Читать книгу Lila Blitz - Das Geheimnis der Snirq - Nicolas Bjausch - Страница 10
8. Kapitel: „Fallende Masken“
ОглавлениеSeit einiger Zeit veränderte sich etwas: Je länger Lila durch die verdorrte, verlassene Steppe irrte, desto mehr wuchs ihr Mut. Das lag an der Gelegenheit, über all das nachzudenken, was in den letzten Tagen passiert war. Sie hatte doch unzählige Widerstände auf sich genommen. Sie war in eine abenteuerliche Situation nach der nächsten geraten und hatte große Gefahren unbeschadet überstanden. Sogar einer der schlimmsten Alpträume, den sich Lila hatte vorstellen können, war eingetreten. Lila erinnerte sich mit Schaudern daran, wie es auf dem Schiff so weit gekommen war – aber wie zum Glück kein größeres Grauen daraus geworden war.
Bei all dem, was sie in den letzten Tagen erlebt hatte – was konnte ihr da die jetzige Situation schon ausmachen? Hier durch die Gegend zu irren und nicht zu wissen, was sie erwartete, das war doch geradezu läppisch gegen all das, was Lila bisher widerfahren war. Und bei einem war Lila sich sicher: Es konnte kein Zufall sein, dass ihr bis jetzt nichts wirklich schlimmes zugestoßen war. Es war ihr Mut und ihre Entschlossenheit, die ihr geholfen hatten - auf dieser Reise, die als Flucht begonnen hatte und nun die Jagd nach einem Geheimnis geworden war. Ja, Mut und Entschlossenheit. Und diese Erkenntnis konnte Lilas Zuversicht aufrecht erhalten. Sie war nicht mehr das kleine Mädchen, das einsam und abgeschieden von der Welt in einem schiefen Haus im Wald lebte. Sie war Lila. Lila auf der Suche.
Da streifte plötzlich etwas Lilas Schläfe. Im Schwarzgrau der Nacht hätte sie das leicht übersehen können - aber es war tatsächlich ein Blatt gewesen! Ein Blatt, das an einem der Äste der verdorrten Bäume wuchs, an denen Lila vorbeigelaufen war. Ein kräftiges, grünes Blatt! Lila roch daran. Der Duft von frischen Blättern war ihr vertraut. Wenn hier ein saftiges Blatt an einem Zweig wuchs - dann musste es noch mehr Grün hier geben.
Lila hatte keine Zeit, sich an Deck der „Treipan“ auszuruhen. Es war viel zu wichtig, sich ein Versteck zu suchen. Lila konnte sich nicht erinnern, wie viele Menschen sie an Bord des Motorseglers gesehen hatte. Aber es mochten bestimmt fünfundzwanzig oder mehr Männer gewesen sein. Es würde nicht leicht sein, allen verborgen zu bleiben. Einen Augenblick überlegte Lila, ob sie sich vielleicht stellen sollte, möglicherweise als „blinde Passagierin“. Vielleicht waren die Männer an Bord ja so freundlich, sie auf dem Schiff mitfahren zu lassen, ohne dass sie sich verstecken musste. Damit sie sich frei bewegen konnte. Bestenfalls würden ihr die Männer auch etwas zu essen geben.
Bevor Lila das tatsächlich in Erwägung ziehen konnte, musste sie sich allerdings erst einmal einen Eindruck über die Besatzung verschaffen. Zumindest von der Stelle am Heck aus, an der sich Lila jetzt befand, konnte sie niemanden mehr sehen. Aber es war ja auch mitten in der Nacht. Wahrscheinlich hatten sich alle in ihre Kajüten zurückgezogen. Das würde Lilas Suche nach einem angemessenen Versteck vereinfachen. Sie brauchte auch gar nicht lange danach zu schauen. Wie auch auf dem Frachtschiff gab es hier ein Rettungsboot, ein kleines Boot aus Holz mit einem glänzend grauen Anstrich. Es stand am hinteren Teil des Decks. Die Stange des großen, hinteren Segels ragte darüber. Das Boot war mit einer schwarzen Persenning bedeckt. Lila hob die Plane an. Tatsächlich war in dem kleinen Boot genug Platz für Lila, sich dort drin zusammenzurollen und die Persenning wieder darüber zu ziehen. So war Lila perfekt versteckt – und niemand würde Verdacht schöpfen.
