Читать книгу In den Fängen der Zeit - Nelli Kossko - Страница 30

Die Reichtümer der Wildnis

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„Aus den Federn, du Schlafmütze!“ Ich fuhr vor Schreck im Bett hoch und schaute verblüfft in Kostjas lachendes Gesicht.

„So ein Blödmann“, dachte ich verärgert, „was will denn der in aller Frühe von mir?“

Ich ließ mich faul in die Kissen zurückfallen.

„Aufstehen! Wir gehen angeln!“ Kostja ließ nicht locker und rüttelte mich an der Schulter.

„Kann nicht“, murmelte ich schlaftrunken, „muss Musja zur Herde treiben. Außerdem mag ich nicht angeln.“

„Pass auf!“ Kostja war keiner, der schnell aufgibt. „Meine Mutter wird dein Hornvieh …“

Er kam nicht weiter, denn nun war ich hellwach:

„Was hast du gesagt? Hornvieh?!“ Ich war gekränkt bis tief ins Herz, „selber ein Hornvieh!“ Kostja lenkte ein:

„Schon gut, meine Mutter wird deine wunderschöne Ziege versorgen, gut so? Nun komm doch endlich, sonst kommen wir zu spät, und dann beißen die Fische nicht mehr an, klärchen?“

„Nichts ist klärchen!“, ich war immer noch bockig, „ich kann doch überhaupt nicht angeln!“

„Kleinigkeit! Wie ich dich kenne, lernst du es im Handumdrehen! Nun komm doch endlich!“

Pawlik und Walja standen schon mit ihren Ruten fertig zum Aufbruch draußen. Ich bekam auch eine Rute. Kostja hatte sie selbst gebastelt, nur der Haken war gekauft.

Am Sinega angelangt, verteilte uns Kostja am Ufer entlang, zeigte mir, wie man Regenwürmer auf den Haken aufspießt, und blieb dann an meiner Seite.

So früh war ich noch nie im Wald gewesen und bereute es jetzt. Denn ich glaubte sehen zu können, wie alles um mich herum aus dem tiefen Schlaf erwachte. Bäume und Sträucher schienen sich den Schlaf aus den Zweigen zu schütteln, die Gräser und Feldblumen, vor Tau in der aufgehenden Sonne funkelnd, nickten mir ihren Morgengruß zu, vereinzelt und zögernd begannen die Vögel zu trillern, nur der Fluss schien noch tief zu schlafen. Dann und wann schnellte ein Fisch aus dem Wasser, Ringe zogen sich weit über die Oberfläche, und dann stand der Fluss wieder still.

„Ziehen!“, brüllte plötzlich Kostja und sah mich wütend an, „ziehen, habe ich gesagt, du Tollpatsch!“ Ich sah auf den Schwimmer meiner Angel, der wild zuckte und immer wieder unterging. Was sollte ich bloß tun? Und was hieß „ziehen“? Kostja riss mir die Rute aus den Händen.

„Willst du hier angeln oder träumen?“, herrschte er mich an, „du musst schneller ziehen, mit einem kräftigen Ruck, so!“

Die Angelschnur schnellte in die Höhe, dann zur Seite: Am Haken zappelte ein silbern glänzender Gründling.

„Kapiert?“ Kostja zeigte mir noch, wie man das Fischchen von dem Haken löst. „So und jetzt angelst du alleine, klärchen?“

Er nahm seine Rute, die Blechkanne für die Fische, teilte gerecht die Würmer in der Dose, nahm seine mit und verschwand hinter den Büschen am Ufer.

Ich war wütend. Na, dann eben nicht. Überzeugt, dass es mein erster und auch mein letzter Fisch gewesen war, warf ich noch einmal die Angel aus und stellte mich auf langweiliges Warten ein. Doch es kam anders. Die Fische mussten hungrig gewesen sein und bissen an wie verrückt. Ich hatte Mühe zurechtzukommen.

Anfangs taten mir die Fischlein richtig leid, wenn sie so verzweifelt am Haken zappelten, aber je mehr Gründlinge in mein Eimerchen wanderten, desto schneller änderte sich meine Einstellung. Ich dachte an das wunderbare Abendbrot, das ich für Mama und mich zubereiten würde – gebratene Fische, wer hätte das gedacht!

Es war noch immer wenig Essbares auf unserem Tisch, und an den Geschmack von Zucker, Butter oder Fleisch konnte ich mich gar nicht mehr erinnern. Dafür beschenkten uns im Sommer Wald, Felder und jetzt auch noch der Fluss großzügig mit ihren Gaben.

