Читать книгу In den Fängen der Zeit - Nelli Kossko - Страница 29
Die „Liebste“
ОглавлениеNach den vielen Schicksalsschlägen wurden uns auch einige freudige Ereignisse zuteil.
Eines Abends kam Babuschka Ewdokija zu uns, ein altes Mütterchen, das eigentlich von allen nur „Liebste“ genannt wurde. Diesen Spitznamen verdankte sie zum Teil ihrer über alles gehenden Güte, zum Teil aber der Tatsache, dass sie ausnahmslos alle mit „Liebste“ beziehungsweise „Liebster“ ansprach.
„Liebste“, begann sie auch diesmal das Gespräch, nachdem sie sich vor den Heiligenbildern bekreuzigt und ihr Gebet geflüstert hatte, „die Sache ist die, Liebste,“ sie kam nicht weiter, weil ich losprusten musste. Auch die „Liebste“ lächelte, und unzählige winzige Fältchen zogen sich um ihre Augen zusammen, die alle Gutmütigkeit der Welt ausstrahlten. Sie wusste über ihren Spitznamen Bescheid und war nicht böse. Scherzhaft drohte sie mir mit dem krummen, von jahrelanger schwerer Arbeit verunstalteten Zeigefinger.
„Weißt du, Liebste“, wandte sie sich erneut an Mama und sah mich dabei warnend an, „ich bin alt geworden und zu nichts mehr gut, nicht mal meine Kuh kann ich mehr melken.“
Babuschka Ewdokija streckte ihre krummen, sehnigen Finger vor.
„Ich dachte mir, ich fahre zu meinem Sohn in die Stadt, da wird es wenigstens jemanden geben, der nach mir sehen könnte in den letzten Tagen, die ich noch zu leben habe. Allein ist es so einsam.“
Sie hielt inne und schwieg einen Augenblick. Wir konnten noch immer nicht verstehen, worauf die „Liebste“ eigentlich hinauswollte. Sie aber fuhr bedächtig fort:
„Mein Häuschen hier möchte ich aber nicht verkommen lassen.“ Sie war jetzt ganz traurig und flüsterte nur noch:
„Wenn die Fenster mit Brettern zugenagelt werden, dann ist es wie Nägel in meinen eigenen Sarg. Da dachte ich, dass vielleicht du mit der frechen Göre da“, sie drohte mir wieder mit dem Finger, „dass ihr in mein Häuschen …“
Wir begannen zu verstehen, wagten aber nicht, an so viel Glück auf einmal zu glauben.
„Ich dachte also, du könntest auf mein Häuschen aufpassen, solange ich weg bin, und es wäre für uns beide gut.“ Fragend sah die „Liebste“ Mama an. Mama rührte sich nicht und sagte auch nichts. Babuschka Ewdokija war nahe daran, ihr Schweigen falsch zu verstehen, da fiel ich ihr schon um den Hals und küsste das welke, runzlige kleine Gesichtchen ab.
Es ging alles sehr schnell. Babuschka Ewdokija verkaufte Kuh und Schafe und packte dann ihre Siebensachen. Auf ein großes Tuch legte sie ihre Wäsche zum Wechseln und die Winterkleidung, schnürte alles zu einem Bündel zusammen, verstaute in dem anderen Bündel Kissen und Decken, und zog ihre Sonntagskleider an.
Bald kam der Pferdeknecht Onkel Mitja, der die „Liebste“ die fünfzig Kilometer bis zur Bahn fahren sollte. Babuschka Ewdokija sagte leise:
„Setzen wir uns vor der Reise kurz hin.“
Wir setzten uns und blieben ein Weilchen sitzen, wie es bei diesem alten russischen Brauch üblich ist. Danach stand die „Liebste“ auf, schlug vor den Heiligenbildern das Kreuz, sah sich in der Stube um, als wollte sie sich alles fest einprägen, und ging schnell hinaus, wo Onkel Mitja schon ungeduldig wartete. Wir winkten noch lange dem Wagen nach, bis die zusammengeschrumpfte Gestalt der gütigen Greisin nicht mehr zu sehen war. Dann gingen wir in unser neues Heim.
Eine Zeit härtester Arbeit begann. Wir durften Babuschka Ewdokijas Gemüse- und Kartoffelgarten unter der Bedingung benutzen, dass dafür hundert Tagewerke in der Kolchose abgeleistet wurden. Es wäre alles nicht so schlimm gewesen, wenn Mama wenigstens an den Ruhetagen zu Hause hätte sein können, aber mit dem einen freien Tag im Monat, der genehmigt worden war, konnte sie nicht viel anfangen. Also musste ich zusehen, dass ich allein mit der Arbeit fertig wurde.