Als Lila nur einige Minuten in ihrem neuen Versteck verweilt hatte, hörte sie Schritte, die nicht sehr weit entfernt waren. Zwei Männerstimmen sprachen miteinander. Durch das Rauschen der Wellen und dem hellen Heulen des Windes konnte Lila die Männer nicht genau verstehen. Sie lugte durch eine Öse in der Plane und sah die Beine der Männer, die in den grauen Anzughosen steckten. Edle, glänzende Lederschuhe schauten unten aus den Hosenbeinen heraus.
Obwohl es unmöglich war, dass die Männer Lila hörten, hielt sie den Atem an. Sie waren dem Rettungsboot so nahegekommen, dass Lila sie hätte berühren können. Und jetzt konnte Lila auch deutlich hören, was sie sagten.
„Wann ist es soweit?“ fragte der eine Mann.
„Sobald wir am Rande des Golfs angelangt sind“, antwortete die andere Männerstimme. „Ich würde vorher kein Risiko eingehen wollen.“
„So wie ich die Jungs kenne, werden sie schnell ungeduldig werden“, hielt der erste Mann dagegen.
Der andere Mann schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: „Noch mindestens bis morgen Abend. Dann sind wir weit genug weg von hier. Vielleicht schaffen wir es bis zum Abend auf die westliche Handelsstraße des Golfs. Falls uns dort etwas über den Weg schippert....“
Die Männer gingen weiter. Lila fragte sich, was hier vor sich ging. Die vielen Männer in den feinen Anzügen und mit den Sonnenbrillen – was hatten sie vor? Lila konnte sich keinen Reim darauf machen. Aber in dieser Nacht würde sie mit ihren Gedanken ohnehin nicht mehr weit kommen. So viel war in dieser Nacht geschehen, und Lila fühlte sich erschöpft. Allzu lange bis zur Morgendämmerung würde es nicht mehr dauern. Lila verspürte Hunger, aber das Problem würde sie heute Nacht nicht mehr lösen können. Sie rollte sich zwischen den harten Brettern des Rettungsboots zusammen und legte ihren Kopf auf ihre Unterarme. Es war alles andere als bequem. Aber Lila schloss ihre Augen und hoffte, ein wenig Schlaf zu finden.
Einige Stunden später schreckte Lila aus dem Schlaf hoch. Stimmen und Schritte hatten sie geweckt. Lila wollte wieder durch die Metallöse in der Persenning lugen. Aber sofort nahm sie wahr, dass draußen helles Tageslicht herrschte. Der kleine, grelle Schein, der durch die winzige Öffnung drang, brannte ihr in den Augen, selbst wenn sie nicht einmal direkt durch die Öse hindurchgeschaut hatte.
Die schlurfenden Schritte der harten Schuhe und das unverständliche Gemurmel der vielen Männerstimmen gab Lila ein Gefühl der Beklommenheit. Sie kauerte hier in ihrem Versteck, und um sie herum waren viele unbekannte Menschen. Jeder Augenblick barg die Gefahr, entdeckt zu werden. Sie fühlte sich, als ob gefährliche Raubtiere um sie herumschlichen.
Ab und zu nickte Lila kurz ein. Aber ihr Schlaf dauerte nie lange an. Dafür empfand sie ihre Lage als zu bedrohlich. Immer wieder kreiste die Frage durch ihren Kopf, ob es richtig gewesen war, was sie getan hatte. Auf der „Tyrann“ hätte sie sich gewiss sicherer gefühlt als hier, zwischen all diesen merkwürdigen Männern in Grau. Aber ihre innere Stimme hatte das entschieden. Damit versuchte Lila, sich zu beruhigen und hoffte inständig, dass die Stimme recht gehabt hatte.
Die Stunden verstrichen schleichend. Bis auf die Stimmen und Schritte von draußen tat sich nichts auffälliges. Trotzdem konnte Lila ihre Unruhe nicht beherrschen. Irgendwann überwältigte sie die Müdigkeit trotzdem, und es gelang ihr, wenigstens ein paar Stunden am Stück zu schlafen.
