Читать книгу In den Fängen der Zeit - Nelli Kossko - Страница 12
Die Russen haben auch einen Führer!
ОглавлениеAm nächsten Morgen blieb ich allein zu Hause. Mama musste zur Arbeit, Tante Njura ging zum Viehstall der Kolchose, und die Jungs waren in der Schule. Es war unheimlich, allein in diesem fremden Haus zu sein. So würgte ich schnell den Rest der Mehlsuppe vom Vortag hinunter, um möglichst schnell nach draußen zu kommen. Ich musste die Augen zudrücken, so sehr blendeten mich Sonne und Schnee. Gestern noch hatte Mama mir ganz genau erklärt, wo Klara und Lore wohnten, und dass man sich zwischen den paar Häusern verlaufen könnte, schien mir einfach unmöglich.
Also, das fünfte Haus auf der gegenüberliegenden Seite. Da, dies müsste es sein. Vorsichtig stieg ich die vereisten Stufen hinauf. Ich war noch nicht richtig an der Tür, als drinnen ein Hund anschlug und eine Frauenstimme etwas fragte.
Eingeschüchtert fragte ich nach Lore und Klara, auf Deutsch selbstverständlich. Die Tür wurde aufgerissen und eine Frau, das Gesicht vor Hass verzerrt, schrie und keifte mich an. Am liebsten hätte ich Reißaus genommen, aber die steilen, mit dicker Eisschicht bedeckten Stufen verhinderten meinen Rückweg.
Plötzlich ergriff die Frau meine Hand und zerrte mich in die Küche. Die sich in ihrem Gekeife wiederholenden Wörter „Njemzy“, „Fritzy“, „Faschisty“ kannte ich schon allzu gut. Die Frau hasst mich, weil ich eine Deutsche bin! Kaum hatte ich diesen Satz zu Ende denken können, als die Frau mich in einen Raum schubste und die Tür mit einem Knall zuschlug. In der winzigen Kammer gab es nur wenig Licht, so konnte ich meine beiden Freundinnen, die mit bleichen Gesichtern und vor Angst weit aufgerissenen Augen auf dem Strohsack in einer Ecke saßen, zuerst gar nicht erkennen.
„Sie ist eine Hexe“, Lore machte runde Augen, „so schreit und donnert sie schon den dritten Tag – seitdem wir hier sind! Heute ist sie ganz außer sich, und Mama ist zur Arbeit!“
Lore flüsterte, und ich flüsterte zurück:
„Warum bleibt ihr dann hier?“
„Hast noch nichts kapiert, was?“, Klara, die älteste von uns dreien, sah mich mitleidig an, „wir sind hier eingewiesen worden, weil die ‚Hexe’ ganz allein wohnt, das Haus aber groß ist. Sie hat uns in diese Vorratskammer gesteckt. Nachts macht unsere Mama heimlich die Tür auf, damit ein bisschen Wärme hereinkommt, aber tagsüber ist es hier furchtbar kalt. Sie hasst uns, weil ihr Mann im Krieg gefallen ist.“
„Das hat sie unserer Mama ins Gesicht geschrien“, flüsterte Lore, „warum schreit unsere Mama sie nicht an? Unser Vati ist ja auch im Krieg gefallen!“ Es schien, als wolle sie anfangen zu weinen.
„Ach, ihr könnt das alles doch überhaupt nicht verstehen!“, Klara kehrte wieder mal die Überlegene heraus, „Wir haben den Krieg verloren.“
„Wir?!“, fragten Lore und ich ungläubig wie aus einem Munde.
„Ihr zwei dummen Ziegen doch nicht! Das deutsche Volk meinte ich. Nun wird es versklavt, hat unsere Mama gesagt. Das alles wäre nicht passiert“, jetzt flüsterte auch sie, „wenn der Führer nicht verraten worden wäre. Das hat Mama gesagt.“
Tante Rosie, Klaras und Lores Mutter, war Lehrerin, sie musste es schon wissen. Ich hatte so meine Zweifel, weil meine Mama ganz anders darüber sprach, wenn sie überhaupt in meiner Anwesenheit über solche Dinge redete. Dass es uns Deutschen aber schlimm ergehen würde, befürchtete sie auch.
„Hast du schon den Russenführer gesehen?“
Ich schreckte aus meinen Gedanken und sah Klara verdutzt an. Ach ja, natürlich! Die Russen müssen ja auch einen Führer haben, wie dumm von mir, das zu vergessen! Von diesem Führer hatte mir Mama erzählt, aber gesehen? Nein, ich hatte von ihm noch nie ein Bild gesehen.
Klara legte den Zeigefinger an die Lippen, ging auf Zehenspitzen zur Bretterwand und winkte mich zu sich heran. In der Wand waren breite Ritzen, durch die man in ein anderes Zimmer, offensichtlich die gute Stube, sehen konnte. In der Ecke sah ich Heiligenbilder hängen, darüber je ein bunt besticktes Handtuch mit Spitzenbesatz an beiden Enden.
