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ОглавлениеSamstag, der 26. Januar 2013
Nathalie Hartung, eine attraktive Mittdreißigerin mit knackigen weiblichen Rundungen, gehörte zu jenen Frauen, nach denen sich die Männer, ob sie wollten oder nicht, beinahe zwanghaft umdrehten. Sie hatte einen leicht südländischen Teint, rehbraune Augen und einen sinnlichen Mund. Die pechschwarz gefärbten langen Haare erinnerten ein bisschen an eine Indianerin. Das leuchtende Weiß ihrer Zähne, welche sie regelmäßig bleichen ließ, bildete einen auffälligen, fast etwas unnatürlichen Kontrast zu ihrer solariumsgebräunten Haut. Es war nicht zu übersehen, dass sie sehr viel Wert auf ihr Äußeres legte und offenbar bereit war, hierfür so manchen Euro hinzublättern.
Seit fast zehn Jahren arbeitete sie in einer angesehenen Steuerkanzlei in der Südstadt. Längst war sie dort zur rechten Hand des Chefs geworden, was sie neben ihrer unbestritten hohen fachlichen Kompetenz sicher zu einem nicht ganz unerheblichen Teil auch ihrem guten Aussehen verdankte. Dennoch hatte ihr beruflicher Werdegang nicht das Geringste mit einer Couchkarriere gemein, auch wenn ihr Boss beileibe kein Kostverächter war und gegen ein Techtelmechtel mit einer Klassefrau wie ihr gewiss nichts einzuwenden gehabt hätte. Natürlich erfreute sie sich vor allem unter den männlichen Mandanten großer Beliebtheit, hatte sich jedoch längst an schmachtende Blicke voller heimlicher Begierde und manch eindeutig zweideutigen Spruch gewöhnt. Gelegentliche Annäherungsversuche überspielte sie mit professioneller Lockerheit und Souveränität. Besonders der dicke Dr. Heinrich, ein umtriebiger, Anfang fünfzigjähriger Immobilienmakler mit Geschäftssitz in der nahegelegenen altehrwürdigen Residenzstadt Güstrow, schien ihren weiblichen Reizen nur mit größter Mühe widerstehen zu können. Er zählte bereits seit längerem zu den betuchtesten Klienten der Kanzlei, liebte gutes Essen, edlen Wein und vor allem schöne Frauen. Und so gehörte es gewiss nicht ohne Hintergedanken zu seinen Marotten, die Mitarbeiter des Steuerbüros in regelmäßigen Abständen in die angesagtesten Restaurants einzuladen, und gestern Abend war es wieder einmal soweit gewesen. Wie immer hatte er eine seiner weitesten Spendierhosen angezogen und neben einem üppigen und vor allem kalorienreichen Buffet reichlich Champagner und andere edle Getränke auffahren lassen. Dennoch war er Nathalie diesmal irgendwie merkwürdig vorgekommen. Bereits die mehr als dreißigminütige Verspätung zu Beginn – angeblich hätte er noch ein wichtiges Kundengespräch führen müssen – war für ihn völlig untypisch gewesen, denn eigentlich war er, wenn es ums Feiern ging, meist der Erste. Und obwohl Essen normalerweise zu seinen absoluten Lieblingsbeschäftigungen zählte, hatte er sich diesmal auffällig zurückgehalten, stattdessen aber einen Whisky nach dem anderen in sich hineingeschüttet. Er hatte irgendwie abgehetzt und fahrig gewirkt, ganz anders, als man ihn sonst kannte. Nie zuvor war er ihr gegenüber derart distanziert, ja geradezu introvertiert aufgetreten. Außerdem hatte er das Lokal ungewohnt früh wieder verlassen, ansonsten zählte er eigentlich eher zu denen, die spät nachts das Licht ausknipsten. Vielleicht hatte er ja Ärger mit einem Klienten, Stress mit einer Frau oder irgendwelche anderen Probleme oder einfach nur begriffen, dass er bei mir nicht landen kann, hatte sie seiner ungewohnten Reserviertheit jedoch keine besondere Bedeutung beigemessen.
