Читать книгу In den Fängen der Zeit - Nelli Kossko - Страница 9
Kein Zug fährt in diese Gegend
ОглавлениеDen ganzen Tag schon fuhren unsere Schlitten durch verschneite Felder und Wälder. Es war bitterkalt und ungewöhnlich still ringsum. Nur das monotone Knarren des Schnees unter den Pferdehufen und Schlittenkufen war zu hören und von Zeit zu Zeit noch die Stimmen der bewachenden Milizionäre, die die erschöpften Frauen und Vierbeiner zur Eile antrieben.
Mama hatte mich in unsere Wolldecken eingepackt, so dass ich nur die Augen frei hatte. Viel zu sehen bekam ich ohnehin nicht – nur die weiße eisige Einöde ringsum und den Rücken des Milizmannes auf dem Kutschbock. Ab und an stieg Mama vom Schlitten, um sich beim Laufen etwas zu erwärmen. Dann hörte ich sie mit den Frauen von den anderen Schlitten reden, mit denen wir schon ab Dresden in einem Zug gefahren waren. Auch sie versuchten durch Bewegung die Kälte aus ihren erstarrten Gliedern zu vertreiben. Wenn sie zu weit von unseren Schlitten zurückblieben, riefen die Milizionäre immer wieder:
„Hei, wy Njemzy, a nu dawaite, dawaite …“
„Mama, was will der denn von euch, und was heißt ‚Njemzy‘ überhaupt?“, wollte ich wissen.
„Auf Russisch heißt das Deutsche.“
Sie warf mir einen prüfenden Blick zu und fügte nach einer langen Pause hinzu:
„Du musst dich darauf gefasst machen, dass dieses Wort hier schlimmer klingt als ein Fluch. Aber da ist nichts zu machen, und du wirst dich daran gewöhnen müssen.“
Sie konnte nicht einmal ermessen, dass ihre Vorahnung harmlos war gegen all das, was uns in diesem Land erwartete.
Damals konnte ich Mamas Befürchtungen nicht begreifen. Man hatte uns immer anders genannt. In unserem Dorf Marienheim bei Odessa hießen wir „Schwarzmeerdeutsche“, in Possendorf bei Dresden nannte man uns oft „Russlanddeutsche“, und beim Streit in der Schule waren wir auch schon mal die „russischen Schweine“. Dabei konnte fast keiner von uns auch nur ein Wort Russisch! Als bei Kriegsende die Russen in Dresden einmarschierten, sprachen alle nur noch von „sowjetischen Bürgern“ und von der Rückkehr in die Heimat. Wir wurden in Viehwaggons verfrachtet und in den Norden Russlands gebracht. Als es mit dem Zug nicht mehr weiterging, mussten wir auf Schlitten umsteigen, die uns in unsere neue „Heimat“ bringen sollten.
Nun würden wir in diesem neuen Land eben einen neuen Namen bekommen, und warum sollte es nicht „Njemzy“ sein? Ich versuchte das Wort auszusprechen, aber es war verdammt schwierig. Ich werde noch meine liebe Not mit der russischen Sprache haben, dachte ich mir, verdrängte aber den unangenehmen Gedanken und versuchte mir vorzustellen, wie wohl die russischen Kinder aussehen mochten.
Gegen Abend trafen wir in einem kleinen verschneiten Dorf ein, dem Ziel unserer langen Reise. Die Schlitten blieben stehen, ein Milizmann verschwand in einer der Bauernkaten, und im Nu hatte sich eine Menge aus Frauen und Kindern um uns herum geschart. Für einen Augenblick verschlug es mir die Sprache: Die Russen waren gewöhnliche Menschen, ganz, ganz anders, als man uns in Deutschland in der Schule erzählt hatte. Blonde, blauäugige Frauen und Kinder standen um unseren Schlitten herum, lächelten freundlich, reckten die Hälse, stellten sich auf die Zehenspitzen, um uns besser betrachten zu können, und wiederholten immer wieder das Wort „Njemzy“. Auch sie, die zum ersten Mal leibhaftige Deutsche sahen, schienen genauso überrascht zu sein, denn sie redeten aufeinander ein, heftig gestikulierend und mit den Fingern auf uns deutend. Mir wurde unheimlich zumute. Was hatten die eigentlich vor? Warum sahen sie uns so verwundert an?
Mama konnte ein bisschen Russisch. Sie sagte, die Russen wunderten sich und seien sogar enttäuscht, dass wir so gewöhnlich aussehen, gar nicht wie die Feinde, von denen sie so viel gehört und gelesen hatten. Mir war kalt, ich hatte schrecklichen Hunger, die Menge jedoch machte keine Anstalten auseinanderzugehen.
Das beiderseitige Mustern und Abschätzen zog sich in die Länge, und uns blieb nichts anderes übrig, als dazusitzen und uns begaffen zu lassen, obwohl wir in unserer dünnen städtischen Bekleidung halb erfroren waren. „Worauf warten wir denn, Mama?“, schaute ich fragend zu meiner Mutter hoch.
