Читать книгу Tödliche Trance - Nick Bukowski - Страница 7
1
ОглавлениеWarnemünde
Freitagabend, der 25. Januar 2013
Monoton brummte der Staubsauger vor sich hin, während er die Spuren des zurückliegenden Sprechtages gierig wie ein ausgehungerter Wolf in sich aufnahm. Der Lärm, den diese Höllenmaschine von sich gab, ließ kaum einem anderen Geräusch die Chance, sich zu entfalten. Dennoch war das schallende Gezeter, welches – wie so oft in den letzten Tagen – wieder einmal vom anderen Ende des langen Ganges her an ihre Ohren drang, nicht zu überhören. Es war für sie mittlerweile schon fast zur Normalität geworden, sodass sie der Sache längst keine wirkliche Bedeutung mehr beimaß. Die beiden müssen ja wirklich ein ernsthaftes Problem miteinander haben. Aber was mussten sie auch unbedingt mit dem Feuer spielen?, dachte sie sich und musste innerlich schmunzeln. Eine leichte Röte legte sich auf ihre Wangen, als sie sich an die unmissverständlichen Laute erinnerte, die noch vor wenigen Wochen durch diese Tür gedrungen waren und so gar nicht nach Zwietracht geklungen hatten. Doch seit einigen Tagen war plötzlich alles anders, und auch heute flogen wieder einmal regelrecht die Fetzen. Wütende Tiraden schwelten wie drohende Gewitterwolken in der die Luft, und lautstarke Beschimpfungen schienen die Atmosphäre förmlich zu elektrisieren. Eigentlich hätte sie sich längst das Chefbüro vornehmen müssen, aber sie war es nun mal gewohnt, stets größtmögliche Diskretion zu wahren. Und deshalb wollte sie nicht wie der sprichwörtliche Elefant in den Porzellanladen hineinplatzen. Da drin würde ich jetzt nur stören, sinnierte sie, und beschloss kurzerhand, diesen Teil ihrer Arbeit auf später zu verschieben. Ein bisschen genervt zog sie den Stecker aus der Dose und das eintönige Dröhnen des Staubsaugers verendete mit einem letzten dumpfen Aufheulen.
Ludmilla Dasajewa, Jahrgang 1956, eine gedrungene, etwas maskulin wirkende Frau mit kurzen grauen Haaren, war mit ihrem Mann und den drei Töchtern vor gut zwei Jahren aus Kasachstan hierhergekommen. Ihr Deutsch ließ zwar einiges zu wünschen übrig, aber sie arbeitete daran und spürte, wie es beinahe täglich besser wurde. Sie war dankbar für diese Anstellung und die damit verbundene Chance, wenigstens ein paar Euro zum Unterhalt ihrer Familie beisteuern zu können. Ihre Eltern hatten sie streng orthodox erzogen und von klein an stets zur Arbeit angehalten. Dementsprechend schien es für sie geradezu undenkbar, in einem fremden Land von staatlichen Almosen zu leben, was sie wohlwollend von so manch abgezocktem Sozialschmarotzer unterschied. Natürlich war ihr nicht entgangen, dass da schon seit geraumer Zeit zwischen dem Boss und der kleinen Blonden etwas lief, was so nicht hätte laufen dürfen. Das ist eine Sache zwischen den beiden und geht mich absolut nichts an, versuchte sie, ihre Sinne irgendwie auf Durchzug zu schalten. Sollen die zwei doch machen, was sie wollen. Hauptsache, ich behalte meinen Job, lautete ihre Devise.
