Читать книгу Tödliche Trance - Nick Bukowski - Страница 11
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ОглавлениеDer Anblick, der sich ihnen an diesem Wintermorgen offenbarte, stellte – im unvorstellbar negativsten Sinne des Wortes – alles bisher Dagewesene in den Schatten. Beinahe schien es, als wäre Jack the Ripper auferstanden, um sein grausiges Werk fortzuführen. Jenes bedauernswerte Geschöpf, das sie vor sich sahen, hatte nur noch wenig menschliche Züge an sich. Es saß splitterfasernackt und am ganzen Körper von geronnenem, verklumptem Blut überzogen an einen Baum gelehnt und sah aus wie die Hauptfigur aus einem Horrorfilm. Die leeren, schwarzen Augenhöhlen waren leblos hinaus auf die See gerichtet, deren seichte Wellen in monotonem Rhythmus auf den Strand trafen. Die Strahlen der tiefstehenden Morgensonne verliehen der Szenerie einen obskuren Touch. Es war ein Bühnenbild des Grauens, und wer auch immer das Drehbuch hierfür geschrieben hatte, wollte die Tote bis zum letzen Atemzug leiden sehen, sie demütigen und alles Weibliche an ihr ein für alle Mal auslöschen. Für das kalte, emotionslose Polizeiprotokoll handelte es sich ungeachtet dessen um eine stark entstellte Frauenleiche von kleiner, schlanker Statur, deren Alter sich aufgrund des hohen Grades der Verstümmelung auf den ersten Blick allenfalls grob auf irgendwo zwischen zwanzig und dreißig plus/minus X taxieren ließ. Halblanges, leicht gewelltes, blondes, von einigen andersfarbigen Strähnchen durchsetztes Haar zierte ihr Haupt. Einzelne Büschel waren durch geronnenes Blut verklebt und standen dornenartig von ihrem Kopf ab. Der Mund war wie zu einem letzten Schrei geöffnet und ließ makellos weiße Zähne hervorblitzen. Man hatte ihr nicht nur die Augen herausgeschnitten, sondern überdies fast die gesamte Gesichtshaut abpräpariert, sodass sie beinahe wie ein Plastinat wirkte. Auf den ersten Blick schien es, als seien diese Eingriffe durchaus fachmännisch ausgeführt worden, was zwangsläufig entsprechende Überlegungen hinsichtlich der Qualifikation möglicher Verdächtiger auslösen musste. Dennoch würden die Forensiker alle Hände zu tun haben, um dieses zerschundene Antlitz beziehungsweise das, was davon übrig geblieben war, einigermaßen realitätsgetreu zu rekonstruieren. Ein feingliedriges Halskettchen, an dem ein silberner Anhänger mit den geschwungenen Initialen FK baumelte, sowie ein markantes, mit einem Kreuz verziertes Bauchnabelpiercing dagegen konnten auf der Suche nach der Identität der Ermordeten noch Gold wert sein. Auch ein in der rechten Leistengegend eintätowiertes Gebilde, welches – unter geronnenen Blutfetzen nur rudimentär erkennbar – den Umrissen nach an einen Gecko erinnerte, ließ die Beamten hoffen, bereits in Kürze an entscheidende Hinweise zu gelangen, um der unbekannten Toten am Meer schon bald einen Namen geben zu können.
