Читать книгу In den Fängen der Zeit - Nelli Kossko - Страница 11
Verbannt für alle Zeiten
ОглавлениеEs dämmerte schon, als Mama nach Hause kam. Sie beachtete mich nicht und ging wortlos in unser Zimmer. Beunruhigt schlüpfte ich vom Ofen und machte vorsichtig die Tür auf. Mama lag in ihren Kleidern auf dem Bett, das Gesicht im Kissen vergraben und weinte. Ich weinte gleich mit. Es war immer so mit mir. Wenn Mama weinte, konnte ich meine Tränen auch nicht zurückhalten – wahrscheinlich aus Angst, denn Mama, das sagten alle, war eine starke Frau, und wenn sie weinte, musste etwas Furchtbares geschehen sein.
Mama richtete sich auf, drückte mich fest an sich, als wollte sie mich vor allem Unheil der Welt schützen, und flüsterte unter Tränen:
„Nun sind wir endgültig verloren, mein Kleines! Ich war gerade bei diesem Kommandanten …“
„Wer ist das?“, ich konnte mit diesem Wort nichts anfangen. Ein neuer Weinkrampf schüttelte Mama, dann fuhr sie fort:
„Wie der uns angebrüllt hatte! Verräter der sowjetischen Heimat wären wir, deutsche Schweine, faschistisches Gesindel, und krepieren würden wir in diesen Wäldern, wie räudige Hunde, büßen sollten wir für all das, was die Deutschen in Russland angerichtet hätten.“ – Jetzt weinte sie laut. „Ab morgen sollen wir zur Arbeit gehen. Wir sind einer Holzfällerbrigade zugeteilt und sollen in einer Forstwirtschaft Bäume fällen. Sie liegt, hat er gesagt, zehn Kilometer von unserem Dorf entfernt. Er hat unsere Angst sichtlich genossen und gefragt, warum denn keine von uns wissen will, wie lange wir so arbeiten müssen. Da wir schwiegen, meinte er:
„Ein paar Stunden zum Ausschlafen täglich werden wohl reichen? Die übrige Zeit wird geschuftet, – tagein, tagaus, auch sonntags, und wehe der Schlampe, die das Soll nicht erfüllt! So geht es euch euer Leben lang! Auch euren Kindern und Kindeskindern!“
Mama erhob sich mühsam und ging im Zimmer auf und ab. Dann wandte sie sich mir zu:
„Du bleibst morgen schön zu Hause, denn du könntest dich leicht verlaufen, und dann gnade dir Gott! Du merkst es selber nicht, wie du erfrierst. Ja, noch etwas: Du musst wissen, dass wir hierher verbannt sind für ewige Zeiten.“
„Was ist ‚verbannt’?“, wollte ich wissen, obwohl ich sah, dass ich meiner Mutter allmählich mit der Fragerei auf die Nerven ging.
„Weil wir Deutsche sind, dürfen wir nie mehr nach Hause nach Marienheim, sondern müssen lebenslänglich hier bleiben, in diesem Dorf, das wir ohne die Erlaubnis des Kommandanten nicht verlassen dürfen – das heißt verbannt.“
Sie weinte schon wieder.
„Wie Sklaven?“ Mama schaute mich verdutzt an. „Woher kennst du überhaupt dieses Wort?“
„Ich habe mal eine Geschichte über die Sklaven gelesen“, ich war noch nicht ganz fertig mit meinem Satz, als Mama mich in die Arme nahm und unter Tränen murmelte:
„Mein Kleines, mein ein und alles.“
Wir klammerten uns aneinander, ein kleines Mädchen und eine Frau, die in den Wirren des Krieges alles bis auf dieses Kind verloren hatte. Verloren zu haben glaubte.
Den ersten großen Verlust hatte sie schon viel früher hinnehmen müssen, als 1937 auf dem Höhepunkt des stalinschen Terrors, in der Zeit der Massenverhaftungen und Hinrichtungen, ihr Mann, mein Vater, verhaftet und verschleppt wurde. Während der allgemeinen Denunziationen, Verdächtigungen und des Terrors waren die Russlanddeutschen den Schergen Stalins schon allein wegen ihrer Herkunft verdächtig, und so wurde in den Jahren der berüchtigten ‚Jeshowschtschina‘, die nach dem 1938 von L. Beria abgelösten Innenminister N. Jeshow benannte Terrorwelle in der Sowjetunion, nahezu die ganze gebildete Schicht der Deutschen in der UdSSR umgebracht.