Als erstes musste der Gemüse- und Kartoffelgarten umgegraben werden, insgesamt waren es etwa 900 Quadratmeter. Es ging sehr langsam voran, und schon am ersten Tag hatte ich blutige Schwielen an beiden Händen. Ich verband sie mit Lappen, und es ging weiter, es musste einfach weitergehen. Abends, wenn Mama von der Arbeit kam, half sie mir. Dann zerklopfte ich die Schollen und harkte den Boden. Mehr als eine Woche haben wir gebraucht, ehe der Garten zum Bestellen vorbereitet war.
Dann wurden Kartoffeln gesetzt, Radieschen, Gurken, Möhren ausgesät, Zwiebeln und Weißkohlsetzlinge gepflanzt. Und fast alles stammte aus dem Wundersack, den Mama aus Semjonowskoje mitgebracht hatte! Wir waren überglücklich: Nun hatten wir ein Dach über dem Kopf, ich meinen geliebten russischen Ofen ganz für mich allein, Musja einen warmen Stall, vor und hinter dem Haus lag das von uns bebaute kleine Stückchen Land, das uns im Winter das Leben retten sollte.
Zuerst musste dafür allerdings viel getan werden. Das Hacken und Jäten war nichts im Vergleich mit dem Gießen, denn täglich mussten zwanzig bis dreißig Eimer Wasser in eine große Tonne im Garten getragen werden. Im Dorf gab es keinen Brunnen, und man musste das Wasser vom Fluss Sinega, etwa anderthalb Kilometer entfernt, holen. Mir brannten jedes Mal die Schultern, wenn ich mein Pensum erfüllt hatte, aber nach einer Gewöhnungsphase ging es immer besser. Mit der Zeit bildete sich auf meinen Schultern eine Art Hornhaut von dem Tragejoch. Nur müde wurde ich nach getaner Arbeit, sehr müde. Wasserholen erledigte ich immer am frühen Morgen, nachdem ich Musja dem Dorfhirten anvertraut hatte, der, seine Viehglocke schwenkend, zwischen fünf und halb sechs durch das Dorf ging. Sobald er an einem Haus vorbeikam, trieben die Bauern ihre Kühe, Schafe und Kälber zur Herde. Der Hirt knallte ab und an mit seiner Peitsche, das Viehvolk gehorchte und ging langsam durch das Dorf, hinaus in die Felder und Wälder. Nur die Ziegen mit ihrer Hinterlist wagten immer wieder einen Sprung in die Gemüsegärten. Sie grasten alles ab, was nicht gut genug vor ihnen gesichert war, und genossen deshalb einen schlechten Ruf auf dem Lande.
Danach war es noch eine Weile ganz still im Dorf. Dann aber ging’s los: Alle, die sich bewegen konnten, Kinder, Frauen und die paar Männer, machten sich an die tägliche Arbeit. Mein Pensum war groß: Brennnesseln pflücken, mindestens zwei Körbe zartrosa Kleeblüten sammeln, die in der Sonne getrocknet und dann zu Pulver zerrieben statt Mehl beim ‚Brotbacken’ verwendet wurden, zwei bis drei Bündel Birken- und Espenzweige für den Winter für Musja holen und sie auf dem Dachboden zum Trocknen aufhängen, zu Mittag Musja melken, und zum Abendbrot musste auch noch etwas gekocht werden. Außerdem war ich sehr darauf bedacht, die Arbeit so einzuteilen, dass immer noch ein bisschen Zeit zum Spielen übrig blieb.
Es wurde allerdings auch immer sehr spät, bis ich dazu kam, denn gegen Abend ging ich weiteren Pflichten nach. Jetzt musste das Gemüse gegossen und die Ziege in den Stall gebracht werden. Dabei musste ich höllisch aufpassen, dass sie nicht durch Gemüse- und Kartoffelgärten streunte, denn dann gab’s Ärger.
So durften wir an den Abenden etwas länger draußen bleiben. Dann saßen wir, wie die Spatzen, auf den Holzstangen der Zäune und sahen neidisch den Jugendlichen zu, die Jurka, dem Ziehharmonikaspieler, in einer Schar folgten und Tschastuschki, kleine Liedchen zu einer bestimmten Melodie, sangen. Manchmal wagten wir, ihnen in weitem Abstand zu folgen, wurden aber meistens verjagt, so dass wir nur aus sicherer Entfernung ihrem Tanz auf der Wiese zusehen konnten. Aber auch das war uns nur selten gegönnt. Kaum begann der Tanz so richtig interessant zu werden, da wurden auch schon Fenster aufgerissen, und die Rufe „Tanja“, „Walja“ oder „Sepp“, „Karlusch“ und so weiter hörten nicht auf, bis wir unzufrieden nach Hause trotteten, um uns in einem kurzen, traumlosen Schlaf zu erholen.