Es gab in den Wäldern eine Menge Pilze, die gebraten oder für den Winter eingelegt und getrocknet wurden. Erdbeeren und Himbeeren wurden gesammelt und auf Vorrat ebenfalls getrocknet. Wir hatten Milch und die ersten jungen Kartoffeln im Garten. Als ich noch, wieder von Kostja, gelernt hatte, wie man Schlingen legt, „erbeutete“ ich sogar ein Rebhuhn! Schade nur, dass Mama das Fleisch in ganz kleine Portionen einteilte, ich konnte nicht einmal das Fleisch richtig schmecken. Die wenigen Stunden, die wir zum Spielen hatten, nutzten wir voll aus. Nur wurden unsere Spiele aus den Stuben und von der Straße in eine leere Scheune am Waldrand verlegt. Egal was wir spielten, der wichtigste Bestandteil blieb dabei das Essen. Vor der Scheune brannte unser Lagerfeuer, in dessen Asche die von den Kolchosfeldern geklauten („ausgeborgten“, wie Kostja mich jedes Mal berichtigte) Kartoffeln gebacken und dann mit verschmutzter Kruste verschlungen wurden.

An einer Holzstange über dem Feuer hing ein Topf, in dem alle Gaben von Wald und Fluss zubereitet wurden. Als dann noch auf den Kolchosefeldern das Korn zu reifen begann, wurde auch unser Menü reichhaltiger: Jetzt kochten wir auch die berühmte russische Kascha, eine Grütze.

Mama gefiel es gar nicht, dass ich so herumstreunte, sie sprach immer öfter davon, dass ich total „verrusst“ sei und dass dies ihr großen Kummer bereite. Sie hatte schon damals die Gefahr unserer „Russifizierung“ erkannt, vermochte ihr jedoch wenig entgegenzusetzen, unaufhaltsam nahm die Entwicklung ihren Lauf. Doch eines Tages bekamen unsere Mütter in ihrem Bestreben, uns als deutsche Kinder zu erziehen, Unterstützung von ganz unerwarteter Seite, nämlich von den Russen selbst! Da soll einer klug daraus werden: Mal feinden sich die Erwachsenen an, und dann sind sie in gewissen Dingen, wenn auch ungewollt, wieder Verbündete!

„Kino, morgen kommt das Kino!“

Eine Schar Knirpse, einer kleiner als der andere, raste in Windeseile durch das Dorf. Konnte das überhaupt wahr sein? In unser Dorf, wo es weder Strom noch Radio gab, wo man selten eine Zeitung bekam, sollte das Kino kommen?

Ich war in Russland noch nie in einem Kino gewesen.

Als ein Steppke an mir vorbeisausen wollte, packte ich ihn am Hemd:

„Woher willst du das denn wissen?“

„Lass mich los, du blöde Ziege!“, er zerrte am Hemd und versuchte sich zu befreien.

„Entweder du sagst es mir auf der Stelle, oder …“

„Am Klub ist ein Aushang und auch an unserer Baracke!“

Er fiel fast hin, als ich ihn abrupt losließ, streckte mir die Zunge heraus und rannte seinen Freunden nach.

Der Steppke hatte nicht gelogen: Am Dorfklub hing eine Annonce, die für den nächsten Tag um 18 Uhr den Film „Sie verteidigten ihre Heimat“ ankündigte. Eintritt: 2 Rubel.

„Zwei Rubel?! Wo soll ich bloß diese Unmenge Geld auftreiben?!“ Ich las den Anschlag, überlegte, las ihn wieder, doch eine Lösung wollte mir nicht einfallen.

Die Neuigkeit vom Kino wühlte das Kindervolk auf. Jeder wollte hin, keiner wollte sich das Wunder entgehen lassen. Doch für die meisten war, wie für mich, das Eintrittsgeld ein unüberwindbares Problem.

Mit Ungeduld wartete ich auf die Rückkehr meiner Mutter und darauf, was sie wohl dazu sagen würde.

Am Abend sagte Mama nur, ein Film sei schon eine interessante Sache, ging zum Bett, wo unter dem Strohsack in eine Zeitung eingewickelt unsere klägliche Barschaft aufbewahrt wurde, zog zwei Rubel heraus und gab sie mir. Vor lauter Aufregung konnte ich in dieser Nacht nicht schlafen. Am nächsten Tag wollte nichts klappen. Die Fische bissen nicht an, die Pilze und die Beeren schienen vom Erdboden verschwunden zu sein, Musja war beim Melken unerträglich, oder war ich es vielleicht? Jedenfalls ging alles schief, und der Tag wollte und wollte nicht enden.

