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Mit letzter Kraft

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Der Frühling war ebenso ungestüm wie der Winter. Kaum hatten sich die unzähligen Bäche wieder in kleine Rinnsale verwandelt, begann auf den Anhöhen und sonnigen Stellen das Gras zu grünen, und die Bäume bekamen fast über Nacht zartgrüne klebrige Blätter.

Auch das Dorf hatte sich verändert. Erst jetzt sah ich die im Winter unter dem Schnee verborgenen, aus dünnen Ästen kleiner Bäumchen geflochtenen Zäune um die Gemüsegärten vor den Katen. Hinter fast jedem Bauernhaus lagen ein Kartoffelfeld und eine Heuwiese für das Vieh, das die Bauern noch ihr eigen nennen durften. Kein Blumenbeet, kein Rasen, alles zweckgebunden, nüchtern, grau und heruntergekommen. Zu aller Trostlosigkeit hatten die Häuser noch ihre schönen weißen Mützen verloren. Stattdessen stachen alte graue Strohdächer ins Auge. Diese Trostlosigkeit wurde noch von dem Schlamm und Matsch auf den Straßen verstärkt und … durch den Hunger. Mein größtes Unglück war, dass zu dieser Zeit auch das Viehfutter knapp wurde und ich immer weniger von dem Pferdeknecht Onkel Mitja und den Melkerinnen „geschenkt“ bekam. Auf dem aufgetauten Kartoffelfeld war auch nicht mehr viel los. Man konnte von Glück reden, wenn man nach langem Suchen eine matschige verfaulte Kartoffel fand. Auch Kartoffelschalen, die uns die Bauern früher abtraten, waren nicht mehr leicht zu bekommen, denn sie wurden an die Kühe verfüttert.

Menschen starben wie die Fliegen. Unser Friedhof wurde immer größer, viel größer als das Dorf selbst. Wir schwänzten oft die Schule, weil wir den weiten Weg nach Dorofejewo nicht mehr schafften, und weder die Schule noch unsere Mütter nahmen uns das übel.

Wir saßen dann meist träge auf dem Erdaufwurf vor einem Bauernhaus in der warmen Frühlingssonne und schwiegen. Nur dann und wann fiel eine Bemerkung, die meist vom Essen handelte, bis dann jemand wütend „Klappe!“ schrie und wir uns verzankt in die Häuser und Baracken verkrochen.

Not macht erfinderisch. Sobald die ersten Brennnesseln zum Vorschein kamen, wurden in allen deutschen Familien Brennnesselsuppen, Brennnesselspinat, sogar Brennnesselpudding gekocht und Brennnesselfladen und Brennnesselbrot gebacken.

Schon sehr früh am Morgen gingen wir Kinder auf die „Jagd“, denn es gab mehr Anwärter auf etwas Essbares als Brennnesseln. Doch dann entdeckten wir an den Waldwegen ganze Brennnesselstauden. Gewappnet mit Persenningfäustlingen und Körben gingen wir in den Wald, wo es jetzt auch etwas zum Naschen gab: zarte, süßliche Stangen von Rentiermoos, die man geschält essen konnte, leckeren Sauerklee und, wenn wir Glück hatten, auch Sauerampfer. Vollgestopft mit diesem Grasfutter, stellten wir zu Hause unsere Körbe ab und liefen in die Schule. Sonderbar, aber der Magen vertrug diese Kost. Nur wenn wir zu viele „Kerzen“ von den jungen Fichten verdrückten, bekamen wir arge Bauchschmerzen. An einem solchen Frühlingstag kam Mama ganz aufgeräumt nach Hause:

„Wir bekommen jeden Monat einen Sonntag frei, damit wir auch zu Hause was machen können“, Mamas Augen glänzten, „und vielleicht wird uns die Kolchose ein Stückchen Land geben, wo wir Kartoffeln und Gemüse pflanzen können.“

Ich musste staunen:

„Wieso auch nicht? Wo doch ringsum soviel Land ist, das keinem gehört?“

„Das scheint nur so, das ganze Land hier gehört der Kolchose“, Mama hatte ihre liebe Not mit mir. „Nur sie hat darüber zu bestimmen, egal, ob das Land nun von der Kolchose bebaut wird oder brach liegen bleibt. Da ist eben nichts zu ändern“, fügte sie schon gereizt hinzu. Gott sei Dank sagte sie nicht wieder, ich würde ihr Löcher in den Bauch fragen. Ich hätte schon gern gewusst, warum die Kolchose ihr Land lieber unbestellt liegen lässt, als es uns zu geben. Aber ich hatte mich daran gewöhnt, dass die Erwachsenen auf jede Frage eine Antwort parat hatten, die oft nicht sehr einleuchtend war. Deshalb ließ ich die Fragerei.

„Morgen gehe ich nach Semjonowskoje.“ Erschrocken sah ich zu Mama hoch:

„Musst du wieder zum NKWD?“

„Nein, ich gehe auf den Markt.“

Hatte ich richtig gehört? Hatte sie „auf den Markt“ gesagt? Gibt es denn noch so was? Und womit will sie da einkaufen, falls überhaupt?

In meiner Verwirrung merkte ich nicht, dass ich all diese Gedanken nur gedacht, nicht aber ausgesprochen hatte. Mama holte ihre Kassette, die vereinsamt in unserem mittlerweile fast leeren Koffer lag, und entnahm ihr die dort aufbewahrten Schätze: eine goldene Uhr an einem dünnen Kettchen, zwei goldene Ringe mit funkelnden Steinen und eine Brosche. „So, damit gehe ich morgen einkaufen.“

Sie packte alles in ein Taschentuch und zog es mit einem Knoten zu.

„Aber Mama“, wandte ich entsetzt ein, „du sagtest doch, das alles habe dir Papa geschenkt?“

„Das stimmt auch, mein Kind!“ Mamas Gesicht, noch vor einigen Sekunden lebhaft und fast fröhlich, wirkte müde und abgespannt. „Es hat sowieso keinen Sinn mehr. Außerdem habe ich noch etwas von Papa, das mir niemand auf der Welt wegnehmen kann. Wir haben uns beim Abschied versprochen, jeden Abend zum Mond zu schauen und aneinander zu denken. Der Mond ist unser Vermittler.“ Dann sagte sie kein Wort mehr. Ich sah zum Fenster hinaus. Vielleicht sendete mein Papa gerade in diesem Augenblick Grüße an Mama und mich, an seine, wer weiß, wo in der Welt verstreute Familie. Vielleicht.

In den Fängen der Zeit

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