Читать книгу In den Fängen der Zeit - Nelli Kossko - Страница 10
Heute gibt es kein Frühstück
ОглавлениеIch wachte in einem fremden Zimmer auf und erschrak heftig, doch der Anblick meiner Mutter, die neben mir im Bett schlief, beruhigte mich. Allmählich begann ich mich an die Ereignisse am Vorabend zu erinnern. Auch daran, dass das hier jetzt unser Zuhause sein würde.
Ich musste auf die Toilette, wollte Mama aber nicht wecken. Vorsichtig kroch ich aus dem Bett und hätte beinahe aufgeschrien, so kalt war es im Zimmer. Zähneklappernd schlüpfte ich in meine Sachen. Die Schleifen der Schürze wollten und wollten sich nicht binden lassen. Ich warf sie achtlos in die Ecke. Und was weiter? Wohin führte wohl diese Tür? Ich machte sie vorsichtig auf und kam in die Küche mit dem überwältigenden Ofen. Wie wohlig warm es hier war! Und wie herrlich es da nach frischgebackenem Brot und gekochten Kartoffeln roch!
Die russische Familie – die nette Bäuerin mit ihren drei Söhnen – saß schon am Frühstückstisch. Die Frau stand auf, nahm meine Hand und führte mich zum gedeckten Tisch. Sie zeigte auf die Speisen und sprach, sprach in dieser fremden Sprache, wo ich doch kein Wort verstehen konnte! Es war zum Verzweifeln. Wie sollte ich bloß zurechtkommen? Ich rannte zurück in unser Zimmer und rüttelte Mama wach, damit sie mir zeigte, wo dieser verdammte „stille“ Ort war! Doch Mama sagte klipp und klar, so etwas hätten die Russen hier nicht. Vor lauter Staunen vergaß ich meine Not. Sollte das etwa heißen, dass die Russen nicht …? Resolut nahm Mama meine Hand und führte mich durch den Flur hinters Haus, wo sich ein schmaler Pfad durch die Schneehügel wand.
„So, da wären wir!“
Ich sah meine Mutter entgeistert an: Wo wären wir?
Mama schien sich über meine Begriffsstutzigkeit zu ärgern und erklärte, dies hier werde fortan unser Klo sein – im Schnee und überhaupt nicht vor fremden Augen geschützt.
Nein, so was! Das war ja schlimmer als zu Hause bei uns in Marienheim, da hatten wir wenigstens ein Häuschen hinten im Garten gehabt!
Das Leben hier wird ganz schön anstrengend sein, dachte ich mir. Aber ich hatte schon gelernt, dass ich nicht viel zu melden hatte und meiner Mutter das ohnehin schwere Los nicht noch schwerer machen durfte. Deshalb hielt ich mich mit Fragen nach dem Wieso und Warum zurück und versuchte, den Dingen um mich herum anders auf den Grund zu gehen. Ich musste so schnell wie möglich herausfinden, was das für eine Welt war – dieses fremde, kalte, verschneite Russland, das voller Überraschungen zu sein schien.
Die nächste Begebenheit ließ nicht lange auf sich warten: Mama sagte, es gebe kein Frühstück, weil wir nur noch ganz wenig Lebensmittel hätten und kein Geld, um welche zu kaufen. Sie hatte wieder diesen besorgten Gesichtsausdruck, der mir immer Angst machte, weil sie dann oft weinte und besonders lange betete.
„Ich hab‘ überhaupt keinen Hunger“, sagte ich leichthin, „außerdem hatte ich sowieso vor, Klara und Lore zu besuchen!“
Mama nickte nur gedankenverloren, und so beeilte ich mich, wegzukommen, ehe sie es sich anders überlegte.
Ich hatte meine Freundinnen seit gestern nicht mehr gesehen und wollte unbedingt wissen, wie es ihnen in Russland ergangen ist. Schnell zog ich mich an und stürmte davon.
