Читать книгу Tödliche Trance - Nick Bukowski - Страница 12
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ОглавлениеDem karg möblierten Büro hätte eine Renovierung gut zu Gesicht gestanden. Unpersönlich wies ein rundes Plastikschild mit rotem Rand und einer durchgestrichenen Zigarette auf das hier bestehende Rauchverbot hin. Die vergilbten Gardinen und der gelblich-braune Schmierfilm auf der Deutschlandkarte an der Wand zeugten jedoch davon, dass es auch die Hüter des Gesetzes mit selbigem nicht immer ganz so genau nahmen. Die Einrichtung des Zimmers wurde von drei wandhohen, grauweißen Resopalschränken, die von oben bis unten mit Ordnern vollgepfropft waren, sowie zwei einfachen, frontal aneinandergestellten Schreibtischen mit heller Kunststoffoberfläche dominiert. Während der eine akkurat aufgeräumt wirkte, war der andere mit Aktenbergen und Papierstapeln förmlich übersät. Ein Plastebecher mit Mickymaus-Motiven – eigentlich ein ziemlich wertloses Mitbringsel aus einem Florida-Urlaub, zugleich jedoch Erinnerung an ein längst vergangenes Familienidyll – beherbergte ein Sortiment an Kugelschreibern, Textmarkern und anderen mehr oder weniger nützlichen Gehilfen und schien das einzige einigermaßen geordnete Element an Sebastians Arbeitsplatz zu sein. Ganz ohne Zweifel war er der ungekrönte König des strukturierten Chaos´ und wehe dem, der es wagte, hieran etwas durcheinanderzubringen. Tarhan verkörperte diesbezüglich das ganze Gegenteil. Neben einem wuchtigen, stets griffbereiten Notizzettel-Würfel waren lediglich ein paar Stifte, eine Schere und ein kleines Holzlineal in einer anthrazitfarbenen, mehrfach unterteilten Federschale gelagert, während alle übrigen Utensilien ordentlich in einem Rollcontainer unter ihrem Schreibtisch ruhten. Die Unterlagen der aktuell zu bearbeitenden Fälle fanden ihren Platz in einfachen, aber durchaus zweckmäßigen Kunststoffablagen zu ihrer Linken. Rechtsseitig waren, wie bei ihrem Kollegen auch, Computertastatur, Maus und ein moderner Flachbildschirm platziert, der so gar nicht in die triste Büroidylle a la Bitterfelder Barock in Sprelacard-Ausführung passen wollte. Außerdem hatte Elin die Angewohnheit, vor allem wenn sie angespannt war oder über etwas grübelte, mit Büroklammern herumzuspielen und diese solange hin und her zu biegen, bis sie endlich in zwei Teile brachen. Wie andere Leute Knabberzeug hatte sie deshalb stets eine ausgediente Creme-21-Dose voller dieser drahtigen Gesellen an ihrem Platz stehen. In einer separaten Schublade bunkerte sie zudem ein paar Schminkutensilien für den Notfall, welche allerdings schon länger nicht benutzt worden und vermutlich längst eingetrocknet waren, einen Deoroller sowie einige Stangen Pfefferminzdragees. Obendrein hatte sie stets einige Packungen Zellstofftaschentücher sowie drei, vier Schachteln Lord Extra auf Vorrat, die ihr jedoch immer mal wieder ausgingen, obwohl sie selbst diesem Laster schon vor langer Zeit abgeschworen hatte. Dafür war Treblow gelegentlich umso dankbarer für diese eiserne Ration im Schreibtisch seiner Partnerin.