Das Büro befand sich am Ende des langgezogenen, erst vor kurzem renovierten Korridors, welcher als Wartebereich diente. Der frische Anstrich hatte dem schlauchförmigen Gang sichtlich gut getan, die hellen, farbenfrohen Töne sorgten für ein weitläufiges und freundliches Flair. Die Einrichtung wirkte einfach, zweckmäßig und ein beinahe wenig fade. Zu beiden Längsseiten thronten jeweils vier mit schwarzem Leder bezogene Schwingstühle. Außerdem gab es eine hölzerne Wandgarderobe und zwei flache Glastischchen, welche als Depot für Zeitschriften und Prospekte dienten. Im Zimmer des Chefs dagegen gaben eine vergilbte Tapete, die sich bereits an mehreren Stellen löste, ein abgewetzter Teppichboden mit einigen Brandflecken sowie der Geruch von kaltem Rauch den Ton an. Schon einige Male hatte er versucht, dieses Laster aufzugeben, war jedoch immer wieder jämmerlich gescheitert. Nach jedem Rückfall waren es schließlich eine gute Handvoll Glimmstängel mehr geworden, und inzwischen qualmte er mehr als zwei Päckchen pro Tag. Das Mobiliar wurde von einem wuchtigen Schreibtisch aus massivem Eichenholz dominiert – ein Erbstück seines Großvaters, vor allem aber stummer Zeuge so manch leidenschaftlicher Affäre. Formulare und Karteikarten lümmelten auf der mit den Jahren reichlich abgenutzten Oberfläche neben einem Stapel ungelesener Fachmagazine in einem wüsten Durcheinander herum. Der Computermonitor war von einem schlierig gelben Nikotinfilm überzogen, und auch die dazugehörige Tastatur zeigte deutliche Verschleißerscheinungen. Nahebei fanden sich ein großer, aber nichtsdestotrotz meist überquellender Aschenbecher sowie ein Kaffeepott, der außen von dem ironischen Slogan Ich Boss – Du nix und innen durch einen klebrigen, schwarz-braunen Belag beherrscht wurde. Die hochaufragenden, bieder-funktionellen Regale an den Wänden wirkten gegenüber dem antiquarisch anmutenden Möbelstück beinahe wie ein stilistischer Fauxpas und beherbergten eine wahre Armada von Aktenordnern sowie einige Nachschlagewerke. Auf einem separaten Tischchen unmittelbar neben dem Fenster hatten Drucker und Faxgerät ihren Platz gefunden. Außerdem verbrachte hier ein alter Röhrenfernseher aus frühesten Nachwendezeiten seinen mutmaßlichen Lebensabend. Der Chef selbst residierte in einem abgewetzten hochlehnigen Bürosessel, während für gelegentliche Gäste zwei einfache Holzstühle bereitstanden.
Diesmal verlief die Auseinandersetzung zwischen den beiden besonders laut und heftig. Wie Giftpfeile flogen die Worte nur so umher. Die Stimmung war hochgradig explosiv und die Luft von gegenseitigen Vorhaltungen geschwängert. Immer und immer wieder hielt sie ihm mit vorwurfsvollem Blick das Ultraschallbild unter die Nase. „Alex, das hier ist dein Kind“, spie sie ihm wutentbrannt entgegen. Die Blicke aus ihren stahlblauen Augen wirkten wie todbringende Geschosse. Obwohl sie dem großen, kräftigen Mann ihr gegenüber körperlich klar unterlegen war, packte sie ihn energisch an seinem linken Arm, als wolle sie die Bedeutung ihrer Sätze dadurch zusätzlich untermauern. Voller zügelloser Wut krallten sich ihre spitzen Fingernägel in seine Haut und hinterließen eine schmale Straße winziger Blutstropfen. „Wie oft hast du mir geschworen, dass alles anders wird? Du hast gesagt, dass du schon lange nichts mehr für Anja empfindest. Du hast sogar behauptet, du würdest dich vor ihr ekeln. Hast du das etwa vergessen?“, redete sie sich immer mehr in Rage. „Du hast gesagt, dass du dich von ihr trennen willst und nur auf die passende Gelegenheit wartest. Du hast gesagt, dass du nur mich liebst. Wir wollten ein neues Leben anfangen, nur ich und du. Erinnerst du dich? Du wolltest sie verlassen, für mich, für uns. Und jetzt tust du so, als ginge dich das hier alles nicht an.“
Das unförmige kleine Etwas auf dem schwarz-weißen Computerausdruck erinnerte der Form nach eher an ein Gummibärchen als an künftiges Leben. Aber es zeigte ein menschliches Wesen, ein Kind, das in gut einem halben Jahr das Licht der Welt erblicken würde. „Ich lasse mich nicht einfach so von dir wegwerfen wie ein gebrauchtes Papiertaschentuch. Wenn du unbedingt bei deiner Alten bleiben willst, bitteschön. Aber dann musst du dafür bezahlen, sonst gehe ich zu deiner Anja und lasse die Bombe platzen!“, drohte sie ihm unverhohlen. „Und außerdem war ich noch Lehrling und unter achtzehn, als du mich das erste Mal hier auf diesem Tisch gevögelt hast.“ Sie deutete verächtlich mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand auf Großvaters Erbstück. „Ich glaube, sowas nennt man Sex mit Schutzbefohlenen. Ich bin gespannt, was wohl die Gerichte dazu sagen werden“, schob sie mit provokantem Gesichtsausdruck hinterher.
„Das kannst du nie und nimmer beweisen!“
„Abwarten!“ Kam es von einem zynischen Lachen begleitet zurück. „Die Russenmatka da draußen hat´s doch live mitgekriegt.“
„Wer sagt mir überhaupt, dass es wirklich von mir ist, und nicht von Jonas oder sonst wem?“, hielt Alex barsch entgegen.
