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Auf Kriegsfuß mit den Geboten

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„Religion ist Opium für das Volk“, diesen von Karl Marx stammenden Spruch mussten wir uns in einer der Erziehungsstunden, die Anfang jeder Woche abgehalten wurden, gut einprägen. Denn Ljudmila Petrowna hatte beschlossen, gegen den „Glaubensdünkel“ mancher Schüler anzukämpfen. Schon früher staunte ich nicht wenig über das Verhältnis der russischen Kinder zu Gott. Zu Hause hatten sie Heiligenbilder in der guten Stube, vor denen immer ein Lämpchen brannte. Beim Eintreten schlugen sie davor ein Kreuz, noch bevor sie „Guten Tag“ sagten. Sie bekreuzigten sich vor jeder Mahlzeit, ja wenn sie gähnten, bekreuzigten manche schnell den Mund. In der Schule aber zuckten sie über uns nur bedauernd die Schultern, was in etwa heißen sollte: Ihr hoffnungslosen Narren!

Sie lachten uns aus: Wie kann man bloß an so einen Unsinn glauben und taten jede bohrende Frage mit dem Satz ab:

„Ach was, es ist schon längst wissenschaftlich bewiesen, dass das alles Märchen sind!“

Mit Entsetzen hörte ich solchen Ausführungen zu, sicher, ein Blitz würde die Frevler auf der Stelle treffen und in Asche verwandeln. Aber nichts geschah. Ich betete mehr als je zuvor. Dennoch wurden Samen des Zweifels in meine Seele gestreut. Die Wissenschaft, Ljudmila Petrowna und selbst mein Beschützer Karl Marx, das waren zu starke Gegner für meinen kleinen Glauben. Doch irgendwie imponierte mir diese Einstellung, und ich beschloss, meine Mutter ins Vertrauen zu ziehen. Was ich übrigens besser hätte lassen sollen. Nach einer gehörigen Abreibung bestimmte Mama:

„Du wirst jetzt jeden Tag etwas aus der Bibel lesen. Als erstes Pensum bekommst du aber die Zehn Gebote auf. Vielleicht bringen die dich auf andere Gedanken.“

Das taten sie, aber auf eine ganz andere Weise, als Mama sich das vorgestellt hatte.

Ich hatte nämlich schon in Deutschland die Gebote gelernt, so dass ich sie nur im Gedächtnis aufzufrischen brauchte und sehr viel Zeit zum Nachdenken hatte. Und je mehr ich mich mit dem Inhalt der Gebote beschäftigte, desto unruhiger wurde ich, denn bezogen auf uns und die ganze Welt, ergaben die Gebote ein vernichtendes Bild.

Bestürzt las ich die Gebote von oben nach unten, dann von unten nach oben, das Ergebnis blieb immer das gleiche: Kein, aber auch kein einziges Gebot gab es, gegen das man nicht verstieß!

Ich kam auf den Gedanken, schriftlich festzuhalten, wie es bei mir und Mama mit den Geboten aussah. Papier hatten wir keines, deshalb nahm ich einfach die Innenseite des Bibeldeckels, teilte sie in zwei Spalten, schrieb links alle Gebote auf und rechts oben malte ich in großen Buchstaben das Wort „WIR“.

Schon das erste Gebot „Du sollst keine anderen Götter haben“, machte mir zu schaffen. Ich schrieb in die Spalte rechts „Marx, Lenin, Stalin“, zögerte etwas und schrieb dazu: „Kommandant“. Zwar hatten wir diese Götter nicht freiwillig gewählt, aber Tatsache bleibt Tatsache: Wir mussten sie wenigstens zum Schein anbeten, und somit war es eine Sünde. Aber auch die anderen Gebote machten es mir nicht leichter.

Feiertage konnten und durften wir nicht heiligen, wir missbrauchten auch den Namen des Herrn, besonders ich. Es gab nur zwei Gebote, bei denen das Blatt rechts unbeschrieben blieb: „Du sollst nicht töten“ und „Du sollst nicht ehebrechen“.

Ganz kompliziert sah es mit den Geboten „Du sollst nicht lügen“ und „Du sollst nicht stehlen“ aus. Neben letzteres malte ich eine dicke „2“ und fügte schnell „ich“ hinzu, denn Mama hatte damit nichts zu tun. Ich aber hatte schon zweimal gestohlen: den Hafer bei Golubka und eine Runkelrübe im Viehstall.

Unerwartet gingen meine Gedanken in eine ganz andere Richtung. Erschüttert sah ich mir die Gebote noch einmal der Reihe nach an. Tatsächlich, nirgendwo gab es einen Hinweis, der es verbot, einfach zu bitten. Mama würde es selbstverständlich Betteln nennen, aber auch das war nicht verboten! Ich ließ die Bibel achtlos auf dem Tisch liegen und stürmte aus dem Haus. Mein Ziel waren die Kuh- und Pferdeställe, nur dass ich jetzt nicht stehlen ging, sondern zu dem Pferdeknecht Onkel Mitja, mit dem ich mich lange unterhielt und dann so ganz beiläufig fragte, ob er mir nicht ein bisschen Hafer geben könnte.

Er konnte. Die Taschen meines Mantels waren wie aufgeblasen, so viel hatte er hineingestopft. Das war ein guter Fang! Gut gelaunt trippelte ich dann noch zum Kuhstall, wo ich von den Melkerinnen zwei Zuckerrüben und eine Runkelrübe geschenkt bekam, die Kühe würden es nicht merken, lachten sie. Ich drückte meinen Reichtum fest an die Brust und lief nach Hause.

Der Anblick meiner Mutter am Tisch vor der offenen Bibel versprach nichts Gutes. Um sie zu besänftigen, legte ich die Rüben auf den Tisch und begann, den Hafer aus den Taschen zu kramen. Mama starrte mich entsetzt an:

„Woher hast du das? Scheinst dich beim Lernen der Gebote aber wirklich angestrengt zu haben!“

„Ja, das habe ich, aber nicht so, wie du meinst. Ich habe gar nichts gestohlen, sondern das alles geschenkt bekommen.“ Ich weinte vor Enttäuschung.

„Geschenkt? Einfach so, ohne weiteres?“ Sie sah mich zweifelnd an.

„Na ja, ich habe darum gebeten“, gab ich ungern zu, da ich wusste, dass Mama gleich wegen der Bettelei schimpfen würde.

„Gebettelt, wolltest du sagen?“

Ich hatte doch recht. Plötzlich wurde ich wütend:

„Sieh dir nur alle Gebote an, Mama. Gibt es vielleicht eines, das das Bitten verbietet?“

„Betteln“, berichtigte sie mich automatisch.

Wir beide wussten ganz genau, dass ich mich einfach herauszureden versuchte, aber beiden war auch klar, dass wir ohne diese „Bitt- oder Bettelgänge“, egal, wie man es nannte, einfach verhungern würden.

„Du machst das nie wieder“, Mama zeigte auf den beschriebenen Deckel der Bibel.

„Ja, Mama“, versprach ich erleichtert.

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