Die junge Frau, die soeben ihr Büro betreten hatte, stellte sich als Jasmin Bartzsch vor. Sie mochte schätzungsweise drei-, vierundzwanzig sein und blickte die Beamten aus funkelnden, smaragdgrünen Katzenaugen an. Ihr dunkles Makeup wirkte auf ihrer blassen, leicht sommersprossigen Haut etwas überzogen. Das schmale Gesicht wurde von einer dezent nach oben driftenden Nase geprägt und ihren Kopf zierte ein gerade geschnittener, brünett-rötlicher Bob mit Seitenscheitel. Beide Ohren waren mit mehreren Steckern und Kreolen vollgepflastert. Darüber hinaus trug sie neben dem rechten Auge ein auffälliges Teardrop-Piercing sowie einen kleinen Ring in ihrem linken Nasenflügel. Sie war ziemlich groß und ausgesprochen schlank. Ihren zierlichen, aber dennoch recht knackigen Hintern betonte eine hautenge schwarze Jeans, die in hellbeigen Wildlederstiefeletten mit gefährlich hohen, spitzen Absätzen mündete, was ihre ohnehin schon endlos scheinenden Beine noch ein Stück länger wirken ließ. Ein kurzer, blassgelber Rollkragenpulli, der, als wolle sie dem winterlichen Wetter damit trotzen, einen schmalen Streifen nackter Haut über dem weißen, nietenbesetzten Gürtel an ihrem Hosenbund hervorblitzen ließ, vollendete ihre insgesamt äußerst attraktive Erscheinung. Zumindest rein figürlich hätte sie gut und gern als Mannequin durchgehen können. Dennoch verkörperte sie einen Typ Frau, den Treblow nicht sonderlich mochte. „Also, die, die Sa-Sache ist folgende“, begann sie stotternd. „Es geht um meine, meine Freu-Freundin oder besser gesagt meine Kollegin. Eigentlich waren wir für gestern Abend verabredet.“
„Ja und?“, entgegnete Sebastian ein wenig ungehalten.
„Na ja. Sie ist nicht gekommen.“
„Sie ist nicht gekommen?“, echote Elin.
„Ja, n-nicht gekommen.“
„Soll vorkommen.“ Treblow klang gereizt. Wir ermittelten in einem Mordfall, und da kommt diese aufgebrezelte Tussi mit so ´nem Kinderkram.
„Ja schon. Aber ich habe sie seitdem zigmal angerufen, doch sie war nicht zu erreichen.“
„Auch das soll vorkommen“, gab der Kommissar noch ein Stück weit genervter zurück.
„Eigentlich sollte sie bei mir übernachten. Und heute wollten wir dann zusammen nach Berlin fahren. Sie hatte sich übelst darauf gefreut.“
„Was wollten Sie in Berlin?“ Die Antwort interessierte Sebastian nicht wirklich, doch er hatte die Frage nun einmal in den Raum geworfen.
„Na ja, was man in Berlin halt so machen kann: Sightseeing, bummeln, shoppen und so weiter. Heute Abend wollten wir dann zum Kudamm. Da hat vor kurzem so ´n neuer Club aufgemacht. Sie meinte, der wäre total abgefahren und wollte unbedingt da rein.“
„Und jetzt glauben Sie, ihr könnte etwas zugestoßen sein?“ Treblows Frage klang eher nach einer Feststellung.
„Ich habe es heute Vormittag immer wieder auf ihrem Handy versucht. Gegen halb zehn bin ich dann zu ihrer Wohnung, aber es hat niemand aufgemacht.“ Ihre Stimme stockte und ihre Augen begannen vor Feuchtigkeit zu glitzern. „Ich mache mir echt Sorgen, dass ihr was passiert sein könnte.“
„Wie heißt Ihre Freundin?“, hakte Elin nach.
„Franzi. Ich meine Franziska, Franziska Klein.“
Plötzlich fiel es den Beamten wie Schuppen von den Augen. Schlagartig wurde ihnen klar, dass die Person, die ihnen gerade gegenübersaß, möglicherweise den Schlüssel zur Identität des bisher noch namenlosen Opfers vom Küstenwald in der Hand hielt. Der Kettenanhänger, die Initialen FK, arbeitete Tarhans Gehirn auf Hochtouren. FK wie Franziska Klein – das könnte passen. Sollte uns Kommissar Zufall tatsächlich so schnell zur Seite stehen?
„Haben Sie ein Foto von ihr, oder können Sie sie beschreiben?“, fragte Sebastian, dessen Aufmerksamkeit scheinbar in Lichtgeschwindigkeit von Null auf Hundert gestiegen war.
„Ein Foto leider nicht. Aber ich kann sie Ihnen, glaub ich, ganz gut beschreiben.“ Regelrecht stoisch zählte Jasmin Bartzsch sodann die markantesten Merkmale ihrer Kollegin auf: einundzwanzig Jahre, klein und schlank, halblange, blonde Haare mit farbigen Strähnchen, dazu ein silbernes Bauchnabelpiercing, ein Tattoo in ihrer Leistengegend und nicht zuletzt das Halskettchen mit der vielsagenden Buchstabenkombination. Es passte alles, aber wirklich alles wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge, ehe sie fast etwas verschämt ein weiteres Detail hinzufügte: „Und dann gibt es da noch so einen Schmetterling.“
„Einen Schmetterling?“, echote Elin mit fragender Miene. „Was meinen Sie damit?“
„Na ja, so eine Tätowierung auf ihrem, na ja, ihrem …“ Anstatt den Satz zu vollenden, zeigte sie mit dem Finger auf ihren Allerwertesten.
