Читать книгу In den Fängen der Zeit - Nelli Kossko - Страница 8
Die Vergangenheit lässt uns nicht los …
Оглавление„Beim Eintritt lass alle Hoffnungen fahren.“ (Dante Alighieri)
Hart schlagen die Räder der Aeroflot-Maschine auf dem Rollfeld auf. Ein Ruck, das Flugzeug drosselt allmählich seine Geschwindigkeit und steuert, in allen Fugen krachend und ächzend, auf das Flughafengebäude zu.
Frankfurt am Main. Endstation.
Im Flugzeug herrscht heitere Aufbruchstimmung: Man freut sich, nach Hause zurückgekehrt zu sein. Nach Hause … Mein Gott, wie ich sie alle beneide, die Menschen, die ein richtiges Zuhause haben, diese „echten“ Deutschen, unsere Mitreisenden, die so frei und unbeschwert lachen können und keine Angst haben, keine zu haben brauchen! Keine Angst, die einem die Kehle zuschnürt und einen nicht loslässt, Tage, Wochen, Monate, Jahre.
Mit weit aufgerissenen Augen starre ich wie gebannt zur Tür. Was, wenn sie es sich anders überlegt haben? Wenn sie die Ausreisegenehmigung rückgängig machen, um die wir lange Jahre verzweifelt gekämpft haben, und Schikanen sowie Erniedrigungen über uns haben ergehen lassen? Der Flieger gehört ja immer noch ihnen. Ich kenne die Sowjets zu gut, um noch Vertrauen zu ihnen zu haben.
Verstohlen schaue ich zu meinem Mann hinüber, der zwei Reihen hinter mir mit unseren Töchtern sitzt, und schrecke zusammen: Er, sonst betont ruhig und beherrscht, scheint auch ziemlich nervös und angespannt zu sein. Dann geht endlich die Tür auf. Keiner, der so aussieht, als wolle er jemanden zurückhalten. Ich schnelle von meinem Sitz hoch, packe die kleine Irene an der Hand und zerre sie so heftig zum Ausgang, dass das Kind erschrocken aufschreit. Nun aber schnell weg von hier, hämmert es in meinen Schläfen, weg, möglichst weit, weit weg.
„Ihr Schirm, Madame, Ihr Schirm, Sie haben ihren Regenschirm liegenlassen!“, höre ich die Stewardess mir nachrufen. Doch so eine Lappalie kann mich nicht mehr aufhalten auf meinem Weg in die Freiheit, jetzt nicht mehr. In mein neues Leben möchte ich möglichst wenig von dem mitnehmen, was mich an das Land erinnern könnte, in dem wir oft ärger als stiefmütterlich behandelt wurden.
Ich verlasse fluchtartig das Flugzeug. Mein Mann und die Kinder haben Mühe, mir zu folgen. Da! Die Pass- und Zollkontrolle! Schnell durch … In der Halle muss ich mich erst mal setzen und tief durchatmen. Nun ist es vorbei, alles ist endlich vorbei! Demütigungen, Schmähungen, Drohungen und die Angst sind im anderen Leben geblieben, das ich von nun an vergessen werde, für immer zu vergessen versuchen werde …
Stückchen für Stückchen zuerst, dann aber mit voller Wucht stürzt die neue Welt auf uns ein – laut, schrill, grell und gleichgültig, ja, brutal. Es ist wie ein Schock. Soll etwa dieses so geschäftige, hektische, so laute und turbulente Durcheinander mit ihrem Glanz, den grellen Lichtern und Farben, diese Welt mit ihrer Anonymität das Land sein, das uns das Gefühl der Heimatlosigkeit nehmen soll? Ist dies das Deutschland, dessen Bild mir meine Mutter als eine Art Vermächtnis auf den Lebensweg mitgegeben hat?
Ein banges Gefühl beschleicht mich, und plötzlich kommt mir meine kleine Familie seltsam verloren in dieser so anderen Welt vor. Verloren und einsam.