Wie ferngesteuert holte ihre rechte Hand reflexartig zu einer weitgeschwungenen Bewegung aus und landete Sekundenbruchteile später mit einem schallenden Geräusch auf seiner linken Wange. Augenblicklich sickerten ein paar unscheinbare Tropfen Blut aus seinem linken Ohrläppchen. Sie konnte wirklich liebevoll und zärtlich sein, aber wenn sie irgendwas in Rage brachte, konnte sich sie auch von einem Moment auf den anderen zur wilden Bestie verwandeln. „Du mieses Arschloch!“, schleuderte sie dem Doktor schroff entgegen. Ihr Gesicht war vor Erregtheit fiebrig heiß und puterrot. Aus ihren Augen sprach unbändiger Hass. „Du kannst es ja gern auf einen Vaterschaftstest ankommen lassen. Ich jedenfalls weiß jetzt schon, wie der ausgeht. Am besten bringst du deine Frau gleich mit, wenn das Ergebnis feierlich verkündet wird. Ist es das, was du willst?“
Alex starrte ungläubig in die Luft, ohne sein Gegenüber dabei anzusehen. Man konnte regelrecht spüren, wie seine Gedanken arbeiteten, ehe er ein resignierend klingendes „Wenn du meinst“ zwischen seinen Lippen hervor presste.
„Das wirst du noch bereuen!“, fauchte sie nach einer kurzen, von eisigem Schweigen geprägten Pause zurück, ehe sie wie von einem wilden Tier gehetzt aus dem Büro stürzte. Innerhalb weniger Sekunden war sie wutschnaubend an Ludmilla vorbeigerauscht, hatte ihre schwarze Winterjacke übergeworfen, eiligst Schal und Mütze angelegt und ihren Rucksack sowie ihre kleine Handtasche geschnappt. In ihrer Aufgebrachtheit nahm sie die wenig charmanten Wortfetzen gar nicht mehr richtig wahr, die ihr hinterher hallten, während sie die Tür mit dem Schriftzug Praxis Dr. med. dent. Pacholski krachend ins Schloss fallen ließ.
Unbarmherzig wie ein Vorschlaghammer blies ihr ein Schwall winterlich kalter Luft entgegen, als sie auf die verwaiste Straße hinaustrat, über den sich inzwischen dichter Abendnebel gelegt hatte. Die kahlen Äste der Bäume ragten wie riesige schwarze Finger in den Himmel, und unter ihren gefütterten Stiefeln vernahm sie das Knirschen von Schnee. Was bildet sich dieser Mistkerl eigentlich ein?, haderte sie noch immer in ihrem Innersten. Wie nur kann er sich so sicher sein, dass ich die Sache nicht auffliegen lasse? Ich mach ihn fertig, schwor sie sich, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.
Obwohl sie erst vor wenigen Wochen einundzwanzig geworden war, hatte ihr das Leben bereits eine Reihe harter Prüfungen abverlangt. Nach der frühen Scheidung ihrer Eltern war sie bei der Mutter in Lübeck aufgewachsen, doch diese hatte sich statt um ihre Tochter viel lieber um die Männerwelt gekümmert und sich dabei alles andere als wählerisch gezeigt. Sie hasste diese ständig neuen sogenannten Onkels, für die sie nicht mehr als eine überflüssige Appendix, eine zickige kleine Göre oder schlichtweg die wertlose Brut eines anderen verkörperte. Nachdem sich einer dieser schmierigen Typen der seinerzeit gerademal Zwölfjährigen auf ihr bis dahin völlig unbekannte Weise genähert hatte, war sie das erste Mal von zu Hause weggelaufen, jedoch am nächsten Morgen reumütig und gutgläubig zurückgekehrt. Aber die Übergriffe hatten sich schnell gehäuft, und bald schon war die Clique vom Hauptbahnhof zu ihrer neuen Familie geworden. Alkohol, Drogen und ständig wechselnde Geschlechtspartner waren fortan ihre treuen Wegbegleiter gewesen, bis sie eines Tages Pascal, einem jungen, engagierten Streetworker aus Rostock begegnet war. Selbstlos hatte er sie aus dem Tal der Tränen herausgeholt, ihrem Leben wieder einen Sinn gegeben und sich irgendwann in sie verliebt. Vor gut dreieinhalb Jahren war sie schließlich zu ihm nach Warnemünde gezogen und schien endlich Glück gefunden zu haben. Doch ihre gemeinsame Zeit war nur geliehen und hatte bereits wenige Wochen später an einem Bahnübergang zwischen Schwaan und Huckstorf ein abruptes Ende gefunden. Nach ein paar Tagen aufrichtiger Trauer hatte sie sich jedoch wie aus Trotz schnell wieder in neue Abenteuer gestürzt. Seit Sommer 2010 gehörte sie zu Pacholskis Praxisteam und hatte sich, getrieben von ihrer unbändigen Sehnsucht nach Geborgenheit, wenig später auf eine heiße Liaison mit diesem eingelassen. Doch nun drohte der Bauplan ihres jungen Lebens wieder einmal wie eine Seifenblase zu zerplatzen.