„Sie meinen so ein Arschgeweih?“, nahm Treblow kein Blatt vor den Mund.
„Nö, kein Arschgeweih. Ein Tattoo, ein Schmetterling, ziemlich bunt, auf ihrer Arsch-, äh, ich meine Pobacke.“
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Ein paar ungläubige Blicke flogen durch den Raum. „Rechts oder links?“, nahm Tarhan schließlich den Gesprächsfaden wieder auf.
„Wa-was?“, stammelte Jasmin Bartzsch.
„Das Tattoo, der Schmetterling“, entgegnete die Kommissarin. „Trägt sie ihn auf der linken oder rechten Arschbacke?“
Die Gefragte überlegte einen kurzen Moment, ehe sie schließlich antwortete: „Links, glaube ich.“ Es folgte nochmals eine kurze Pause. „Nein, ich bin mir sicher. Links“, schob sie schließlich hinterher. „Es ist links und ganz nebenbei ziemlich ausgefallen. Ich sehe es ja fast jeden Tag bei uns in der Praxis, in der Umkleide. Sie hat ja immer nur Strings an, selbst jetzt, bei dieser Schweinekälte.“
Waren sich die Ermittler eben noch beinahe hundertfünfzigprozentig sicher, dass ihnen die junge Frau gerade unbewusst den Namen des Opfers auf dem Silbertablett serviert hatte, so überkamen sie nun doch wieder leise Zweifel. Eigentlich passte jedes Detail zu der Toten vom Küstenwald, bis auf die zuletzt erwähnte Tätowierung. Zumindest war ihnen eine solche am Fundort nicht aufgefallen, allerdings war der Leichnam dermaßen blutverkrustet gewesen, dass man ein solches Detail fürs Erste durchaus übersehen haben konnte. Aber solange diesbezüglich keine endgültige Klarheit herrschte, gehörte eine gesunde Portion Skepsis nun mal in den Werkzeugkasten eines jeden umsichtigen Kriminalisten. „Wir brauchen Adresse und Telefonnummer von Ihrer Freundin“, klinkte sich Sebastian schließlich wieder in die Konversation ein.
Umständlich fummelte Jasmin Bartzsch in ihrer Handtasche, bis ein schwarzes Etwas zum Vorschein kam. Es wirkte flach wie eine Flunder und war ihr Smartphone. Sekunden später nannte sie eine Adresse in der Kirchnerstraße in Warnemünde und eine mehrstellige Zahlenfolge. Elin notierte die Angaben auf einen Zettel und verschwand sogleich wortlos aus dem Zimmer.
Das Handy auf Treblows Schreibtisch vibrierte unterdessen wie eine Libelle und bettelte mit einem monotonen Surren darum, dass sein Besitzer doch endlich rangehen möge. „´tschuldigung“, warf er mechanisch in Richtung Jasmin Bartzsch, als er auf dem Display neben einem kleinen Herz den Schriftzug Mel entdeckte, und fügte sogleich ein erklärendes „meine Tochter“ hinzu. Nachdem die letzten Bereitschaftsdienste ziemlich ruhig verlaufen waren, hatte er ihr leichtsinnigerweise Hoffnungen auf einen gemeinsamen Tag gemacht. Erst wollten sie zum Schlittschuhlaufen in die nahegelegene Eishalle, bei gutem Wetter vielleicht noch in den Zoo und sich abends dann beim Griechen ihre Bäuche vollschlagen. Sie hatte sich so darauf gefreut, aber dann war ihr diese Notiz ihres Vaters auf dem Küchentisch in die Hände gefallen und ihre Stimmung augenblicklich auf den Nullpunkt gesunken. Aus Erfahrung wusste sie, dass Ich versuche, so schnell wie möglich zurück zu sein nichts anderes als Tut mir leid, aber heute wird es leider nichts, vielleicht klappt es ja ein anderes Mal bedeutete. Selbst das Versprechen, sie alsbald anzurufen, war dann üblicherweise nicht mehr als eine bedeutungslose Floskel. Wenn die Arbeit ihn erst einmal als seine Geisel genommen hatte, dann ließ sie ihn so schnell nicht mehr frei. Und beinahe schien es, als wolle er auch gar nicht freigelassen werden, zumindest nicht solange, bis der Fall, um den es gerade ging, endlich gelöst war. „Hallo Große.“ Er sprach sehr leise, beinahe flüsternd.
„Papa, du wolltest dich doch melden“, hauchte ein betrübtes Stimmchen am anderen Ende vorwurfsvoll.