Es war Samstag, der Morgen nach Heinrich. Wenngleich es letzte Nacht recht spät geworden war, hatte es sie nur ein paar Stunden in ihrem Bett gehalten. Bei der morgendlichen Katzenwäsche starrte ihr eine übermüdete Gestalt mit tiefen Ringen unter den Augen aus dem Badezimmerspiegel entgegen. Noch halb verträumt schlüpfte sie in ihre Funktionsunterwäsche, die gegenüber den knappen Dessous, die sie sonst immer trug, beinahe etwas Liebestöterisches an sich hatte, und zog ein schwarzes langärmliges Shirt sowie die wetterfeste Laufjacke darüber. Ihre enganliegende, leuchtend rote Jogginghose betonte ihren knackigen Po. Unten an der Haustür stülpte sie sich schließlich ihr giftgrünes Fleece-Stirnband über den Kopf und begab sich mit zügigen Schritten auf den Weg. Während sie im Morgengrauen noch etwas schlaftrunken die menschenleere Poststraße überquerte, durchschnitten die dumpfen Schläge der Kirchturmuhr wie Pfeile die Stille der im Sterben liegenden Nacht. Ihr Weg führte sie weiter vorbei am Pfarrhaus, der Tourist-Information und der einstigen Vogtei, welche sie nach all den Jahren kaum mehr bewusst registrierte. Der Alte Strom mit seinen aufgereihten Fischerhäusern, deren Dächer von weißen Hauben überzogen waren, wirkte noch tief verschlafen. Ihre durchtrainierten Beine trugen sie an Geschäften und Restaurants vorüber, die zu dieser frühen Stunde noch friedlich nebeneinander schlummerten, ehe sie in Kürze schon ihren alltäglichen Kampf um zahlungskräftige Kundschaft eröffnen würden. Derweil flogen in Nathalies Augenwinkeln verschwommen die Bilder der bunten, alten Holzkutter vorüber, die an ihren vertrauten Liegeplätzen ruhten. Mit weißen Lettern auf rotem Untergrund warb der Zeitungskiosk gegenüber dem alten Hotel Atlantic für eine bekannte Illustrierte, während von der Mittelmole das unpersönliche Bürohochhaus einer Fährreederei mit deren bunter Leuchtreklame grüßte. Schließlich passierte sie den weiß-roten Seenotrettungskreuzer Arkona, der an seiner Anlegestelle kurz vor dem Molenfuß hoffentlich vergeblich auf einen Einsatz wartete, und eine ausgefallene Bar mit verlockendem karibischem Flair, die in neudeutschem Slang exotische Drinks zum Bestprice während der Happy Hour feilbot.
Das Kreischen der Möwen durchdrang die sich allmählich zurückziehende Stille. Kurz bevor sie ihre Laufschuhe in Richtung Teepott trugen, schob sich die Skåne in ihr Blickfeld. Geradezu majestätisch steuerte sie auf die Hafenausfahrt zu, um bereits wenige Minuten später über die an diesem Morgen ungewohnt ruhige, beinahe spiegelglatte See davon zu gleiten. Viel zu oft schon hatte sie das über zehn Jahre alte Schiff auf seiner täglichen Reise zwischen Rostock und Trelleborg wegfahren oder ankommen sehen, als dass sie dieser lang gewohnte Anblick ausgerechnet an jenem Morgen aus ihrem zügigen Tritt hätte bringen können. Nur wenige Augenblicke später hatte sie den Leuchtturm passiert, wo der sogenannte Planeten-Wanderweg, ein maßstabgerecht verkleinertes Abbild unseres Sonnensystems, seinen Anfang nahm. Mein Vater Erklärt Mir Jeden Samstag Unsere Neun Planeten. Die alte Eselsbrücke, die schon Generationen von Schülern vor ihr als einfache aber effektive Lernhilfe diente, ging ihr immer wieder durch den Kopf, wenn sie mit geradezu professioneller Routine die weißen Tafeln mit den wichtigsten Eckdaten der jeweiligen Himmelskörper passierte. Nur unterschwellig drang das Rauschen des Meeres an ihre Ohren, das unentwegt seine Energie an dem langen, flach abfallenden Strand entlud. Mit gleichmäßiger Frequenz pflügten ihre Laufschuhe über den Untergrund, während kleine weiße Wolken im Rhythmus ihres Atems um Mund und Nase waberten. Ihr Stirnband war von einem Mix aus Schweiß und kalter Feuchte durchtränkt, und ihr Zopf wedelte wie ein nutzloses Anhängsel unkontrolliert hin und her. Kaum eine Menschenseele war zu dieser frühen Stunde auf den Beinen. Zwei Nordic-Walker kamen ihr mit langen Schritten und weitschwingenden Stöcken entgegen und grüßten die Unbekannte mit einem flüchtigen „Moin“. Ein kleiner Hund mit abstehenden Ohren – offenbar das Ergebnis einer nur schwer definierbaren Promenadenmischung – hatte sich von seiner Leine losgerissen, tollte ausgelassen durch die am Wegesrand aufgeschütteten Schneehaufen und ließ seinen Besitzer, der ihn bereits seit ein paar Minuten verzweifelt einzufangen versuchte, noch ein Stück weit älter aussehen, als er ohnehin schon war. Ihr Puls war bereits spürbar schneller geworden, als sich hoch vor ihr der klobige Betonklotz des Neptun-Hotels aufbaute, eigentlich ein architektonischer Sündenfall des DDR-Sozialismus, aber trotzdem auch heute noch das erste Haus am Platz. Gleich dahinter nahm das neue Wellness-Ressort langsam aber sicher Formen an, aber trotzdem mochte man nicht so recht daran glauben, dass es tatsächlich bereits Ostern eröffnen sollte.
