Читать книгу Tödliche Trance - Nick Bukowski - Страница 10

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Unsanft riss ihn ein schriller Geräusch-Potpourri aus seinem tiefen Traum. Tick, tack, tick, tack, brrrrrrrrr … Was ist das, wo bin ich? Gerade so, als wäre es von seinen eigenen Klängen selbst erschrocken, vibrierte das Mobiltelefon in spastischen Zuckungen auf dem Nachttisch vor sich hin, was um diese verschlafene Zeit nichts Gutes verheißen konnte. Wie in Trance tastete seine Hand nach dem fiesen, kleinen Ungeheuer, während sich die Lautstärke der Glockenschläge wie von Geisterhand ins Unermessliche zu steigern schien. Welcher Teufel hatte ihn nur geritten, dieses gellende Time-Intro als Klingelton auszuwählen? Gelegentlich mochte dies ja durchaus ziemlich cool wirken, zu solch früher Morgenstunde allerdings nervte sogar Pink Floyd.

Seitdem er seine Frau vor gut zwei Jahren durch einen tragischen Autounfall verloren hatte, lebte Sebastian Treblow allein mit seiner bald vierzehnjährigen Tochter Melanie in dieser weitläufigen, für zwei Personen eigentlich viel zu großen Eigentumswohnung im Hansaviertel, einer sehr beliebten Wohngegend unweit der Rostocker Innenstadt. Auch den nahegelegenen Barnstorfer Wald mit dem Zoo konnte man von hier aus bequem erreichen. Als die Familie noch vollständig war, hatten sie dort vor allem an den Wochenenden viele schöne gemeinsame Stunden verbracht. Im Arbeitszimmer stapelten sich massenhaft Fotoalben und Videoaufnahmen als stumme Zeugen jener glücklichen Tage. Immer wenn die Trauer mal wieder gar zu heftig an die Tür zu seiner Seele klopfte, halfen ihm diese Erinnerungsstücke ein wenig über seinen Schmerz hinweg. Oft saß er dann bis spätabends mit Tränen in den Augen zwischen den bildhaften Relikten seiner einstigen großen Liebe. Und dann folgte wieder mal eine dieser nicht enden wollenden schlaflosen Nächte, in denen er sich bis zum Morgengrauen von einer Seite auf die andere wälzte und seine Hand nach der anderen Betthälfte griff, um dort nur eines zu spüren: eine kalte Leere, die sich anfühlte wie ein abgetrenntes Körperglied. Manchmal schien es, als hätte er sie gerade gestern erst verloren.