„Tut mir leid, mein Schatz. Ich hab´s einfach bisher nicht geschafft. Aber wir haben hier einen echten Notfall.“
„Du immer mit deinen Scheiß Notfällen. Wir wollten doch …“
Er fiel ihr spürbar genervt und ziemlich harsch ins Wort: „Ich weiß. Tut mir ja auch wirklich leid. Aber das werden wir wohl oder übel verschieben müssen.“
„Das sagst du doch immer“, regte sich leiser Protest, den er jedoch geflissentlich ignorierte.
„Mach dir was zu Mittag! Im Kühlschrank sind noch Nudeln von gestern. Oder du holst dir eine Pizza bei Giovanni. Ich melde mich nachher nochmal.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte er das Gespräch weg und wandte sich wieder Jasmin zu.
Elin hatte inzwischen wieder hinter ihrem Schreibtisch platzgenommen und ihrem Kollegen ein für den Außenstehenden kaum vernehmbares Kopfschütteln zugeworfen, welches hinsichtlich Franziska Klein nichts Gutes verhieß. Ihr Instinkt sagte ihr, dass die Stimme auf der Mailbox, welche sie vor wenigen Minuten aufgefordert hatte, Namen und Rufnummer zu hinterlassen, längst aus dem Jenseits kam. Und auch das Versprechen, umgehend zurückzurufen, würde sich in diesem Leben wohl nicht mehr erfüllen, denn sie hatte vermutlich ein Telefonat mit einer Toten geführt.
„Was können Sie uns sonst noch über Ihre Freundin sagen?“, nahm Treblow das Gespräch scheinbar unbeeindruckt wieder auf.
„Was wollen Sie wissen?“
„Alles. Woher kommt sie? Eltern, Geschwister, Angehörige, Freunde, Männergeschichten, Job, Hobbys, alles, was Ihnen zu ihr einfällt. Erzählen Sie einfach frei von der Leber weg!“
Jasmin Bartzsch gönnte sich eine kurze Pause zum Nachdenken, ehe sie schließlich munter drauflos zu plaudern begann: „Also, ich bin seit fünfeinhalb Jahren in der Praxis von Dr. Pacholski. Franzi hat bei uns als Azubiene angefangen, als ich im letzten Lehrjahr war. Sie kam aus Schleswig-Holstein, aus Lübeck, glaube ich, wollte aber um jeden Preis weg von da. Es ist ihr vor allem am Anfang sehr schwer gefallen, weil … na ja, sie hatte ja hier niemand. Jedenfalls hat sie ziemlich oft geweint, und wir dachten schon, sie schmeißt beizeiten hin. Aber letztendlich hat sie sich doch durchgebissen.“
„Hat sie Ihnen gegenüber vielleicht irgendwann mal erwähnt, warum sie unbedingt von daheim weg wollte?“, unterbrach Sebastian sie kurz.
Die junge Frau räusperte sich und schluckte hart, ehe sie fortfuhr. „Eigentlich spricht sie so gut wie nie über ihre Vergangenheit. Aber sie muss wohl ein ziemlich beschissenes Elternhaus gehabt haben.“
„Hat sie einen Freund? Lebt sie mit jemandem zusammen?“, wollte Treblow unterdessen wissen.
Jasmin Bartzsch rollte mit ihren grünen Augen. „Na ja, ich weiß nicht. Jonas vielleicht.“
„Jonas – und wie weiter? Und vor allem was heißt vielleicht?“
„Jonas eben. Weiner, Meinert oder so ähnlich, glaube ich. Sie sind mal zusammen und dann auch wieder nicht. Aber wozu wollen Sie das alles wissen?“
„Sie wollen doch auch, dass wir Ihre Freundin so schnell wie möglich finden“, erinnerte Sebastian sein Gegenüber an den ursprünglichen Grund ihres Besuchs. „Also wohnt sie allein?“
Die Antwort bestand aus einem wortlosen Nicken.
„Affären?“, warf er einsilbig in den Raum.
„Affären?“, echote die Gefragte. „Und ob. Jede Menge. Franzi kann von Männern einfach nicht genug bekommen. Sie nimmt sich, was und wen sie will. Heute diesen, morgen jenen, übermorgen den nächsten und überübermorgen wieder einen anderen … Sie ist ein richtiger kleiner Samentanker.“ Augenblicklich erschrak sie über ihre eigene, unbeabsichtigt obszöne Wortwahl und wurde puterrot im Gesicht. „Mir tut nur Jonas leid, der ist so ein lieber Kerl. Bei dem kann sie machen, was sie will. Er verzeiht ihr immer wieder. Keine Ahnung, wie oft sie ihn schon betrogen hat. Nicht mal vor dem Chef …“, wollte sie fortsetzen, stoppte aber mitten im Satz, als hätte sie soeben ein großes Indianergeheimnis preisgegeben.