Lila spürte, wie das sonore, monotone Brummen, das sie seit Stunden begleitete, plötzlich verstummte. Das Vibrieren des Bodens hörte auf. Dadurch war sie aus ihrem Schlaf aufgewacht. Einen Augenblick war Lila irritiert. Dann wurde ihr klar, dass die Maschinen des großen Schiffes angehalten worden waren. Vorsichtig wagte Lila einen Blick durch die Öse. Die Sonne war untergegangen. Draußen herrschte wieder schwarze Nacht. Offenbar hatte Lila länger geschlafen, als sie angenommen hatte.
Was sie allerdings auf dem vorderen Deck sah, ließ ihr den Atem stocken. Glücklicherweise fand das, was da vorging, in relativ sicherer Entfernung statt. Bestimmt fünfzehn Meter trennten sie von der Gruppe der Männer, die sich dort formiert hatte. Licht erhellte den Bereich des Decks, so dass alle Anzugträger gut zu sehen waren. Alle schauten auf den vorderen Mast. Erleuchtet von einer kleinen Glühbirne stand dort einer der Männer auf dem Ausguck. Er rückte seine Sonnenbrille zurecht, die er trotz der Nachtzeit trug. Dann sah er mit einem schelmischen Grinsen auf die anderen Männer herab.
Dadurch, dass die Motoren angehalten worden waren und dass Windstille herrschte, konnte Lila gut verstehen, was gesprochen wurde. Sie wagte es, die Persenning ein Stück hoch zu drücken, so dass sie nicht gezwungen war, nur durch die winzige Metallöse zu schauen.
„Da sind wir also, Brüder!“ rief der Mann vom Ausguck.
Lila zuckte zusammen, denn alle Männer riefen im Chor plötzlich: „Hoho!“. Damit streckten alle den rechten Arm in die Luft. Ihre Hände bildeten eine Faust.
„Wir haben die erste Etappe unserer Route erreicht!“ rief der Mann. „Die westliche Handelsstraße liegt vor uns. Wir haben uns hier in Stellung gebracht und erwarten gegen Morgen erste Schiffe, die hier vorbeikommen. Dann werden wir einmal zuschlagen, einmal. Und dann geht’s weiter. Verstanden, Brüder?“
„Hoho!“ riefen die Männer wieder und streckten ihre Fäuste nach oben.
„Gut“, lachte der Mann auf dem Ausguck. „Hier draußen müssen wir niemandem mehr was vormachen. Hier schert sich keine Sau um uns – bis auf die, um die wir uns scheren! Also, legt euren unnützen Kram ab und lasst es krachen, Brüder!“
Entsetzt beobachtete Lila, was geschah. Sogleich fingen die Männer an zu johlen und zu jubeln. Dann rissen sie sich die Anzugjacken vom Leib und zogen ihre Hosen aus. Unter den Anzügen kamen zerschlissene Klamotten zum Vorschein: bunte Hemden, Hosen aus Leder, farbige Kniestrümpfe mit Löchern darin. Unter wildem Brüllen nahmen sich die Männer die Sonnenbrillen vom Gesicht. Einige banden sich rote Kopftücher um den Kopf, die sie auf einer Seite mit einem Knoten befestigten. Und während sich einige der Männer Armbänder mit Nieten anzogen und Ketten um den Hals legten, zog der Mann auf dem Ausguck eine Fahne am Mast hoch. Es war eine große, schwarze Flagge, auf der ein weißer Totenkopf prangte, vor zwei gekreuzten Knochen.
Schlagartig wurde Lila alles klar: Die „Treipan“ war ein Piratenschiff! Die Männer hatten sich als seriöse Geschäftsmänner getarnt, um an Land nicht verdächtig zu werden – und legten hier ihre Masken ab! Und jetzt warteten sie auf unschuldige Opfer, um sie zu überfallen! Und auch die Fahne – das war der Totenschädel! Der Totenschädel, von dem die alte Kassandra gesprochen hatte! Aber konnte es sein, dass Kassandra Lila auf ein Schiff schickte, auf dem es von bösen Piraten nur so wimmelte? Hatte Kassandra Lila am Ende in eine Falle geschickt?