In Gedanken vertieft trugen sie ihre durchtrainierten Beine beinahe mechanisch Schritt für Schritt voran, bis sie schließlich die Bahn des Saturns kreuzte. Das kahle Geäst der Bäume war von einer weißen, im Licht der Morgensonne kristallisch glänzenden Glasur überzogen und streckte seine weitverzweigten Tentakel in alle Himmelsrichtungen. Aus ihrem iPod tönte ein Song von Katy Perry, der so gar nicht zu diesem winterlich rauen Seeklima passen mochte, sondern eher an das lockere Beachfeeling Kaliforniens erinnerte. Der Uranus war soeben unbemerkt an ihr vorübergezogen, als plötzlich wie aus dem Nichts ein unförmiges Etwas in ihr Blickfeld platzte. Beinahe mechanisch stoppte sie abrupt ihren Lauf und vollführte unwillkürlich eine Vollbremsung, um zu ergründen, was genau da an einer etwas zurückgesetzten Birke lehnte. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und übertönte einen Moment lang sogar das Rauschen des Meeres, während sich Atmung und Puls ein rasantes Duell lieferten. Eine geradewegs erdrückende Angst bemächtigte sich ihrer und legte sich wie eine gewaltige Schraubzwinge um ihren Brustkorb. Entgeistert kniff sie ihre Augen zusammen, so als wolle sie dadurch mit aller Macht die Bilder verdrängen, die sich in diesem Moment auf ihre Netzhaut projizierten. Sie wollte schreien, aber irgendetwas schien ihr die Kehle zuzuschnüren. Lieber Gott, bitte mach, dass das nicht wahr ist, betete sie innerlich, obwohl sie eigentlich nicht gläubig war. Vielleicht war es ja nur eine Sinnestäuschung oder eine durch die Natur willkürlich geformte bizarre Struktur. Oder jemand hatte etwas Sperriges auf makabere Weise entsorgt. Oder sie hatte gestern Abend einfach nur zu viel getrunken oder einfach nur zu wenig geschlafen oder, oder, oder… Mit aller Macht versuchte sie wider besseren Wissens, die unausweichliche Realität aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen. Doch so sehr sie sich auch dagegen wehren mochte: Sie hatte soeben irgendwo im Niemandsland zwischen Uranus und Neptun eine grausame Entdeckung gemacht.
Tick tock on the clock … – fast zur gleichen Zeit riss der Radiowecker Dr. Carsten Heinrich gnadenlos aus dem Tiefschlaf. Erst spät in der Nacht war er auf wackligen Beinen in die elegante Suite seines Hotels in unmittelbarer Nähe der Strandpromenade zurückgekehrt und hatte folglich wieder einmal viel zu wenig Schlaf bekommen – …but the Party don´t stop. Nun zeugte ein diffuser Kopfschmerz von den vorabendlichen Sünden. Er musste dringend unter die Dusche, um wenigstens ein bisschen von der Müdigkeit abzuspülen, die ihn noch immer mit ihren unsichtbaren Klauen umfangen hielt. Vor allem aber brauchte er eine oder auch zwei Aspirin und einen extra starken Kaffee. Schließlich wollte er sich in knapp zwei Stunden mit einem Kunden treffen, der an einigen Objekten in und um Warnemünde interessiert und offenbar bereit war, hierfür einen guten Preis zu bezahlen.