Zwei Stunden vor der Filmvorführung belagerten wir schon den kleinen Dorfklub, an dessen Tür ein großes Scheunenschloss hing. Wir hatten längst alle Vermutungen darüber ausgetauscht, wie wohl ein Film zustande käme und was das eigentlich überhaupt wäre. Vermutungen wurden geäußert, eine abenteuerlicher als die andere, doch nichts geschah. Auch um 18 Uhr war der Klub immer noch geschlossen.

Gegen 19 Uhr, als wir enttäuscht aufbrechen wollten und unserer Empörung freien Lauf ließen, brüllte Klara plötzlich:

„Ruhe! Hört mal, da ist ein Brummen!“ Angestrengt horchten wir in die Stille.

Tatsächlich, es schien irgendwo ein Motor zu brummen.

„Das Auto mit dem Kino!“, brüllte die Kinderschar und lief dem Motorengeräusch entgegen. Eine riesige Staubwolke tauchte in der Ferne auf, kam immer näher und näher, und schon raste ein kleiner Lastwagen an uns vorbei, ein echter, dunkelgrüner Lastwagen! Wir rannten ihm hinterher. Mit einem Ruck blieb der Lastwagen vor dem Klub stehen.

„Na, ihr Spatzen, habt es kaum erwarten können, was?“, ein breitschultriger Mann sprang vom Trittbrett und fragte, ob ihm jemand einen Napf Wasser bringen könnte. Können, das schon, aber wollen? Nein, keiner von uns wollte gerade jetzt, wo der Lastwagen zu inspizieren war und womöglich noch der Film ohne ihn anfangen würde, nach Hause laufen! Man könnte doch das Interessanteste verpassen!

„Wenn wir den Mann reizen, fährt er vielleicht noch weg, ohne uns den Film zu zeigen“, schoss es mir durch den Kopf. Ich lief schnell nach Hause, tauchte die Zinnkanne in den Eimer, ließ sie volllaufen und lief zurück.

Das Wasser schwappte und hinterließ hässliche schmutzige Flecken auf meinen verstaubten bloßen Füßen. Ich reichte dem Mann die Kanne und bemerkte erst jetzt das außerirdische Wesen, das gerade von den Dorfkindern stumm begafft wurde: Am Laster stand ein dreizehn- bis vierzehnjähriges Mädchen in geblümtem Seidenkleid mit blondem Haar, dessen Locken mit einer knallroten Schleife im Nacken gebunden waren. Sogar Schuhe und Socken hatte sie an! Unwillkürlich schaute ich auf meine rauen, mit Staub und Wasser bekleckerten Füße, auf meinen verwaschenen und verschlissenen Leinenrock und versteckte mich eiligst hinter den anderen Kindern, die bald betreten zu Boden schauten, bald aufs Neue das Mädchen anstarrten. Wir konnten dem Anblick dieser Schönheit einfach nicht widerstehen.

Sie tat ihrerseits, als wären wir Luft, zupfte an ihrem schicken Kleid herum, sprach mit dem Kinomann, sah sich mit gerümpfter Nase Häuser und Straße an und würdigte schließlich auch uns eines Blickes.

Der Kinomann schien unsere Verlegenheit begriffen zu haben.

„Na, was ist denn? Gleich geht‘s los! Das hier“, er zeigte auf das Mädchen, „ist Soika, meine Nichte aus Kostroma. Sie verbringt ihre Ferien bei uns in Dorofejewo.“

Ich sah Kostja auf das Mädchen zugehen, er sagte ihr etwas. Soika zog die Brauen in die Höhe, und dann lachten sie beide. Dieses Lachen gab mir einen Stich, aus irgendeinem, mir unbewussten Grunde, war ich furchtbar böse auf Kostja.

Doch die Ankunft der Klubleiterin ließ mich alles wieder vergessen. Wir trugen die Blechbüchsen mit Filmrollen in den Klub und der Vorführer eine Menge rätselhafter Geräte, die er am Ende des Raumes aufbaute. Zuletzt wurde die Leinwand aufgehängt, und das atemberaubende Abenteuer konnte beginnen. Doch es kam ganz anders …

In den Fängen der Zeit

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