Lila blieb keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, ob sie auf dem richtigen Weg war oder sich ins Verderben gebracht hatte. Denn jetzt begann auf dem Deck eine wilde Party, bei der die Piraten ausgelassen feierten. Zwei Piraten fingen an, auf Schifferklavieren Seeräuberlieder zu singen, bei denen die anderen Männer lautstark mitsangen. Zwei andere Männer, mit Kochmützen auf dem Kopf, trugen große Platten mit dem herrlichsten Essen an Deck. Die Piraten bedienten sich am Schweinebraten und am Gemüse. Sie prosteten sich mit großen Bierkrügen zu. Der köstliche Duft des Essens zog auch durch Lilas Versteck. Er erinnerte sie daran, dass sie seit mehr als vierundzwanzig Stunden nichts gegessen hatte. Passend dazu knurrte ihr Magen. Aber sie konnte nichts ausrichten, außer den Piraten bei ihrer lauten Feier zuzuhören. Die ganze Zeit begleitete sie die Angst, dass die wilden Kerle sie in ihrer ausgelassenen Stimmung in ihrem Versteck erwischten. Lila fragte sich, wie groß ihre Chancen waren, dieses schreckliche Abenteuer zu überstehen.
Bis in die tiefste Nacht hinein feierten die Piraten, bis irgendwann die Stimme des Mannes erklang, der vom Ausguck gesprochen hatte. Lila schätzte, dass er der Kapitän der Mannschaft war.
„Schluss jetzt, Brüder!“ schrie der Kapitän. „Wenn die ersten Handelsschiffe unsere Bahn kreuzen, möchte ich keine halbstarken Piraten mit Kopfschmerzen hier sehen! Jetzt wird Schluss gemacht! Morgen früh müssen wir volle Kraft fahren!“
Allgemeines Murren herrschte. Aber unmittelbar wurde es leiser um Lila herum. Der Kapitän hatte seine Piraten offenbar gut im Griff. Lila atmete auf, als die letzten Piraten von Deck in ihre Kajüten verschwanden.
Noch eine gute halbe Stunde geduldete sich Lila in ihrem Versteck. Dann hielt sie es nicht mehr aus. Sie musste sich wenigstens einmal recken und strecken, nachdem sie so lange hier so zusammengekauert lag. Und etwas zu Essen war auch bitter notwendig. Vorsichtig schaute sie über den Rand des hölzernen Rettungsboots. Niemand war mehr zu sehen. Die „Treipan“ trieb sachte auf dem ruhigen Wasser des Ozeans. Über dem Meer war der endlose Sternenhimmel. Niemand hätte angenommen, dass solch eine friedliche Stimmung von solch einer Gefahr umgeben war.
So leise sie konnte, stieg Lila aus dem Boot und streckte die Arme in die Höhe. Es tat so gut, die Muskeln so richtig dehnen zu können. Lila schaute auf den vorderen Teil des Schiffes. Ob die Piraten etwas von ihrem herrlichen Essen übrig gelassen hatten?
Auf Zehenspitzen schlich Lila über das Deck, um nachzusehen, wie die Piraten das vordere Schiff hinterlassen hatten. Zu ihrer Enttäuschung war nichts mehr da. Die Männer hatten so gut aufgeräumt, dass man nie auf die Idee gekommen wäre, dass hier vor nicht mal einer Stunde ein wildes Fest gefeiert worden war.
Ein leiser, eiskalter Windhauch hüllte Lila ein. Er verwandelte die friedliche Stimmung in eine unheimliche Atmosphäre. Fröstelnd verschränkte Lila ihre Arme vor der Brust. Sicherlich würde es im Inneren des Schiffes etwas zu essen geben. Aber konnte sie es wagen, sich auf die Suche zu machen, während all die wilden Piraten in ihren Kojen schliefen – wenn sie überhaupt schliefen? Wie lange Lila ohne Wasser und etwas zu essen aushalten konnte, wusste sie nicht. Aber sie spürte, dass ihr Hunger sich im ganzen Körper ausbreitete.