„Moment mal“, nahm Treblow den Ball umgehend auf. „Heißt das, sie hat was mit ihrem Boss?“
„Na ja. Eigentlich soll das ja keiner wissen. Schließlich ist er verheiratet und hat Familie. Aber in Wahrheit pfeifen es die Spatzen von den Dächern, dass zwischen den beiden was läuft.“
„Langsam, noch mal zum Mitschreiben“, stocherte der Kommissar nach. „Wollen Sie damit sagen, Franziska Klein und … Wie heißt er Kerl doch gleich?“
„Pacholski, Dr. Alexander Pacholski“, half ihm Jasmin Bartzsch bereitwillig auf die Sprünge.
„… haben ein Verhältnis miteinander?“, vervollständigte er seine bereits begonnene und offenbar zutreffende Schlussfolgerung.
„Ja und nein“, entgegnete die junge Frau etwas wankelmütig. „Ich weiß nicht, ob man das tatsächlich Verhältnis nennen kann. Ich würde es eher eine Bettgeschichte nennen. ER bumst eigentlich so ziemlich jede, die ihm vor die Flinte kommt. Und SIE lässt kaum einen Schwanz aus. So gesehen passen die beiden bestens zusammen.“ Urplötzlich hatte ihre Stimme einen merkwürdig aggressiven Klang.
Sebastians feinfühligen Sensoren war die unterschwellige Veränderung in ihrer Tonlage nicht entgangen, und er glaubte, den Grund hierfür zumindest zu erahnen. Ich könnte wetten, dass er dich auch schon flachgelegt hat, ratterten seine Gedanken wie ein Uhrwerk. Irgendwann hatte er dann wahrscheinlich genug von dir und hat sich ein neues Spielzeug zugelegt. Aber wem gefällt es schon, ins zweite Glied abgeschoben zu werden? „Belastet so eine – nennen wir es mal vorsichtig – Romanze denn nicht das Arbeitsklima?“, tastete er sich behutsam vor.
Die einzige Reaktion war ein nichtssagendes „Geht so“.
„Hat oder hatte er vielleicht auch was mit anderen Mitarbeitern?“, schob Treblow sogleich doppelzüngig hinterher.
Es war nicht zu übersehen, wie es der Angesprochenen schlagartig die Röte ins Gesicht trieb. Das Thema war ihr offenbar peinlich. „Was hat das mit Franzi zu tun, wozu um alles in der Welt wollen Sie das wissen?“, reagierte sie schließlich mit einer Gegenfrage.
„Nennen Sie es einfach berufsbedingte Neugier“, entgegnete Sebastian mit einem schelmischen Grinsen. „Also, was ist? Ich höre ...“
Jasmin Bartzsch konnte ihre wachsende Anspannung nicht verbergen. Nervös knaupelte sie an ihren grelllackierten Fingernägeln. Sie wirkte wie ein Kind, das man bei einer Dummheit ertappt hatte und starrte beinahe apathisch die hochaufragenden Aktenschränke an der gegenüberliegenden Wand an. Sie erwiderte kein Wort, sondern zuckte nur leicht mit den Schultern, aber ihre Körpersprache war Antwort genug.
Mit diesem Doktor würde ich doch zu gerne einmal plaudern und vor allem sein Personal begutachten. Vielleicht sucht er sich ja ganz gezielt solche Schnecken aus, vernascht sie und wenn er genug von ihnen hat, nimmt er sich die nächste. Obwohl noch nicht einmal die Identität des Opfers zweifelsfrei bewiesen war, brütete Treblows Ermittlerhirn bereits instinktiv über potentielle Täter und mögliche Motive. Und hier schien es durchaus einige Ansatzpunkte zu geben. Schließlich kann es äußerst schmerzhaft sein, nicht mehr begehrt zu werden und einer anderen weichen zu müssen. Eifersucht, Neid und Hass haben schon Staatskrisen ausgelöst, hämmerte es in seinem Kopf. Aber auch dieser Zahnklempner könnte durchaus eine Schlüsselfigur in diesem mysteriösen Mordfall sein oder vielleicht sogar mehr. Und dieser Weiner, Meiner oder wie auch immer: vielleicht hatte er irgendwann doch genug von ihren ständigen Demütigungen. „Frau Bartzsch, kennen Sie die Adresse von diesem Jonas?“, nahm er das Gespräch schließlich wieder auf, während seine Kollegin sich scheinbar geistesabwesend mal wieder an einer Büroklammer verging.