Der Zustand des leblosen Körpers war stilles Dokument eines beispiellosen Martyriums. Die Brüste waren praktisch nicht mehr vorhanden, und über den gesamten Rumpf verteilt fanden sich unzählige, anscheinend wahllos ausgeführte Stichverletzungen. Darüber hinaus hatte ihr Peiniger auch die Intimzone brutal traktiert und ihre Vagina regelrecht zerfetzt. Wie es schien, hatte er ein Messer oder einen anderen scharfen Gegenstand benutzt und damit ihre äußeren Geschlechtsorgane bestialisch verstümmelt. Vielleicht hat er sich ja an seinem Opfer vergangen und anschließend versucht, auf diese zwar äußerst brutale, aber letztlich nicht sehr wirkungsvolle Weise seine Spuren zu verwischen, ging es Tarhan durch den Kopf während ihr angewiderter Blick mehrere, jeweils etwa fünf Zentimeter breite, scharf abgegrenzte Blutergüsse an Armen und Beinen der Ermordeten einfing. Wie es schien, war sie straff mit Teppichband oder etwas Vergleichbarem gefesselt worden und hatte sich hiergegen mit der Kraft einer um ihr Leben Ringenden gewehrt. Auch ober- und unterhalb der Stelle, wo sich einstmals ihre Brüste befunden hatten sowie unmittelbar über ihrer ausgeweideten Scham waren derartige Male als Zeugnis unvorstellbarer Barbarei zu finden. Immer mehr verdichtete sich die schauderhafte Gewissheit, dass ihr all diese fürchterlichen Verstümmelungen bei lebendigem Leibe zugefügt worden waren. Nähere Aufschlüsse über diese Frage würden sicher die rechtsmedizinischen Untersuchungen bringen. „Sie muss unvorstellbare Schmerzen erlitten haben“, mutmaßte Sebastian mit einem ungläubigen Kopfschütteln an Elin gewandt. Diese schien sich ob des grausigen Fundes noch immer in Schockstarre zu befinden und brachte gerade noch ein nichtssagendes „Hm“ hervor, ehe sie sich mit einer sprudelnden Fontäne übergeben musste.
Auch Sabine Steiner, die stellvertretende Leiterin der Spurensicherung, wirkte angesichts der grausigen Szenerie wie paralysiert und hatte schwer damit zu tun, ihr heute Morgen in aller Eile verzehrtes Croissant bei sich zu behalten. Die unscheinbare Mittvierzigerin trug eine schlichte Brille mit dünnem Metallrahmen auf der Nase und ein paar nichtssagende weißgoldene Stecker in ihren Ohren. Ihre halblangen, schwarzbraunen Haare bildeten eine strenge Helmfrisur und ließen sie noch unnahbarer erscheinen, als sie ohnehin schon war. Über ihr Privatleben war wenig bekannt, aber man munkelte, dass sie lesbisch sei. In ihrem Job war sie über jeden Zweifel erhaben und verfügte über einen reichhaltigen Fundus an Erfahrung. Wegen der unglaublichen Brutalität des Verbrechens hatte sie jedoch kurzerhand entschieden, ihren Chef hinzuzuziehen.
„Kriegt ihr Pfeifen denn verdammt noch mal nicht auch mal was ohne mich auf die Reihe?“, schallte schon von weitem, als dieser sich mit schnellen Schritten und wehendem Mantel dem Fundort näherte. Jürgen Rohgall, der bereits die Monate bis zu seiner Pensionierung zählte, wirkte noch tief verschlafen. Er war ein Koloss von Mann und schob einen gewaltigen Wohlstandsbauch vor sich her. Neben einem zotteligen, grau-weißen Rauschebart fanden sich die einzigen erwähnenswerten Haaransammlungen in seiner Nase sowie in beiden Ohren. Dagegen herrschte auf dem Kopf nahezu totaler Kahlschlag. Seine rauchige Stimme schien noch von dem einen oder anderen Drink am Abend zuvor gezeichnet. Dennoch hatte er sich nach dem Hilferuf seiner Kollegin kurz unter die kalte Dusche begeben – ein Ritual, das er immer pflegte, wenn es abends zuvor mal wieder ein paar Drinks zu viel geworden waren und es nun darauf ankam, möglichst schnell einen klaren Kopf zu bekommen – und war anschließend scheinbar in Lichtgeschwindigkeit zum Fundort gedüst. Eine Radarkontrolle hätte ihm vermutlich ein mehrmonatiges Fahrverbot eingebracht, eine Alkoholmessung sprichwörtlich das Genick gebrochen. Selbst jetzt roch er immer noch wie ein wandelndes