Während sich der Dreizentnerkoloss behäbig in seinem Bett aufsetzte und die Matratze unter der Last seines voluminösen Körpers ächzte, zogen noch einmal die Bilder des gestrigen Abends vor seinem geistigen Auge vorüber. Sie hatten reichlich gegessen und noch reichlicher getrunken. Nun hämmerte eine Armee aus tausend kleinen Männchen beinahe unaufhörlich von innen gegen seine Schädeldecke. Manchmal konnte die Rechnung einer durchzechten Nacht wahrhaft grausam sein. Allerdings hatte er die Party diesmal nicht so genießen können wie sonst. Selbst Nathalie Hartung, diese rassige Schönheit, in die er schon seit langem hoffnungslos verschossen war, hatte daran nichts ändern können. Zu sehr war er innerlich mit dieser zierlichen Blonden beschäftigt, die kürzlich wie ein Blitz aus heiterem Himmel in seinem Leben eingeschlagen hatte. Sie verfügte über dieses gewisse Etwas, für das es einfach keine passenden Worte gab, und gehörte zu jener Sorte Frauen, denen die meisten Männer früher oder später unweigerlich erlagen, ganz gleich, ob sie es wollten oder nicht. Ihn jedenfalls hatte es mit voller Wucht erwischt. Diese Kleine, die gut und gerne seine Tochter sein konnte, ging ihm einfach nicht mehr aus dem Sinn. Erst vor wenigen Wochen war sie zum ersten Mal in seinem Büro aufgetaucht. Sie war gerade mal geschätzte Anfang zwanzig, sah aber noch ein paar Jahre jünger aus und verkörperte den Inbegriff einer typischen Kindfrau. Ihr feingliedriges Gesicht und das halblange, engelsblonde Haar unterstrichen ihre unschuldige Aura, die in Wirklichkeit nichts weiter war als eine Maske, denn eigentlich hatte sie es faustdick hinter den Ohren. Ihr einnehmender Blick, mit dem sie, wenn sie nur wollte, beinahe jeden spielend um den Finger wickeln konnte, das offenherzige Dekolleté, welches ihre kleinen aber festen Brüste betont zur Schau stellte, und der knackige Hintern in ihrer engen Jeans, aus der sie gelegentlich betont lasziv ihren Tanga blitzen ließ, sprachen zumindest eine andere Sprache. Als gäbe es nichts Selbstverständlicheres, hatte sie ihm freimütig naiv ihr Interesse an einer der gefragten, überaus luxuriösen Eigentumswohnungen unweit des Alten Stroms offenbart und zunächst nur Heinrichs ungläubige Blicke geerntet. Woher nur um alles in der Welt soll diese Püppi so viel Kohle haben, um sich eine solche noble Bleibe leisten zu können? Ohne dass er seine Gedanken aussprechen musste, hatte sie ihm sodann freimütig von einem kürzlich verstorbenen Onkel berichtet, der ihr einen stattlichen Geldbetrag hinterlassen hätte. Freilich würde dieser für die angedachte Investition aller Voraussicht nach nicht ganz reichen. „Aber vielleicht lässt sich ja am Kaufpreis noch was machen“, hatte sie ihn mit einem unmissverständlichen Augenaufschlag umgarnt. Immerhin hatte sich längst herumgesprochen, dass der Dicke alles andere als ein Kostverächter war und sich hin und wieder auch gern einmal in Naturalien bezahlen ließ, vor allem, wenn die Kunden attraktive, junge Frauen waren. „Außerdem fände ich es echt cool von Ihnen, wenn Sie mir vielleicht wegen Ihrer Provision ein bisschen entgegenkommen könnten.“
Bereits zwei Tage später hatten sie sich vor einem Mehrfamilienhaus in Warnemünde wiedergetroffen, offiziell, um die avisierte Wohnung zu besichtigen, doch in Wahrheit vor allem, damit sie die erste Rate der Maklercourtage abarbeiten konnte. Natürlich durfte ein Fleischklops wie er nicht ernsthaft glauben, dass das, was zwischen ihm und der Kleinen lief, auch nur im Entferntesten etwas mit echten Gefühlen zu tun haben könnte. Ganz im Gegenteil, es war nichts anderes als eine pure Zweckgemeinschaft. Sie wollte den Preis für etwas bislang Unerreichbares drücken und Sex war die Währung, in der sie dafür bezahlte. Nur darum war sie ihm ein paarmal zu Willen gewesen, genau wie sie es für jeden x-beliebigen