„Darauf, mein Kind, dass uns eine dieser Frauen bei sich aufnimmt. Wir können schlecht auf diesem Schlitten hier übernachten.“
Die Milizmänner redeten auf die Frauen ein, aber nichts geschah. Ich hatte schon jede Hoffnung verloren, doch da trat eine rundliche Bäuerin an unseren Schlitten heran und streckte die Hand nach mir aus, vielmehr nach meinen Zöpfen, einer lästigen Pracht, die mir fast bis zu den Knien reichte. In wilder Panik fuhr ich herum, doch etwas im Blick der Frau beruhigte mich gleich wieder. Sie strich mir sanft über die Haare und murmelte:
„Ach ty bednyj Frizik, boischsja?“– „Ach du armes Fritzchen, haste Angst?“ Ich schaute Mama an.
„Sie fragt, ob du Angst hast“, lächelte Mama, „nur verstehe ich nicht, warum sie dich Fritzchen genannt hat.“
Das sollten wir noch früh genug erfahren: geprägt von dem sowjetischen Schriftsteller Ilja Ehrenburg begleitete uns der Begriff „Fritz“ für den hässlichen Deutschen in Russland unser Leben lang.
Die Bäuerin schien sich für mich und Mama entschieden zu haben. Sie sagte etwas zu dem Milizmann, der nickte kurz, und schon liefen drei Jungen zum Schlitten – in großen Russenmützen und so komischer Fußbekleidung, dass ich unwillkürlich lachen musste. Und sofort sah ich, dass ich etwas vermasselt hatte:
Der Gesichtsausdruck der Russenkinder wurde hart, ja verschlossen. Doch die Bäuerin redete auf sie ein, und an den Augen meiner Mutter konnte ich ablesen, dass nichts Schlimmes folgen würde. Die Frau nahm das vor unseren Schlitten gespannte Pferd am Zügel, schnalzte mit der Zunge, und bald hielten wir vor einer Bauernkate am Rande des Dorfes. Ich war begeistert von der Kate! Sie war aus runden Baumstämmen gebaut, die von der Zeit und dem Regen dunkelbraun geworden waren und an den Ecken etwas hervorstanden. Die Kate erinnerte mich an ein Häuschen aus einem Märchen. Sie war fast bis zu den kleinen Fenstern im Schnee versunken, und das Strohdach wirkte jetzt im Winter wie eine riesengroße weiße Mütze.
Noch mehr aber war ich erstaunt, als ich durch den nach Vieh und Mist stinkenden Flur in die Küche trat: Fast den ganzen Raum nahm ein riesiger Ofen ein, ein wahres Haus im Haus! Längs des ganzen Ofens war eine Bank angebracht, auf der eine bunte Steppdecke aus Stoffresten lag. Ich setzte mich auf die Ofenbank und wollte mich gerade umsehen, als die Bäuerin in die Küche kam. Sie versuchte mir etwas zu erklären und zeigte immer wieder auf den Ofen. Da ich überhaupt nichts verstehen konnte, gab sie es auf und begann mich zu entkleiden. Als sie meine blaugefrorenen Füße sah, stieß sie einen entsetzten Schrei aus, lief hinaus und kam mit einer Schüssel Schnee zurück. Damit begann sie meine Füße, dann auch die Hände und das Gesicht einzureiben, ohne von meinem lauten Gebrüll Notiz zu nehmen. Zum Schluss betrachtete sie sichtlich zufrieden das Ergebnis ihrer Arbeit und schubste mich auf den Ofen, was mich veranlasste, noch lauter loszubrüllen, denn ich wollte doch nicht gebraten werden. Woher hätte ich auch wissen sollen, dass dieses „Schlafzimmer“ in der rauen Winterzeit für die ganze Familie die einzige Rettung vor der bitteren Kälte war?
Zum Glück kam Mama in die Küche, die mir die Vorteile des berühmten „russischen Ofens“ erklärte. Nun hatte ich keine Angst mehr und konnte mir alles genau ansehen.
Ich saß auf irgendwelchen alten Decken, auch ein Kissen war da, hart wie Stein. Die Ziegelsteine des Ofens wärmten angenehm, auch die Luft war hier oben viel wärmer. Das Beste aber: Von hier aus konnte man alles sehr gut beobachten. Zum Beispiel konnte ich sehen, dass das, was ich zuerst für die Zimmerdecke gehalten hatte, ein Hängeboden war, auf dem ebenfalls Decken und Kissen herumlagen.
Ich setzte meine Entdeckungsreise fort und kroch vorsichtig auf den Hängeboden. Mir war dabei nicht geheuer, denn ich hatte Angst, das Ganze könnte zusammenkrachen. Es krachte nicht, dennoch verschwand ich eiligst, denn eine ganz dicke Schicht von irgendwelchen kleinen Tierchen – Küchenschaben, wie ich später erfuhr – bedeckte hier die Wände. Ich bemühte mich, die ekelhaften Viecher nicht zu beachten, aber da entdeckte ich, dass es sie auch auf dem Ofen in rauen Mengen gab. Ich drehte ihnen einfach den Rücken zu, legte mich bäuchlings auf die Ziegelsteine und erwachte erst am nächsten Morgen.