur ein nachsichtiges Lächeln übrig, denn auch das, wie so vieles, musste noch gelernt werden, nämlich dass jede Dorffeier auf diese Weise endete: Man klagte dem anderen sein Leid, auch die Russen hatten genug davon, – und weinte sich an seiner Schulter aus. Bei besonders robusteren Naturen ging es allerdings etwas anders zu: Man prügelte sich, vertrug sich aber nachher sofort wieder, trank zusammen weiter und weinte sich an der Brust des anderen die Seele aus dem Leib.

Ich fror, und beschloss mich anzuziehen, musste mich aber erneut hinsetzen. Diesmal vor Überraschung: Unter dem Regal, an dem mein Mantel hing, standen auf dem Fußboden ein Paar Filzstiefel, nicht mehr ganz neu, dafür aber mit ganz dicken Filzsohlen! Neben dem Mantel entdeckte ich ein flauschiges graues Wolltuch, auch der Mantel selbst war kaum wieder zu erkennen: Mama hatte einen Teil unserer Steppdecke darin eingenäht, damit er warm hielt!

Wann hatte sie das alles bloß geschafft, die Filzstiefel einzutauschen und mir den Mantel herzurichten?

„Mensch, du bist aber eine Schlafmütze!“ Ich fuhr herum und sah meine Freundinnen Lore und Klara.

„Seid ihr etwa durch die Küche gekommen?!“

„Wie denn sonst? Bei euch ist vielleicht was los!“ Lore war begeistert. „Du hast es aber gut“, seufzte sie neidisch.

„Von wegen gut! Ihr habt ’ne ‚Hexe’, wir aber ’nen ‚Hexerich’ bekommen! Tante Njuras Mann ist nämlich zurückgekehrt und will uns jetzt rauswerfen.“

„Wohin geht ihr jetzt?“ Lore sah mich entsetzt an.

„Was weiß ich, vielleicht doch in die Baracken. Mama wollte den Kommandanten fragen.“

Wir schwiegen eine Weile.

„Wollen wir spielen?“ Klara wechselte das Thema.

„Was?“

„Na, zum Beispiel Ausgehen.“ Lore klatschte vor Begeisterung in die Hände, denn es war unser Lieblingsspiel. Wir zogen Kleider, Röcke und Blusen unserer Mütter an, ihre Schuhe mit hohen Absätzen, machten uns Frisuren und tanzten auf imaginären Bällen. Diesmal fiel das Spiel armselig aus. Die schönsten Kleider waren weg, auch Mamas Pelzjacke, um die wir uns immer wieder beim Spiel stritten, hatte sich in Filzstiefel und einen Schal verwandelt.

Entmutigt setzten wir uns ans Fenster und sahen hinaus. Tante Njuras Gäste gingen gerade. Eine Schar singender, johlender und torkelnder Gestalten. Ich ging an die Tür und horchte. In der Küche war es still geworden, nur ein sonderbares Geräusch, als ob jemand Holz sägte, war zu hören. Vorsichtig öffnete ich die Tür und spähte durch den Spalt. Sergej Iwanowitsch lag angezogen auf der Ofenbank und schnarchte mit weit offenem Mund. Hastig zog ich meinen ‚neuen’ Mantel und die Filzstiefel an, alles passte wunderbar und zerrte meine Freundinnen durch die Küche ins Freie.

„Schnell, wir müssen weg, bevor er aufwacht, ich muss noch Reisig aus dem Wald holen, denn wenn meine Mama kommt …“

„Siehst ja aus wie ’ne Vogelscheuche“, Klara musterte mich von oben bis unten mit einem geringschätzigen Blick. Ich war verletzt, aber unerwartet kam mir Lore zu Hilfe:

„Bist ja bloß neidisch, dass wir keine so warmen Sachen haben, Klara. Ich finde, Emmi sieht nicht schlecht aus damit, und außerdem kann man mit diesen Kleidern wunderbar rodeln. Aber mit unserem Zeug“, sie zupfte verächtlich an ihrem dünnen Mäntelchen.

Dankbar für Lores Hilfe versprach ich, ihr meinen Mantel und die Filzstiefel zum Rodeln auszuleihen, und begab mich auf die Suche nach Brennholz.

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