Schnapsfass. Doch auf seinem Gebiet war er nun mal eine Koryphäe, der man ein solches Laster stillschweigend nachsah, weil man insgeheim hoffte, er könne mit seinem ungeheuren Fachwissen und seinem außergewöhnlichen Spürsinn notfalls die berühmte Stecknadel aus dem Heuhaufen zutage fördern. Man ignorierte seine Schwäche einfach elegant, weil man sich viel zu viel von seinen Stärken versprach. Der Anblick dieses bestialisch zugrichteten menschlichen Kadavers schien allerdings zur Ausnüchterung beizutragen und ließ selbst diesem erfahrenen, hartgesottenen Haudegen das Blut in den Adern gefrieren. Er konnte gar nicht anders, als seine anfänglich ablehnende Haltung zu revidieren, mit der er Sabine Steiners Anruf zunächst erwidert hatte. Nicht etwa, dass er sich bei seiner fast zwanzig Jahre jüngeren Untergebenen entschuldigt hätte. Derartige Gesten wären wohl unter seiner Würde gewesen, oder sie waren ihm schlichtweg fremd. Aber in seinen Blicken konnte seine Stellvertreterin erkennen, dass er ihr die morgendliche Störung angesichts der außergewöhnlichen Umstände längst verziehen hatte. So lief es nun mal zwischen ihnen: Sie verstanden sich nahezu blind und brauchten keine Worte, sondern Mimik und Gebärden allein genügten. Außerdem hatte sie bei ihm seit jeher einen riesigen Stein im Brett. Schließlich war er ihr Ausbilder und als solcher ein wahrlich strenger Lehrmeister gewesen, aber dennoch, trotz seiner klobigen Art, in all den Jahren zu einem beinahe väterlichen Vertrauten für sie geworden. Früh hatte Rohgall ihr außergewöhnliches Talent erkannt, sie gefördert und ihr alle möglichen Tricks und Kniffe beigebracht. In naher Zukunft würde er in Rente gehen und Sabine Steiner sein Erbe antreten, und insgeheim hoffte er, dass sie seine Abteilung in seinem Sinne weiterführen würde.
In ihren blütenweißen Overalls hoben sich die Mitarbeiter der Spurensicherung nur unwesentlich von dem festgefrorenen Schneeboden ab. Naturgemäß hatten sie es an einem solchen, täglich von mehreren hundert Menschen frequentierten Ort mit einem wahrhaftigen Sammelsurium verschiedenster DNA-Muster oder sonstiger Hinterlassenschaften all der unzähligen Spaziergänger, Wanderer, Radler oder eben Jogger a la Nathalie Hartung zu tun, von denen vermutlich die meisten für die Ermittlungen ohne jegliche Bedeutung sein würden. Dennoch durchkämmten sie mit geradezu beispielloser Akribie jeden einzelnen Quadratzentimeter zwischen Uranus und Neptun und sicherten dabei jedes noch so winzige Detail, wohlwissend, dass sich aller Voraussicht nach kaum etwas wirklich Brauchbares darunter befand. Doch in einem Job wie ihrem verbietet sich nun mal jedwede Aufwand-Nutzen-Rechnung. Oft sucht man eine wahre Ewigkeit nach der vermeintlichen Erbse unterm Kopfkissen, um letzten Endes doch mit leeren Händen dazustehen. Natürlich bedurfte es wenig kriminalistischen Spürsinnes, um zu erkennen, dass in diesem Fall Fund- und Tatstelle nicht identisch waren. Der Täter musste die junge Frau an irgendeinem x-beliebigen Ort aufgegriffen und derart zugerichtet haben, um sie anschließend hier in dieser geradezu entwürdigenden Art und Weise wie ein überflüssiges Stück Müll zu entsorgen. Allein deswegen hatte sich die vage Hoffnung, in der näheren Umgebung abgetrennte Körper- oder Gewebeteile der Toten und damit unter Umständen wichtige Hinweise auf den Mörder zu finden, schnell in Schall und Rauch aufgelöst. Auch die Suche nach Kleidungsstücken, Schuhen, einer Tasche oder anderen persönlichen Sachen des Opfers oder seines Peinigers versprach wenig Aussicht auf Erfolg. Womöglich würden all diese Dinge für immer und ewig von der Bildfläche verschwunden bleiben. Das verlorene Papiertaschentuch oder die achtlos weggeworfene Zigarettenkippe als entscheidender Schlüssel zum Täter gibt es eben – von extrem seltenen Ausnahmen einmal abgesehen – leider nur im Fernsehen.