„Ich glaube, er wohnt in Reutershagen in einer WG. Aber ganz genau weiß ich das auch nicht.“
„´ne Handynummer?“, hakte Sebastian einsilbig nach.
„Nee. Sorry, tut mir leid.“
„Okay. Dann nochmal zurück zu Ihrer Freundin. Wissen Sie, wo ihre Eltern wohnen?“, fragte Elin.
„Ich nehme an, irgendwo in Lübeck. Aber wie gesagt, sie muss ziemlichen Beef mit ihren Alten gehabt haben. Soviel ich weiß, hat schon seit ein paar Jahren keinen Kontakt mehr zu ihnen.“
„Und was ist mit sonstigen Angehörigen, Großeltern, irgendwelchen Tanten oder Onkels? Hat sie vielleicht Geschwister?“, ließ die Kommissarin nicht locker.
„Nicht, dass ich wüsste“, gab die junge Frau kopfschüttelnd zurück. „Mit mir hat sie jedenfalls noch nie über Verwandte oder so was gesprochen. Sie redet eigentlich nie über ihre Familie.“
Warum, verdammt noch mal, geht ein junges Mädchen so früh von daheim weg und reißt offenbar alle, aber wirklich ALLE Brücken hinter sich ab?, sinnierte Treblow. Kein Kontakt mehr zu Eltern und Verwandten, die ganze eigene Vergangenheit wie ausradiert. Da muss doch irgendetwas ganz besonders Schwerwiegendes tiefe Schatten in ihrem früheren Leben hinterlassen haben, arbeiteten seine Windungen erneut auf Hochtouren. „Die Personalakte!“, platzte es auf einmal aus ihm heraus. „Ihr Chef hat doch bestimmt eine Personalakte von ihr.“
„Davon gehe ich mal aus“, entgegnete Jasmin zögerlich. „Aber was versprechen Sie sich davon?“
„Na was wohl? Informationen über Franziska Klein“, blaffte Sebastian unnötig scharf. „Ich nehme an, Sie kennen Pacholskis Privatanschrift?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, schob er der Gefragten wortlos Papier und Stift herüber.
Bereitwillig kritzelte sie die gewünschten Angaben auf den Zettel, ehe beides wieder zu Treblow zurückwanderte.
Ein schrilles Läuten durchbrach die Stille ohne jede Vorwarnung. Als hätte sie den Anruf sehnlichst erwartet, griff Oberkommissarin Tarhan sofort nach dem Hörer und führte ihn eilig an ihr linkes Ohr, ehe sie sich vorschriftsmäßig mit Namen und Dienstgrad meldete. Der Teilnehmer am anderen Ende der Leitung schien einen Monolog zu führen, der allenfalls sporadisch von einem gelegentlichen „Ja“ aus Elins Mund unterbrochen wurde. Nach nicht einmal einer Minute war das Telefonat dann auch schon wieder beendet. „Frau Büttner.“ Es bedurfte lediglich dieser zwei Worte sowie eines seichten, kaum wahrnehmbaren Nickens, damit Sebastian verstand. Schließlich waren die beiden seit Jahren ein verschworenes Team und verstanden sich geradezu blind. Wie in einer eingespielten Fußballmannschaft kannte der eine die Laufwege des anderen, dessen Gedanken, die Mimik und Gestik sowie natürlich auch seine Marotten.
„Wissen Sie etwas über Franzi? Haben Sie sie gefunden?“ Das Mädchen mit der Modelfigur starrte mit weit aufgerissenen Augen ziellos in die Gegend. Hilfesuchend wanderten ihre Blicke wie das Pendel einer Uhr zwischen den beiden Ermittlern hin und her.
Treblow ließ sich für einen Moment in seinen Bürosessel zurückfallen und atmete tief durch, als wolle er dadurch die unangenehme Wahrheit noch für ein paar Millisekunden zurückhalten. „Frau Bartzsch, wie es aussieht, haben wir Ihre Freundin gefunden. Der endgültige Beweis steht zwar noch aus, aber wir müssen davon ausgehen, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist.“
Es traf sie wie ein gewaltiger Tritt in die Magengrube, und ein Meer aus Tränen ergoss sich augenblicklich über ihr schmales Gesicht. Pechschwarze Rinnsale ausgelaufener Mascara überfluteten ihre mit viel zu viel Rouge gepuderten Wangen.