Die Tür zu den Innenräumen des Schiffes war nicht verschlossen, sie war nur angelehnt. Ob die Piraten irgendwo eine Wache postiert hatten? Vorsichtig legte Lila ihr Auge an die Holzlamellen. Wirklich etwas sehen konnte sie nicht. Dafür hörte sie beständiges Schnarchen aus der Dunkelheit. Zaghaft zog Lila die Tür auf. Sie quietschte leicht. Lila fuhr vor Schreck zusammen und hoffte, dass niemand das Quietschen gehört hatte. Ob sie es probieren sollte? Der Hunger trieb sie voran. Fünf Holzstufen führten hinab in das Unterdeck. Hier befand sich Lila auf einem engen Flur, von dem mehrere Türen nach rechts und links abgingen. Das waren wohl die Kajüten, in denen sich die Piraten für den nächsten Tag ausruhten. Es war unmöglich, das Risiko einzugehen, in jede Tür hineinzuschauen. Aber wie konnte Lila herausfinden, hinter welcher Tür sich etwas zu essen befand? So wie die großen Servierplatten ausgesehen hatten, musste es eine Schiffsküche geben. Aber wo mochte die sein?
Dass es so einfach war, hätte Lila nicht vermutet. „Kombüse“ stand auf dem Holzschild auf einer der Türen. Lila erinnerte sich an ein Buch, dass sie einmal bei Frau Spitzhak gelesen hatte. Da war von einer „Kombüse“ die Rede gewesen, in der der „Smutje“, der Schiffskoch, arbeitete. Mit Mühe gelang es Lila, die Tür zur Kombüse fast geräuschlos aufzudrücken. Sie atmete auf, als vor ihr tatsächlich die kleine, menschenleere Küche auftauchte. Lautlos schlich Lila zu dem Schrank und der Küchenanrichte. Auf der Anrichte lag Brot mit einer knusprigen Kruste im Korb. Wenn ein paar Scheiben davon fehlten, würde es bestimmt niemand merken. Außerdem lagen dort ein paar leckere Stücke Käse, Schinken und eine kräftige Fleischwurst. Frau Spitzhak hatte ihr das ganze Leben lang erzählt, dass es nicht richtig war, anderen etwas wegzunehmen. Ganz wohl war Lila bei dem Gedanken also nicht, sich hier in der Kombüse einfach zu bedienen. Aber immerhin war es eine Notsituation. Und schließlich waren es Piraten, die dieses Schiff hier führten. Lila konnte davon ausgehen, dass diese Kerle gewiss mehr auf dem Kerbholz hatten als den Diebstahl von Brot und Käse.
Schnell schnappte sich Lila ein Tuch, das in der Kombüse herumlag. Sie wusste nicht, ob es eine Serviette war oder ein Handtuch – das war aber auch erst einmal egal. Von allem, was in griffbereiter Nähe lag, schnappte sie sich ein wenig – nicht zuviel, damit es nicht auffiel. Dann legte sie ihre kleine Beute in das Tuch und schnürte sich ein enges Bündel zusammen. Außerdem nahm Lila sich eine Flasche Wasser aus dem unteren Küchenregal. Die würde bestimmt auch niemand auf den ersten Blick vermissen.
Auf Zehenspitzen schlich Lila zurück über den Flur. Von allen Seiten drang das Schnarchen der Seeräuber an ihre Ohren. Wahrscheinlich hatten sie ohnehin alle einen über ihren Durst getrunken, so dass sie ganz besonders tief und fest schliefen, hoffte Lila.
Lila erreichte die Stiege zum Oberdeck und kletterte flink hinauf. Als sie die Tür nach draußen öffnete, hob sie sie ein klein wenig an, um ein Quietschen zu vermeiden. Endlich war sie wieder an der frischen Luft. Dort konnte sie sich ein wenig freier bewegen. An der Reling vorbei ging Lila bis zum hinteren Mast und setzte sich mit dem Rücken daran. Dann packte sie das Bündel aus und begann zu essen. Es tat so gut, endlich wieder was richtiges im Magen zu haben. Obwohl es nur Wasser war, genoss Lila das Getränk, als wäre es der süßeste Fruchtsaft gewesen, den Frau Spitzhak ihr je zusammen gemixt hatte.
Lila überlegte, ob es leichtsinnig war, noch ein wenig draußen zu bleiben. In das Rettungsboot musste sie sich vor Anbruch der Dämmerung auf jeden Fall noch begeben. Es war damit zu rechnen, dass die Piraten im Morgengrauen zu ihrem nächsten Angriff stürmen würden, wie es einer der Männer, vielleicht der Kapitän, angekündigt hatte. Nur ein wenig noch wollte Lila die Gelegenheit genießen, frische Luft zu atmen und sich unter dem klaren Himmel zu bewegen.