„Von wegen Führer!“ Ich war froh, Klara endlich eins auswischen zu können. „Das da“, sagte ich triumphierend, „ist nicht der Russenführer, sondern der russische Gott mit der heiligen Jungfrau Maria!“
„Doch nicht die Bilder in der Ecke, du Trottel!“ Klara schien endgültig die Geduld zu verlieren, „das Bild daneben, neben dem Fenster! Du musst mehr nach rechts schauen!“
Tatsächlich, als ich meinen Kopf mehr nach rechts neigte, sah ich einen Mann mit einem Schnurrbart und buschigen Brauen, unter denen mich zwei gutmütig-listige Augen anlächelten. Das soll der russische Führer sein? Ein ganz netter Onkel?!
„Bist du denn ganz sicher?“, fragte ich ratlos zu Klara hinüber, „dass dies der Russenführer ist und nicht vielleicht der gefallene Mann eurer Wirtin?“
„Pah!“, meinte Klara schnippisch, „unsere Mama hat ihn uns gezeigt und gesagt, wir sollen uns dieses Gesicht gut einprägen, denn niemand, so hat sie gesagt, niemand auf der Welt hat den Deutschen in Russland so viel Leid angetan wie dieser, warte mal, Lore, wie hat Mama noch gesagt?, ach ja, wie dieser Tyrann!“
Ich drückte meine Nase noch einmal an die Bretterwand und sah durch den Spalt: Der Tyrann lächelte mir freundlich zu, ein gutmütiger Opa, fast wie ein wahrhaftiger Weihnachtsmann.
Nebenan giftete die „Hexe“.
„Wie ihr das bloß aushalten könnt“, sagte ich in die Stille und schlug vor, völlig unerwartet für mich selbst, zu unserer Tante Njura zu gehen.
Doch Klara und Lore hatten Angst, dass ihre Hauswirtin sie womöglich nicht mehr ins Haus lassen würde.
„Ach was, dann bleibt ihr eben bei uns, bis unsere Mütter von der Arbeit kommen. Wir können es uns auf dem Ofen gemütlich machen und vielleicht etwas spielen. Wenn ihr wüsstet, wie schön warm es da oben ist!“ Der Ofen gab den Ausschlag, und meine Freundinnen begannen sich in größter Eile anzuziehen. Als wir dann durch die Küche gingen, schrie uns die „Hexe“ an und zeigte auf die Pfützen auf dem Boden, die sich offensichtlich vom Schnee an meinen Schuhen gebildet hatten. Klara holte einen Lappen und wischte alles weg, dann flüchteten wir vor dem Geschrei der Wirtin nach draußen.
Doch da war es auch nicht viel stiller. Ganz plötzlich hatte sich das Wetter geändert, der wildgewordene Wind wirbelte den Schnee durch die Luft, warf ihn uns ins Gesicht, zerrte an unseren Kleidern. Am liebsten hätten wir kehrtgemacht, doch im Haus war die „Hexe“, und keine von uns wäre jetzt da wieder hineingegangen. Also arbeiteten wir uns vor, bemüht, nicht von dem festgetretenen Pfad abzukommen. Aber wohin? Im Schneesturm erkannte man kaum ein Haus, auch sahen sie sich alle jetzt zum Verwechseln ähnlich. Wer weiß, wie lange wir noch herumgeirrt wären, wenn wir nicht plötzlich Kostja, den ältesten Sohn unserer Wirtin, getroffen hätten. Als er uns ins Haus brachte, war der Ofen schon von den beiden anderen Jungs, Walja und Pawlik, besetzt. Tante Njura scheuchte die beiden auf den Hängeboden und bedeutete uns: Hinauf mit euch!
Da saßen wir nun, die Russenjungen auf dem Hängeboden und wir deutschen Mädchen auf dem Ofen, und starrten uns an. Wir hätten etwas spielen können, aber wie, wenn wir uns doch gar nicht verständigen konnten? Einen Ausweg fand Pawlik. Er nahm ein Lehrbuch in die Hand und sagte: „Kniga.“ „Buch!“, schrie unser Trio zurück. Das wundersame Spiel, mit dessen Hilfe wir dann im Laufe nur weniger Monate Russisch gelernt haben, begann. Unsere „Russischlehrer“, die ihre Hausaufgaben übrigens auf diesem Wunderofen erledigten, lernten zwar kein Deutsch, aber der kleine Dorfjunge Pawlik begeisterte uns mit seiner Erfindung. Wir hatten schon alle möglichen Dinge benannt, doch bei den Küchenschaben blieben wir dann stecken. Keine von uns wusste, wie diese ekligen Viehcher hießen. „Schön, dann erzählen wir Märchen“, Klara kannte viele Märchen und konnte sie spannend erzählen. Doch schon bei „Hänsel und Gretel“ mussten wir aufgeben. Unsere neuen Freunde hatten zu wenig Deutsch gelernt, um das Märchen zu verstehen. Auch Walja scheiterte mit seinem russischen Märchen, wir schüttelten nur traurig die Köpfe und verloren immer mehr das Interesse an der Erzählung.