anderen auch getan hätte, solange es um ihren Vorteil ging. Doch irgendwie hatte sie es geschafft, ihm dermaßen den Kopf zu verdrehen, dass er unentwegt an sie denken musste, ein Zustand, den er freilich nicht gutheißen konnte. Ausgerechnet er, der Betuchte und Mächtige, in nahezu jeder Lebenslage über den Dingen Stehende, hatte offenbar vollkommen die Kontrolle über sich selbst verloren und war den Reizen dieser raffinierten Lolita willenlos erlegen. Er war fasziniert, ja geradezu besessen von ihr und musste sich dennoch zutiefst gedemütigt und erniedrigt fühlen, weil er zugleich wusste, dass sie ihn und seine Triebe in Wahrheit nur benutzte. Irgendwie erinnerte ihn die Situation fatal an Silke, seine einstige Jugendliebe. Auch sie war eine eher mädchenhafte Erscheinung mit blondgelockten Haaren, vor allem aber die Enttäuschung seines Lebens gewesen. Zwar hatte sie sich mit der Aura einer Vierzehnjährigen umgeben, doch, wie sich bald herausstellen sollte, bereits frühzeitig über die Erfahrung einer Mittzwanzigerin verfügt. Ihr Interesse an ihm war rein materieller Natur gewesen, da er aus recht betuchtem Hause stammte. Doch dann war sie eines Tages einer noch ein Stück weit lukrativeren Partie begegnet und hatte ihn von heut auf morgen fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Er hatte sie wirklich abgöttisch geliebt und schon von einer gemeinsamen Zukunft mit ihr geträumt, doch plötzlich war eine Welt für ihn zusammengebrochen. Wochenlang hatte er sich damals in sein Schneckenhaus verkrochen und sogar darüber nachgedacht, erst ihrem und dann seinem Leben ein Ende zu setzen. Obwohl all das nun schon eine halbe Ewigkeit zurücklag, hatte er den Schmerz niemals richtig verwunden. Nie wieder hatte er sich danach auf eine ernsthafte Beziehung einlassen können, und die Frauen, die seither seinen Weg pflasterten, waren meist nichts weiter als flüchtige Episoden. Aber nun war diese zierliche, kleine Blonde wie aus dem Nichts auf der Bildfläche aufgetaucht und hatte, ohne es zu wissen, urplötzlich die schmerzliche Erinnerung wieder aufleben lassen. Das Trauma von einst war mit einem Mal zurückgekehrt.
„Tick tock on the clock …“ – hämmerten die letzten Töne geradezu erbarmungslos aus dem Radiowecker, ehe ihn Carsten Heinrich, als würde er mit der flachen Hand auf einen Buzzer schlagen, endlich verstummen ließ. Er fingerte die Packung Aspirin aus seiner Kulturtasche, torkelte mit noch halb geschlossenen Augen ins Bad, füllte kaltes Leitungswasser in ein unbenutztes Zahnputzglas und gab gleich zwei Brausetabletten hinzu. Gedankenversunken beobachtete er die aufsteigenden Bläschen, bis sich schließlich eine sprudelnde Lösung gebildet hatte, von der er inständig hoffte, dass sie seinem Brummschädel alsbald die dringend benötigte Linderung verschaffen würde. Mit zittrigen Händen griff er nach dem Gefäß, führte es bedächtig zum Mund und leerte es in einem Zug. Anschließend fuhr er sich ein paarmal lieblos mit dem Elektrorasierer über sein stoppeliges Kinn, putzte sich flüchtig die Zähne und entkleidete sich, um sodann unter der warmen Dusche die Spuren der zurückliegenden Nacht so gut es ging von seinem Körper abzuwaschen. Der wohltuende Wasserstrahl rann beinahe unaufhörlich seinen voluminösen Leib hinunter und holte ihn allmählich aus der Lethargie seiner trüben Gedanken zurück in die Realität. Eine gefühlte Ewigkeit später stand er im Bademantel auf dem Balkon seiner Suite und ließ die kühl-herbe Meeresluft in sich hineinströmen. Am Horizont wuchs langsam die Silhouette der aus Gedser kommenden Kronprins Frederic, einer nicht mehr so ganz taufrischen Vertreterin der Scandlines-Flotte, um schon wenig später die Moleneinfahrt zu passieren. Unter dem immer lauter werdenden Kreischen der Möwen erhob sich die Strandpromenade allmählich aus ihrem Dornröschenschlaf.