Dr. Katrin Büttner war eine schmächtige Person mit etwas herben Gesichtszügen und fast schon jungenhaft kurzen, braunen Haaren. Sie wirkte etwas maskulin, hatte eigentlich weder Busen noch Po, dafür aber den Ansatz zu einem leichten Damenbart. Es wäre eine maßlose Übertreibung gewesen, ihr auch nur einen Hauch von Attraktivität zu unterstellen. Ihr Alter ließ sich nur schwer schätzen. Da sie ihre Laufbahn am Rechtsmedizinischen Institut der Universität Rostock gleich nach dem Studium begonnen hatte und diesem seit nunmehr fünfzehn Jahren angehörte, musste sie vermutlich so Anfang vierzig sein. Das feine Faltengeflecht um ihre Augen- und Mundpartie sowie die adrige Oberflächenstruktur ihrer Handrücken schienen diese Schätzung mindestens zu bestätigen oder gaben gar Anlass, sie noch ein Stück weit nach oben zu korrigieren. Während ihrer beruflichen Karriere hatte sie schon viele furchtbare Bilder gesehen: stark verweste Tote, brutal verstümmelte Opfer, aufgedunsene Wasserleichen, geschändete Kinder und so manch andere, für die meisten Normalsterblichen nur schwer verdauliche Grausamkeiten. Aber dieser zerschredderte Leib ließ sogar sie erschaudern. Selbst gnadenloser Hass mag nicht genügen, um einen anderen Menschen so zuzurichten. Nur ein krankes Hirn kann derart perfide Abscheulichkeiten gebären, ging es der gläubigen Katholikin durch den Kopf. Akribisch begutachtete sie die aufgrund des massiven Blutverlustes äußerst spärlich ausgeprägten Totenflecken, deren hellrote Färbung auf die stundenlange Lagerung der Ermordeten in der Kälte zurückzuführen war. Aus demselben Grund bot auch der Grad der Leichenstarre keine allzu großen Anhaltspunkte für den genauen Todeszeitpunkt. Überdies waren sowohl die gemessene Rektal- als auch Lebertemperatur mit größter Vorsicht zu genießen. Möglicherweise hätten Hornhäute und Pupillen etwas Licht in das Dunkel bringen können, aber dort, wo früher einmal die Augen der bedauernswerten Frau gewesen waren, gähnten inzwischen nur noch zwei furchteinflößende schwarze Höhlen. „Der Tod dürfte gestern Abend zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht eingetreten sein“, legte sie sich schließlich äußerst vage fest.
„Geht´s nicht ein bisschen genauer?“ Elin schaute ungläubig und enttäuscht zugleich.
„Tut mir leid. Aber da wir den Tatort nicht kennen, wissen wir auch nicht das Geringste über die dortigen Bedingungen, beispielsweise die Windverhältnisse und vor allem natürlich die Temperatur. Ohne diese Größen haben wir nun mal eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten. So gesehen würde ich das infrage kommende Intervall am liebsten sogar noch etwas ausweiten.“
„Und wann können wir mit weiteren Ergebnissen rechnen?“, drängelte Hauptkommissar Treblow.
„Ich versichere Ihnen, wir tun unser Bestes“, beschwichtigte die Gefragte. „Ich melde mich, sobald sich was Neues ergibt.“ Es war so eine Floskel, weswegen sie die unzufriedenen Gesichter ihrer Gesprächspartner irgendwie verstehen konnte. „Außerdem werde ich versuchen, den Professor zu erreichen“, schob sie nach einer kurzen Pause mit einem flüchtigen Lächeln hinterher, das ihrem herben Gesicht für Sekundenbruchteile eine unerwartet sanfte Note verlieh. „Soweit ich weiß, feiert seine Frau heute allerdings Geburtstag. Also wird er mir vermutlich die Ohren abreißen. Aber dies hier ist wirklich ein ganz außergewöhnlicher Fall.“ Und ihm eine willkommene Gelegenheit, sich für ein paar Stunden von daheim davonzustehlen, dachte sie sich. Katrin Büttner wusste nämlich, dass ihr Chef gesellige Familienfeiern in Wahrheit geradezu hasste wie der Teufel das Weihwasser. Die aufgesetzte Herzlichkeit widersprach seinem Naturell total, und jedweder gehaltlose Small-Talk widerte ihn einfach nur an. Also würde er vermutlich sogar dankbar für den genauso unverhofften wie willkommenen Vorwand sein, der illustren Runde für eine Weile entfliehen zu können.