Elin öffnete eine Schublade ihres Schreibtischs, kramte eine Packung Zellstofftaschentücher hervor und reichte sie der jungen Frau. Sie selbst griff in die Creme-21-Dose und begann, sich an der nächsten Büroklammer zu schaffen zu machen. „Wie mein Kollege bereits sagte, wissen wir noch nicht hundertprozentig, ob sie es wirklich ist. Aber im Moment spricht leider einiges dafür.“ Es war ein ebenso krampfhafter wie vergeblicher Versuch, noch ein klitzekleines Fünkchen einer Hoffnung aufrechtzuerhalten, die in Wahrheit längst gestorben war. Jasmin heulte wie ein Schlosshund, denn – so sehr sie sich innerlich auch gegen die grausame Erkenntnis wehren mochte – ihr war längst klar, dass die Chance, ihre Freundin könnte noch am Leben sein, mittlerweile stark gegen Null tendierte.
„Es tut mir leid, Frau Bartzsch. Aber ich muss Sie das fragen“, versuchte Sebastian schließlich, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen. „Wo waren Sie gestern Abend zwischen zehn und zwölf?“
„Sie glauben doch nicht etwa, ich hätte sie …“ Sie brachte es nicht übers Herz, die grausige Vokabel auszusprechen.
„Im Moment glauben wir gar nichts“, beschwichtigte Treblow. „Es ist nur eine Routinefrage mit der Bitte um eine einfache Antwort.“
„Ich war zu Hause und hab stundenlang auf Franziska gewartet. Wie schon gesagt, wir wollten uns eigentlich einen gemütlichen Abend machen und heute nach Berlin.“
„Sie sagten, Sie hätten sie wiederholt angerufen.“
„Ja, das habe ich, immer und immer wieder. Aber sie hat sich nicht gemeldet. Ich blöde Kuh, ich hätte mir doch denken können, dass da etwas nicht stimmt“, schluchzte sie. „Ich hätte es verhindern können, nein, ich hätte es verhindern müssen. Wahrscheinlich würde sie noch leben, wenn ...“ Sie schaffte es nicht, den Satz zu vollenden. Stattdessen feierten die Tränen in ihren Augen ein trauriges Comeback.
„Nicht doch. Sie trifft keine Schuld“, versuchte Tarhan sie zu beruhigen. Es entstand eine Pause von mehreren Minuten, bis sie schließlich das Gefühl hatte, ihr Gegenüber könnte für weitere Fragen wieder empfänglich sein. „Erinnern Sie sich, wann genau Sie Ihre Freundin gestern Abend angerufen haben?“
„Also, das erste Mal müsste so gegen acht gewesen sein, vielleicht auch etwas später. Aber ich hab´s danach noch ein paar Mal versucht.“
„Und wie lange?“, hakte Treblow nach.
Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: „Na ja, so bis um zehn vielleicht.“
„Und dann?“, wollte er wissen.
„… hab ich´s irgendwann aufgegeben“, setzte sie seinen Satz fort.
„Und was haben Sie gemacht, nachdem Sie es aufgegeben hatten?“
„Ich hab ein Bad genommen, noch ein bisschen gelesen und bin dann ziemlich schnell schlafen gegangen“, zählte die Gefragte auf.
„Moment mal“, echauffierte sich der Kommissar. „Jetzt nochmal zum Mitschreiben: Sie waren mit Frau Klein verabredet, aber sie ist nicht gekommen. Richtig?“
Betretenes Nicken.
„Daraufhin haben Sie mehrfach bei ihr angerufen, aber sie nicht erreicht. Richtig?“
Erneut betretenes Nicken.
„Und nach alledem haben Sie nichts Besseres zu tun, als seelenruhig ein Bad zu nehmen, ein bisschen zu lesen und ins Bett zu gehen. Und heute kommen Sie hierher und spielen uns die besorgte Freundin vor.“
„Ich dachte, sie und Pacholski …“, stammelte die Angesprochene kleinlaut ohne den Satz zu vollenden, aber ihre Miene sprach Bände. „Und außerdem war ich hundemüde und wollte einfach nur noch ins Bett.“
„Gibt es vielleicht jemanden, der Ihre Angaben bestätigen kann?“ Sebastian klang beinahe gelangweilt, war in Wirklichkeit aber alles andere als das, sondern versuchte nur einfach, seine Abneigung gegen diese Frau so gut es ging zu kaschieren, ohne dass es ihm vollständig gelang.