Während seiner jugendlichen Sturm- und Drangzeit war er ein wahrhaftiger Weiberheld gewesen. Meist genügte ein müdes Fingerschnippen, und die heißesten Bräute lagen ihm zu Füßen und bald schon in seinem Bett. Bis zu jenem Tag, an dem Jana seinen Weg kreuzte. Mit ihren langen, rotblonden Haaren, den leuchtend blauen Augen und ihrer Wahnsinnsfigur sah sie unverschämt gut aus und sollte sein Leben ein für alle Mal verändern. Sie war ihm auf der Geburtstagsparty eines Freundes begegnet und hatte – wie konnte es anders sein – im Handumdrehen seine männlichen Instinkte geweckt. Schnell hatte er sie als Opfer für die kommende Nacht auserkoren und genau so hemmungslos wie selbstgefällig angebaggert. Aber sie hatte ihn eiskalt abblitzen lassen, damit jedoch erst recht seinen Jagdtrieb geweckt. Sie war die erste Frau gewesen, um die er richtig kämpfen musste. Und wenn er ehrlich zu sich selbst war, war sie auch die erste, die er wirklich mit jeder Faser seines Herzens liebte und nicht nur körperlich begehrte. Am 7.7.1997, einem witterungsmäßig eher durchwachsenen Sommertag, gaben sie sich das berühmte Versprechen, in guten wie in schlechten Zeiten füreinander da zu sein, bis dass der Tod euch scheide, ohne zu ahnen, dass dieser sein unheilvolles Werk weit früher als erwartet auf so grausame Weise vollenden würde. Dennoch hatten sie ihre gemeinsame Zeit mit größter Intensität gelebt. Schon kurz nach ihrer Heirat waren sie nach Rostock gezogen und hatten sich hier von Anfang an wohl gefühlt. Für Sebastian war der Wechsel in den Osten mit einem gewaltigen Sprung in seiner beruflichen Karriere verbunden, auf den er ansonsten noch viele Jahre oder womöglich gar bis in alle Ewigkeit vergebens hätte warten müssen. Nicht wenige seiner neuen Kollegen hatten ihre Polizeilaufbahn in der einstigen DDR begonnen, sodass ihre damit oftmals beinahe zwangsläufig verbundene politische Vergangenheit irgendwann einem weiteren Aufstieg auf dem Boden der Demokratie nach westlichem Verständnis entgegenstand. Dementsprechend war der Eindringling von drüben hier zwar nicht gerade mit offenen Armen aufgenommen worden, hatte sich aber vor allem aufgrund seiner außergewöhnlichen kriminalistischen Kombinationsgabe schon bald Achtung und Respekt erworben. Selbst in schwierigsten Situationen blieb er hochkonzentriert und immer auf das Wesentliche fokussiert und erwies sich bereits nach kurzer Zeit als echter Gewinn für sein neues Team. Da auch Jana einen gutbezahlten Job in einem Pharmaunternehmen bekleidete, konnten sie sich so manchen Traum erfüllen: zwei schnittige Mittelklassewagen, unvergessene Reisen in ferne Länder und nicht zuletzt diese geräumige, stilvoll möblierte Maisonettenwohnung mit einem fantastischen Panoramablick über die Stadt. Mit der Geburt von Melanie vor inzwischen fast vierzehn Jahren schien ihr Glück vollkommen. Inzwischen war sie zu einem ausgesprochen hübschen Teenager herangereift, der sich mit unübersehbar großen Schritten langsam aber sicher zu einer attraktiven jungen Frau entwickelte. Schon seit geraumer Zeit drehten sich die Männer immer häufiger nach dem hochgewachsenen, schlanken Mädchen mit seinen langen, leicht rötlichen Haaren und den sinnlichen blauen Augen um. Ihr und vor allem ihrem Vater waren diese Blicke auf die Dauer natürlich nicht verborgen geblieben, und es war wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis die Jungs bei ihr Schlange stehen würden. Anders als die frühreife Julia aus ihrer Klasse hatte sie allerdings mit dem anderen Geschlecht bisher nicht allzu viel am Hut gehabt. Wenn da nicht dieser große Blonde gewesen wäre, Nils aus der Neunten, der bei Hansa in der B-Jugend trainierte. Schon ein paarmal hatte er sie auf dem Schulhof angelächelt, doch sie war seinen Blicken stets mit puterrotem Gesicht ausgewichen. Eigentlich fand sie ihn ja ganz süß, und immerhin hatte sie begonnen, sich für Fußball zu interessieren, was ihr ohne ihn vermutlich niemals in den Sinn gekommen wäre. Den frühen Verlust ihrer Mutter schien sie – so wirkte es zumindest nach außen hin – ziemlich gut weggesteckt zu haben. Freilich konnte niemand wissen, wie es in den Hinterzimmern ihrer Seele aussah. Schließlich war ihr die wichtigste Bezugsperson von einem Tag auf den anderen auf tragische Weise abhanden gekommen, was gerade für ein Mädchen in der Pubertät, jener unberechenbaren Phase zwischen körperlicher Wandlung und seelischer Aufbruchsstimmung, ein besonders schwerwiegender Verlust sein mochte.

Treblow brauchte eine Weile, um sich zu sammeln und einigermaßen zu verarbeiten, was die Stimme am anderen Ende der Leitung scheinbar ungerührt in wenigen sachlich nüchternen Worten von sich gegeben hatte: eine Frauenleiche, stark verstümmelt, entdeckt von einer Joggerin im Küstenwald. Trotz seiner Müdigkeit war ihm schlagartig klar, dass ihn der Beamte vom Kriminaldauerdienst, KDD, soeben zum Schauplatz eines Verbrechens von außergewöhnlicher Brutalität gerufen hatte. Pflichtgemäß informierte er umgehend die diensthabende Staatsanwältin, die Spurensicherung sowie die Bereitschaft des rechtsmedizinischen Instituts, ehe er die Nummer seiner Kollegin wählte, um auch diese zum Fundort zu beordern.