„Ist eine Mark für eine Cola viel oder wenig?“, platzt Irene ganz unvermittelt in meine Gedanken. Ich schaue unseren Papa fragend an, aber auch er weiß auf diese eigentlich so banale Frage keine Antwort. Tja, was ist eigentlich eine Mark so wert?
Wir durften fast nichts bei der Ausreise mitnehmen außer einer Kiste Bücher und 90 Rubel pro Person, für die man uns in einer Bank in Moskau 300 Mark ausgezahlt hatte. Das ist nun unsere Barschaft, und so gesehen ist eine Mark in der Tat verdammt viel Geld. Ich will gerade den beiden Mädchen unsere finanzielle Situation erklären, doch da sehe ich, wie sie gebannt zum Kiosk hinüberstarren. Dort sind die herrlichsten Sachen zu bekommen, vor allem aber die begehrte Cola und die Kaugummis! Und so tätigen wir unseren erster Kauf auf deutschem Boden: zwei Dosen Cola und zwei Päckchen Kaugummi!
Im Bus, der uns ins Grenzdurchgangslager Friedland bringen soll, ist es still, die Insassen hängen ihren Gedanken nach. Die einen hadern mit der Vergangenheit, die anderen bangen der Zukunft entgegen.
„Sag mal“, mein Mann sieht mich prüfend von der Seite an, „wovor hast du vorhin so eine panische Angst gehabt? Hast du denn allen Ernstes geglaubt, man würde uns in Frankfurt nicht aussteigen lassen?“
Ich kann Alexander nicht verstehen, denn waren die nicht immer wortbrüchig? Entschieden sie nicht über unser Leben und Tod? Bis zur letzten Stunde? Früher … ach, lassen wir das!
Ich wende mich verstimmt ab, gebe aber noch zu bedenken:
„Wo wir doch gerade bei dem Thema sind: Damals, 1945, als sie uns in Viehwaggons verfrachteten und aus Dresden in die „Heimat“ zu bringen versprachen, wohin ging denn damals die Reise?“ Da Alexander schweigt, beantworte ich meine Frage selbst: „Genau, in Richtung Norden und Sibirien! Übrigens, wären wir heute in der DDR, in Dresden gelandet, hätte sich eigentlich der Kreis geschlossen!“
„Um Gottes willen!“ Alexander tut entsetzt, „was für eine grauenhafte Vorstellung!“
Ich stimme unwillkürlich in sein Lachen ein: Ein russischer Kommunist ist schon schlimm genug, aber der tüchtige Deutsche in dieser Rolle – Gott bewahre!
Wie ein Rettungsboot mit Schiffbrüchigen rast unser Bus durch die Nacht. Erschöpft von physischen und seelischen Strapazen sind unsere Mitreisenden, durchweg Russlanddeutsche, in einen kurzen, unruhigen Schlaf gesunken.
Ich kenne keinen von diesen unfreiwilligen Wanderern zwischen zwei Welten, die auch Jahrzehnte nach Kriegsende nicht zur Ruhe kommen können. Doch ich könnte, ohne dass mir schwere Fehler unterliefen, den Lebensweg der meisten skizzieren: Geboren in einer deutschen Kolonie im Süden der UdSSR, im Krieg als „Volksdeutsche“ ‚heim ins Reich’ geholt, nach Kriegsende von den Sowjets zurück verschleppt und wegen ‚Verrates an der sozialistischen Heimat’ zu lebenslänglicher Verbannung und Zwangsarbeit in den Wäldern Sibiriens, in den Minen des Ural und auf den Baumwollfeldern Zentralasiens verurteilt.
Ich war knappe neun Jahre alt, als man meine Mutter und mich aus Dresden in unseren Verbannungsort im Norden Russlands brachte, in ein Dorf in den Urwäldern des Kostromagebietes.