Nathalie Hartung stand unterdessen noch immer unter Schock. Man hatte sie in einen Polizeitransporter gesetzt, ihren verschwitzten Körper in eine wärmende Decke gewickelt, sie mit heißem Tee versorgt und ihr einen Psychologen zur Seite gestellt. Dennoch starrte sie geradezu apathisch sie ins Leere und konnte noch immer nicht fassen, welch grauenhafte Entdeckung sie vor nicht einmal zwei Stunden gemacht hatte. Es war wie ein lebendig gewordener Albtraum und würde vermutlich bis in alle Ewigkeit auf ihrer Festplatte gespeichert bleiben. Wohl auch deshalb beschränkten die Kommissare ihre Vernehmung auf das Allernötigste. Mechanisch stellten sie jene unnützen, routinemäßigen Fragen, von denen sie eigentlich schon von vornherein wussten, dass sie ihre Ermittlungen nicht wirklich voranbringen, stattdessen aber der ohnehin bereits schwer angeschlagenen Psyche der Zeugin noch ein weiteres Mal gewaltig zusetzen würden. Es gab Situationen, in denen hasste Elin ihren Job wie die Pest, und dies war wieder mal einer jener Momente.
„Hierdrauf steht meine Nummer.“ Treblow griff in die Innentasche seiner Winterjacke, zog seine Karte heraus und reichte sie Nathalie Hartung. „Falls Sie Hilfe brauchen oder Ihnen noch etwas einfallen sollte, rufen Sie mich an, jederzeit, egal wie spät es ist.“ Das sagt sich so leicht, ging ihm für einen kurzen Augenblick das ganze Dilemma seines Berufes durch den Kopf. Seine Tochter las vielleicht gerade den Zettel, den er ihr auf dem Küchentisch hinterlassen hatte, ehe er zu diesem Ort des Grauens aufgebrochen war. Vermutlich ahnte sie längst, dass das gemeinsame Wochenende mit ihrem Vater, auf das sie sich so sehr gefreut hatte, aller Voraussicht nach wieder einmal seiner Arbeit zum Opfer fallen würde, und hockte nun zurecht frustriert in ihrem Zimmer. Sie befand sich nun mal in einer äußerst schwierigen Phase ihres jungen Lebens, in der sie ihre Eltern dringender denn je gebraucht hätte. Aber ihre Mutter war tot, und Sebastian hatte viel zu selten genügend Zeit für sie. Wildfremden Personen hingegen gab er bereitwillig seine Handynummer und bot ihnen wie selbstverständlich an, ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit anzurufen. Aber die Geißel der permanenten Erreichbarkeit gehört nun mal zu den Schattenseiten des Kriminalistendaseins. Das Verbrechen und seine Akteure haben eben niemals Feierabend. Zeugen wollen reden, wann immer ihnen danach ist, und die Ermittler sind dankbar für jeden Hinweis, der ihnen dabei helfen könnte, einen Täter hinter Schloss und Riegel zu bringen, egal wie spät es ist. Deshalb befinden sich ihre Antennen beinahe zwangsläufig in permanenter Empfangsbereitschaft – das ist nun mal untrennbarer Bestandteil ihres Jobs, in dem sie aufgehen, ihre Familien und ihr Privatleben jedoch mitunter geradezu wie auf einem Altar opfern.
Unterdessen waren zwei kräftige Männer in roten Jacken und weißen Hosen damit beschäftigt, den leblosen Torso in einen Leichensack zu verfrachten, damit er schließlich in das Institut für Rechtsmedizin der Universität Rostock überführt werden konnte. „Die Forensiker werden sicherlich eine Zeitlang brauchen, um der Ärmsten ihr Gesicht zurückzugeben“, gab Elin zu bedenken, die noch immer weiß wie eine Kalkwand war. Welch grauenvolles Puzzlespiel, ging es ihr durch den Kopf.