Wann würde das Schiff wohl anlegen? Fast vierundzwanzig Stunden war es nun unterwegs. Ob das Ziel noch weit entfernt war? Und was würde dort sein? Immer wieder überflogen Lila Zweifel, ob es gut gewesen war, auf die alte Kassandra zu hören. Andererseits hatte Kassandra mit dem Hinweis auf den Totenschädel zumindest eine Weissagung getan, die sich erfüllt hatte. Allerdings hätte Lila sich gewünscht, dass die Umstände um diesen Totenschädel weniger bedrohlich gewesen wären.
Die Geräusche, die Lila einige Stunden später in ihrem Versteck weckten, konnte sie zunächst nicht richtig deuten. Vom Gefühl her musste es früher Morgen sein. Sie hörte viele geschäftige Schritte, aber keine Stimmen. Niemand sprach draußen. Allerdings hatte sie den Eindruck, dass man sich Mühe gab, mit den Schritten nicht lauter als notwendig zu sein.
Irgendwann verstummten die Schritte. Aber so wie sie verstummt waren, glaubte Lila nicht, dass die Gefahr vorüber war. Sie hatte das Gefühl, als hätten sich die Verursacher der Schritte rings um ihr Versteck postiert. Zwar hörte Lila keine Geräusche mehr um sich herum. Aber sie hatte auch nichts wahrgenommen, was darauf hindeutete, dass die Leute um sie herum verschwunden waren. Erneut schlug Lilas Herz bis zu ihrem Hals. Wieder befürchtete sie, jeden Moment entdeckt zu werden.
Doch es geschah nichts. Trotzdem wagte Lila nicht, wieder einzuschlafen. Irgendwas war hier nicht in Ordnung.
Minuten vergingen, in denen gar nichts geschah. Dann, urplötzlich, zuckte Lila zusammen, als sie eine dunkle Männerstimme lautstark brüllen hörte: „Volle Kraft voraus!“
Sogleich begannen die Motoren unter Lila zu dröhnen. Sie spürte, wie das Schiff sich in Bewegung setzte. Dieses Mal aber setzte das Schiff zu einer Geschwindigkeit an, so dass Lila flau im Magen wurde.
Die Männerstimme brüllte über das ohrenbetäubende Tosen: „Fertig zum Angriff!“
Sofort setzte um Lila herum ein Gebrüll ohne Gleichen ein. Wenige Sekunden später gab es ein lautes Krachen. Das Schiff wurde hart erschüttert, Lila wurde in ihrem kleinen Rettungsboot hin und her geschleudert. Gleichzeitig bremste das Schiff wieder ab. Offenbar hatte die „Treipan“ etwas gerammt. Die Piraten rannten mit harten Schritten an ihrem Versteck vorbei und entfernten sich. Das Schiff kam zum Stehen.
„Überfall! Überfall!“ schrien die Männer plötzlich. Lila hörte Schritte, Rufe, Poltern – plötzlich schien ein unüberschaubares Chaos draußen auszubrechen. Aus dem Gebrüll und Rumpeln drangen Schreie, die um Gnade und um Hilfe bettelten. Lila wurde fast wahnsinnig vor Angst bei dem Gedanken, was da draußen gerade vor sich ging. Ein waschechter Piratenüberfall, und das nur wenige Meter von ihr entfernt! Und sie konnte nichts ausrichten. Wie schrecklich die Schreie der Überfallenen klangen! Inständig hoffte Lila, dass die Piraten ihre Opfer lediglich beraubten. Das war ja schon schlimm genug. Aber die Vorstellung, dass die skrupellosen Seeräubern ihren Opfern auch noch das Leben nehmen konnten, war zu grausam. Tränen schossen in Lilas Augen. Sie presste die Hände auf die Ohren und kniff die Augen zusammen. Nie im Leben würde sie die „Treipan“ wieder lebendig verlassen, dessen war sich Lila in diesem Augenblick absolut sicher. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Piraten sie hier, eingepfercht unter der Persenning im Rettungsboot, entdecken würden. Und offenbar kannten sie nur wenige Grenzen.