Elin Tarhan, eine athletische Brünette mit türkischen Wurzeln, bevorzugte sportlich legere Kleidung und legte wenig Wert auf Makeup, welches ihr hübsches Gesicht eigentlich auch gar nicht nötig hatte. Ihre Haare trug sie ziemlich kurz, weil ihr dies in ihrem Job einfach als das Praktischste erschien. Bereits als kleines Mädchen war sie mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen und im damals noch eingemauerten Westteil Berlins aufgewachsen. Schnell war sie in ihrer neuen Umgebung heimisch geworden, sodass sich jegliche Debatte über Integration bei ihr von vornherein erübrigte. In der Schule hatte sie von Anfang an zu den Besten gehört und schließlich ein Eins-Komma-Sechser-Abitur gebaut. Dem Ruf einer inzwischen längst verödeten Liebe folgend, war sie gleich nach ihrem Studium an die Ostsee gezogen und hatte zunächst eine Zeitlang beim Kriminalkommissariat Wismar ihren Dienst versehen. Vor gut fünf Jahren war sie dann schließlich zu Treblows Team gestoßen und seither aus diesem nicht mehr wegzudenken. Wie kaum ein anderer, vermochte sie sich in die Psyche vermeintlicher Täter hineinzuversetzen und hatte damit schon so mancher zwischenzeitlich ins Stocken geratenen Ermittlung völlig neue Impulse verliehen. Sebastian schätzte Elin nicht nur als Kollegin, sondern vor allem auch als Mensch. Wann immer es Probleme gab, auf sie konnte er immer zählen. Gerade nach dem Tod seiner Frau hatte sie ihm beigestanden und sich als einer der wenigen wirklichen Freunde erwiesen. Dabei glich ihr eigenes Privatleben einer Achterbahn. Seit zwei, drei Jahren – ganz genau wusste sie das wohl selber kaum – lebte sie bereits von Martin, ihrem einstigen Lebensgefährten, getrennt. Allerdings war es ihr anscheinend unmöglich, ihn endgültig loszulassen. Phasen abgrundtiefster Abneigung, in denen sie ihn am liebsten sonst wohin verfluchte, wechselten regelmäßig mit unvermittelten, heftigen Liebescomebacks, welche üblicherweise zwar intensiv, jedoch meist nur von kurzer Dauer waren. Liebe und Hass wechselten zwischen den beiden wie Ebbe und Flut. Denis, ihr mittlerweile fünfzehnjähriger Sohn, mochte – wie es sich für einen pubertierenden Teenager gehört – den On-/Off-Mann im Leben seiner Mutter nicht sonderlich und gab sich wenig Mühe, seine Abneigung gegen ihn auch nur ansatzweise zu verbergen. Stattdessen hatte er seine Mutter in letzter Zeit immer häufiger mit Fragen nach seinem leiblichen Vater gelöchert, ohne ihr allerdings allzu viel über diese offenbar höchst unangenehme Episode ihrer Vergangenheit entlocken zu können. Infolge eines One-Night-Stands war sie bereits kurz nach dem Abi Mutter geworden und hatte ihre letzten Prüfungen mit einem scheinbar zum Platzen aufgeblähten Bauch absolviert, aber über den Erzeuger ihres Kindes nie ein Sterbenswort verloren. Der dunkle Teint und vor allem das leicht gekräuselte schwarze Haar des Jungen ließen diesbezüglich allerdings durchaus gewisse Spekulationen zu. Für Sebastian waren solche Dinge jedoch völlig uninteressant. Er achtete Elin als loyale Kollegin, schätzte sie als enge Vertraute und war in höchstem Maße dankbar für ihre aufrichtige Freundschaft. Welche Rolle spielte es da schon, welche ihrer Jugendsünden der Vater von Denis war.