„Stimmt, es dürfte in der Tat ein hartes Stück Arbeit sein, sie wieder einigermaßen fotogen zurechtzuschustern“, gab Sebastian mit unpassendem Sarkasmus zurück, mit dem er vermutlich nur seine eigene Fassungslosigkeit überspielen wollte.
Tarhan musterte ihren Kollegen mit entgeisterten Blicken und knuffte ihn kurz in die Seite. „Statt makabere Späße zu machen, verrate mir lieber, was du von der Sache hältst.“
„Schwer zu sagen. Wer immer das Mädchen kaltgemacht hat, er hat ganze Arbeit geleistet, und das ganz sicher nicht ohne Grund“, murmelte er nachdenklich und kaum hörbar vor sich hin.
„Wenn du mich fragst, war das hier kein gewöhnlicher Mord, sondern eine eiskalte Hinrichtung“, entgegnete die Kommissarin. „Irgendjemand muss entweder unbändigen Hass auf sie gehabt haben, oder aber er wollte mit der extremen Brutalität der Tat sozusagen ein Zeichen setzen, wie es beispielsweise in mafiösen Kreisen gang und gäbe ist.“
„Eine interessante Theorie“, entgegnete Sebastian anerkennend. „Aber mich beschäftigt vor allem die Frage, ob das hier ein Einzelfall ist oder wir es womöglich mit einem irren Frauenhasser zu tun haben, der, während wir uns hier den Kopf zermartern, vielleicht schon sein nächstes Opfer im Visier hat.“
„Falls du mit deiner Annahme richtig liegen solltest, wäre freilich höchste Eile geboten“, mahnte Elin. „Aber natürlich ist auch das derzeit nicht mehr als eine Theorie.“
„Vollkommen richtig“, lenkte Treblow umgehend ein. „Aber wenn meine Vermutung stimmt, dann reden wir gerade über einen gemeingefährlichen Psychopathen, der schon bald erneut zuschlagen könnte. Und wenn es irgendwie geht, würde ich ihm gern zuvorkommen.“
„Soweit okay“, replizierte Tarhan. „Und wie verfahren wir weiter?“
„Fahr du schon mal ins Präsidium! Ich bespreche mich derweil noch kurz mit Frau Dörfel und komme dann so bald wie möglich nach“, antwortete der Hauptkommissar. „Zuallererst müssen wir die Identität der Toten klären. Also setz deinen zauberhaften Hintern schon mal an den Computer. Vielleicht spuckt der ja eine passende Vermisstenmeldung aus.“
„Und wovon träumst du nachts?“, entgegnete Tarhan schnippisch.
„Manchmal geschehen ja noch Zeichen und Wunder.“
„Und wenn nicht?“
„Dann werden wir wohl oder übel die Medien einschalten und sie mit ein den entsprechenden Informationen füttern müssen. Aber ich gehe mal davon aus, dass die sich auch so das Maul zerreißen werden. Auf so ´ne Story stürzen die sich doch wie die Geier.“
„Wenigstens hat das Opfer auch ohne Gesicht so einiges zu bieten“, machte Elin vorsichtig auf Optimismus, wobei sie vor allem an das auffällige Tattoo und den markanten Körperschmuck dachte. „Das könnte unsere Chance sein.“
„Zumindest ist das schon mal ein Anfang“, stellte Treblow sachlich nüchtern fest. „Und nun mach dich vom Acker!“
„Okay, dann bin ich jetzt mal weg.“ Sichtlich froh, endlich der grausamen Szenerie entfliehen zu können, ging Tarhan schnellen Schrittes zu ihrem Wagen, öffnete die Fahrertür und ließ sich erschöpft auf den kalten Ledersitz fallen. Sie brauchte einige kurze Augenblicke der Besinnung, ehe sie den Schlüssel ins Zündschloss steckte, den Motor anließ und schließlich in einer blau-grauen Abgaswolke davonbrauste.