An diesem sonnigen Altweibersommertag Ende September 1937 sind die Straßen des deutschen Dorfes Marienheim im Gebiet Odessa menschenleer. Ab und zu durchbricht das Gackern eines Huhnes oder das Kläffen eines im Schlaf gestörten Hundes die träge Mittagsstille. Kinder spielen vor dem Haus am Rand der Dorfstraße, über die gerade eine schnatternde Entenschar watschelt. Von Zeit zu Zeit hört man ein Pferdefuhrwerk vorüberrollen. Die Bauern nutzen die Gunst der Stunde und haben es eilig, die Wassermelonen und den Mais, der hier Welschkorn heißt, einzubringen, solange das Wetter noch schön ist. Dann kehrt wieder friedliche Ruhe im Dorf ein.
Plötzlich ein gellender Schrei. Um die Ecke der Straße zum Dorfplatz kommen schnellen Schrittes zwei Milizionäre, die schussbereiten Waffen auf einen jungen Mann vor sich gerichtet. Eine Frau, tränenüberströmt und völlig aufgelöst, versucht, die seltsame Gruppe einzuholen, aber der Abstand vergrößert sich immer mehr. Die Frau gibt nicht auf, sie drückt das Kleinkind in ihren Armen noch fester an sich, als habe sie Angst, man könnte es ihr auch noch wegnehmen. Ihr Weinen hört sich wie das Heulen eines tödlich verwundeten Tieres an, dann wimmert sie nur noch. Bevor die Männer hinter dem letzten Haus auf der Straße zur Bahnstation verschwinden, dreht sich der Mann, ihr Mann, noch einmal um: „Leb wohl, Marie. Vergib mir …“
Die Frau bleibt zurück. Ihr Blick wirkt leblos und entrückt. Dann macht sie kehrt und schleppt sich zurück zu einem schmucken, weißgetünchten Häuschen. Die Frau, die hinter der Tür dieses Häuschens verschwindet, ist meine Mutter, die gerade ihren Mann, den Vater ihrer drei Kinder verloren hat. Das Bündel auf ihrem Arm bin ich, knapp einen Monat alt, das kleine Mädchen, das sich mein Vater immer schon gewünscht hat, das Nesthäkchen, das er während des einzigen Besuches im Gefängnis von Odessa, den seine Frau erbettelt und mit viel Geld bezahlt hat, nicht einmal in die Arme nehmen kann. Hilflos streckt er die von seinen Peinigern im Türspalt zerquetschten und in Lappen gewickelten Hände vor und wiederholt immer wieder:
„Hier kommen wir nie wieder raus, für uns gibt es kein Entkommen.“
Mein Vater verschwindet spurlos in den endlosen Weiten des Archipels Gulag. Erst sehr viel später bekommt meine Mutter die Nachricht, er sei als „feindlicher Spion“ zu zehn Jahren Haft verurteilt worden, „ohne Recht auf Briefwechsel“. Doch die ganze Wahrheit erfahren wir erst Anfang der 90er Jahre, als das KGB, der sowjetische Geheimdienst, der Rechtsnachfolger von Stalins NKWD, dem sogenannten Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten, in Odessa sein Archiv öffnete. In der Liste von mehr als 4 000 in den Jahren 1937/38 im Odessaer Gefängnis erschossenen Russlanddeutschen wird auch der Name meines Vaters geführt: „Wagner Oskar, Sohn des Eduard, geb. 1900, erschossen am 23.2.1938“, steht da lapidar und nüchtern.
Mama beeilte sich mit dem Abendbrot, denn Licht gab es hier nicht. Die Bauern hatten wohl Petroleumlampen, wir aber hatten nur einen kleinen Docht, der durch eine Blechplatte gezogen in einem Fläschchen mit Petroleum schwamm. Die Flamme war winzig klein und beleuchtete nur einen kleinen Kreis auf dem Tisch.
Unser Abendbrot fiel ganz bescheiden aus. Die Vorräte waren zum größten Teil auf unserer monatelangen Reise verbraucht worden. Ein bisschen Mehlsuppe und eine Pellkartoffel für jede von uns, das war alles. Wir saßen danach noch lange am Ofen, sahen den lustig tanzenden Flammen zu und gingen dann traurig zu Bett, ungewiss, ob uns der nächste Tag etwas Erfreuliches bescheren würde.