Ich musste den Atem anhalten: Häuser, Scheunen, Heuschober und Bäume hatten dicke weiße Gewänder an, die in der Novembersonne glitzerten und funkelten. Die Schneeberge zu beiden Seiten des Pfades, den unsere Wirtin Tante Njura schon früh am Morgen freigeschaufelt hatte, waren so hoch, dass ich nicht einmal einen Blick über sie werfen konnte. Die Straße war auch keine richtige Straße, sondern eine von Schlitten festgefahrene Spur, zu deren beiden Seiten Bauernkaten standen.
Ich war schon ziemlich weit weg von unserem Haus, als ich merkte, dass ich die Kälte unterschätzt hatte. Meine Füße in den flachen Schuhen froren entsetzlich, die Finger waren klamm und ungehorsam, die Wangen brannten, als jagte mir jemand Nadeln unter die Haut. Am liebsten hätte ich kehrt gemacht, aber wohin? Verzweifelt sah ich mich um, die Häuser hinter den Schneebergen waren alle gleich. Ich war schon nahe daran, loszuheulen, da sah ich eine Frau mir entgegenkommen.
Sie fuchtelte entsetzt mit den Armen, redete in dieser unverständlichen Sprache aufgeregt auf mich ein, doch da ich nichts verstand, zeigte sie mir, ich sollte ihr folgen, und so trabte ich ihr gehorsam hinterher. Wir kamen bald zu ihrem Haus, wo sie mir die Schuhe auszog und meine Füße in große Filzstiefel, sogenannte Walenki steckte. In Zeichensprache bedeutete sie mir, ich solle auf den Ofen klettern. Als ich nach oben sah, traute ich meinen Augen nicht: Der ganze Ofenrand war mit Kindergesichtern gesäumt – Mädchen und Jungs, alles durcheinander gewürfelt! Sieben Augenpaare starrten mich neugierig und erwartungsvoll an. Ich starrte bestürzt zurück.
Die Frau kam mir zur Hilfe: sie drückte mir eine Tasse heiße Milch und ein Stück Brot in die Hand und schubste mich leicht zum Tisch. Schon rutschten die Kinder eins nach dem anderen vom Ofen und Hängeboden. „Kak tebja sowut?“ – wie heißt du? –, fragte eines der Mädchen in die Stille. Ich zuckte gewohnheitsmäßig mit den Schultern – verstehe leider nichts! Doch sie fragte weiter, und ich wurde wütend auf die ganze Welt! Das Mädchen tippte sich plötzlich auf die Brust, sagte ganz langsam:
‚Si-na’, streckte den Zeigefinger in meine Richtung und sah mich fragend an. Bei mir dämmerte es, ich sagte zögernd: „Emmi.“ Es hatte geklappt! Weiter ging es in der Vorstellungsrunde wie am Schnürchen – Dunja, Nadja, Galja, Sina – das waren die Mädchen. Dann kamen die Jungs an die Reihe – Wassja, Kostja, Sascha.
Ich wäre gerne noch länger geblieben, doch Mama machte sich sicher schon Sorgen. Ich musste nach Hause, und die Mutter meiner neuen Freunde schien mich nach Hause bringen zu wollen.
Ich zog den dünnen Wollmantel an, stülpte mein Mützchen über, verabschiedete mich von den Kindern mit einem ‚Auf Wiedersehen!’, das mit einem vielstimmigen ‚Doswidanja‘ beantwortet wurde, und zog mit der Frau ab.
Mama war nicht zu Hause, also konnte sie über meine Abwesenheit gar nicht beunruhigt gewesen sein, wohl aber unsere Wirtin Tante Njura.
„Mama – Kommandant“, sagte sie, „ponimajesch – verstehst du, – Kommandant?“ So, Mama war also irgendwo im Dorf bei jemandem, der „Kommandant“ hieß. Nicht weiter schlimm, dachte ich und machte, dass ich auf den Ofen kam.
Ich war recht zufrieden mit meinem ersten Tag in Russland. Ich hatte erstens viele russische Wörter gelernt: Ofen, Milch, Auf Wiedersehen. Zweitens, und das war die Hauptsache: Ich fand die Russen gar nicht so schlimm, im Gegenteil, sie waren alle sehr nett zu mir. Dass es aber auch ganz andere Russen gab als diese einfachen Bäuerinnen mit ihren Kindern, diese Erfahrung stand mir noch bevor.