„Was soll das? Was wollen Sie von mir?“, platzte es aus ihr heraus. Sie wirkte aufgebracht, als hätte man ihr soeben Hochverrat vorgeworfen. Tränen der Wut schossen aus ihren mascaraverschmierten Augen. Sie rang nach Luft, ihr Puls raste, das Herz schlug ihr bis zum Hals. „Sie verdächtigen doch nicht etwa mich?“
„Noch verdächtigen wir niemanden“, beschwichtigte Tarhan sie in ruhigem Tonfall. „Bisher wissen wir ja nicht mal mit letzter Sicherheit, ob es sich bei dem Opfer tatsächlich um Franziska Klein handelt.“
„Und warum fragt er mich dann sowas?“, entgegnete Jasmin Bartzsch mit näselnder Stimme. Sie fingerte ein neues Zellstofftaschentuch aus der angerissenen Packung, die vor ihr auf dem Tisch lag. Ihr Makeup war inzwischen zu einer grotesken Maske zerlaufen, und der neuerliche Versuch, ihre Tränen wegzuwischen, machte die Situation keinesfalls besser. Mittlerweile sah sie im Gesicht aus wie eine Figur aus einer Geisterbahn.
„Glauben Sie mir, wir machen nur unsere Arbeit. Wenn wir Klarheit betreffs Ihrer Freundin haben wollen, müssen wir einfach jede Möglichkeit in Betracht ziehen“ erörterte Elin, um Treblow gleichzeitig mit einem unmissverständlichen Augenaufschlag zu einer Spur mehr Taktgefühl zu mahnen. „Also, wären Sie so freundlich, die Frage meines Kollegen zu beantworten?“
Die Angesprochene schluchzte und brauchte einige Sekunden, um ihre Fassung wiederzugewinnen. „Seit ich vor gut fünf Monaten mit Kevin Schluss gemacht habe, bin ich Single und wohne allein. Ich habe geschlafen. Und zwar allein, wie seitdem fast immer.“ Mit jedem Wort schwoll ihre Stimme weiter an. „Manchmal wünschte ich, es wäre anders. Aber es ist nicht anders. Und deshalb gibt es leider niemanden, der das bestätigen kann. Bin ich jetzt etwa verhaftet, nur weil ich zurzeit keinen Stecher habe?“
Die Worte schienen der Kommissarin für einige Sekunden die Sprache zu verschlagen, ehe sie auf einmal laut losprustete. Trotz der nervenaufreibenden Situation schien ihr unverhofftes Lachen wie ein ansteckender Bazillus zu wirken, denn in dem verheulten, schminkeverlaufenen Gesicht ihr gegenüber regte sich plötzlich ein zaghaft verschämtes Lächeln, und selbst der eben noch so spröde Sebastian Treblow konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. „Es ist nun mal unser Job, alle und alles zu hinterfragen. Das dürfen Sie nicht persönlich nehmen.“ Sein Tonfall wirkte auf einmal unverhofft freundlich, fast schon ein wenig weichgespült. Vielleicht plagte ihn ja tatsächlich sein schlechtes Gewissen, weil er sich im bisherigen Gesprächsverlauf ziemlich schroff gegeben hatte. Andererseits führte er Verhöre gern nach der Strategie von Zuckerbrot und Peitsche, und offenbar war er gerade mal wieder dabei, ein paar Scheiben Zuckerbrot zu verteilen. „Es ist zwar immer besser, wenn man bei sowas Zeugen hat, aber natürlich wissen wir auch, dass das nicht immer möglich ist. Und deswegen werden wir Sie bestimmt nicht gleich einbuchten, nur weil Sie keinen … Sie wissen schon.“ Er verzichtete darauf, den Satz zu vollenden, musste aber nochmals schmunzeln. Beim besten Willen konnte er nicht glauben, dass dieser heiße Feger wirklich seit fast einem halben Jahr auf dem Trockenen gesessen haben soll. Es klang fast ein wenig entschuldigend, als er sich bei seinem attraktiven Gegenüber für ihre Hilfe bedankte und sie um eine Nummer bat, unter der sie für eventuelle Rückfragen zu erreichen sei. „Möchten Sie vielleicht, dass Sie ein Kollege nach Hause fährt?“
Die Gefragte schüttelte wortlos ihren Kopf, ehe sie aufstand, noch einmal in ein Papiertaschentuch schnäuzte und sich in ihren hellbeigen Kurzanorak pellte. Er passte farblich nahezu perfekt zu ihren hochhackigen Wildlederstiefeletten, auf denen sie schließlich – genauso divenhaft, wie sie vor gut einer Stunde gekommen war – von dannen stakte.