Leiche – Küstenwald – Frau – entstellt – Joggerin ... – wie giftige Pfeile bohrten sich die Vokabeln ungeordnet und periodisch wiederkehrend in Treblows Gehirn, als er den Wagen anließ, welcher nur Sekunden später nahezu vollständig in seiner eigenen Abgaswolke zu verschwinden drohte. Die Straßen wirkten noch immer verschlafen und es herrschte kaum Verkehr. Eigentlich ein viel zu schöner Morgen, um einem Mord nachzugehen!, ging es ihm durch den Kopf. Wie Krebsgeschwüre zogen nacheinander die mittlerweile ganz schön in die Jahre gekommenen Satellitenstädte entlang der B 103 an ihm vorüber. Schon baute sich in der Ferne die Silhouette Warnemündes vor der Windschutzscheibe seines Wagens auf. Von weitem erfassten seine noch immer etwas verschlafenen Augen die weithin sichtbaren Umrisse des Neptun-Hotels sowie die leuchtend weiße Kugel auf dem Dach des Wetterturmes, in dem seit ein paar Jahren eine Jugendherberge residierte und in dessen Nähe sich vermutlich der Drehort eines fürchterlichen Verbrechens befand, zu dem man ihn vor einer knappen halben Stunde gerufen hatte. Fucking Perfect, dudelte es aus dem Autoradio, ohne dass Sebastian die Musik wirklich wahrnahm. Zu sehr kreisten seine Gedanken bereits vorab, um den gewiss nicht gerade appetitlichen Fund, der ihn in wenigen Minuten im nahegelegenen Küstenwald erwarten würde. Beinahe wie ein seelenloser Roboter trat er das Gaspedal viel zu weit durch und registrierte nicht einmal den Blitzer nahe der Abfahrt Lichtenhagen, jenen unbestechlichen Zeugen seiner geistesabwesenden Raserei. Bald schon waren es nur noch ein paar hundert Meter bis zu einem Ziel, von dem er sich schon wenig später wünschen würde, es nie erreicht zu haben.

Der Kollege vom KDD, der ihn telefonisch über die grausige Entdeckung der morgendlichen Joggerin informiert hatte, erwartete ihn bereits, begrüßte ihn mit einem festen Händedruck, nannte seinen Namen und wiederholte die wichtigsten Eckdaten über den schrecklichen Fund nochmals im Telegrammstil. Sebastian nahm die schauderhaften Details beinah regungslos zur Kenntnis und quittierte sie, abgesehen von ein paar kurzen Zwischenfragen, mit einem gelegentlichen stummen Nicken. Elin, die wenige Augenblicke zuvor eingetroffen war, stand mit versteinerter Miene etwas abseits und hatte offenbar mit sich selbst zu tun. Die Kollegen von der Spurensicherung, wie der Erkennungsdienst im allgemeinen Sprachgebrauch zumeist genannt wird, wuselten scheinbar planlos wie die Ameisen durch die Gegend, aber sicher wusste jeder einzelne von ihnen ganz genau, worin in solch einer Situation seine Aufgabe bestand. Hin und wieder ließen die Polizeifotografen die Blitze ihrer hochauflösenden Kameras aufflackern, um die furchtbaren Bilder unwiderruflich für die noch anzulegende Ermittlungsakte festzuhalten, und tauchten die Szenerie für Bruchteile von Sekunden in ein gleißendes Licht. Mittlerweile war auch Henriette Dörfel, die bereitschafthabende Staatsanwältin, eingetroffen. Sie mochte Mitte/Ende dreißig sein, sah aber deutlich jünger aus und war eine wahrhaft bildhübsche Erscheinung. Aufgrund der weichen Gesichtszüge, einer Körpergröße von gerademal einem Meter sechzig und ihrer äußerst schlanken Gestalt wirkte sie keinesfalls wie jemand, dessen Job darin bestand, Verbrecher hinter Schloss und Riegel zu bringen. Mit ihren langen, leicht gewellten, weizenblonden Haaren, die akkurat zu einem langen Zopf geflochten waren, und ihrem zarten Stimmchen hätte sie viel besser in jede Inga-Lindström-Romanze gepasst. Geduldig lauschte sie den Ausführungen der Beamten über den bisherigen Sachstand und bat sodann höflich aber bestimmend, über wichtige neue Entwicklungen kurzfristig informiert zu werden. Schließlich ließ sie es sich nicht nehmen, höchstpersönlich die Leiche in Augenschein zu nehmen. Aufgrund der vorangegangenen Schilderungen war sie ja auf einiges gefasst gewesen. Doch der Anblick, der sich ihr nun bot, überstieg selbst die allerschlimmsten Befürchtungen und traf sie wie ein gewaltiger Fußtritt in die Magengrube.


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