Читать книгу Lila Blitz - Das Geheimnis der Snirq - Nicolas Bjausch - Страница 8
6. Kapitel: „Zum Hafen“
ОглавлениеEndlich hatte Lila das Plateau erreicht. Sie hatte sich ihre Hose ein wenig an den scharfen Felsen zerrissen. Außerdem hatte sie einige Abschürfungen an den Handballen. Lila sah hinab auf den endlosen Strand, den sich hinter sich gelassen hatte. Das dunkelgraue Meer warf in turmhohen Wogen hin und her und spuckte seine Kraft in der schäumenden Brandung aus.
Noch immer hatte Lila keine Ahnung, wo sie sich befand. Sie drehte sich um und schaute landeinwärts. Vor ihr lag ein finsteres, karges Land. Blattlose Baumgerippe standen vereinzelt auf dem verdorrten Gras. Ab und zu ragte ein Felsen aus der Erde hervor. Aber sonst sah Lila – nichts. Wenn die Sonne rauskam, war sie hier verloren. Hier gab es keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Sie hatte die Wahl: Entweder beschwerlich zurück nach unten an den Strand zu klettern oder keine Zeit zu verlieren, und sich aufmachen, in der Hoffnung, irgendwo doch ein Versteck zu finden. Das bedeutete natürlich ein Risiko.
„Es muss weitergehen“, entschied Lila und richtete ihr Kopftuch. Dann machte sie sich mit eiligen Schritten auf den Weg in die karge Steppe, die vor ihr lag.
Ebenso eilige Schritte hatten sie vor ein paar Tagen vom Jahrmarkt zurück zur Brücke geführt. Denn schließlich hatte die alte Kassandra Lila gesagt, dass Eile geboten war.
Natürlich hätte Lila direkt zum Hafen gehen konnten, um nach dem Schiff Richtung Süden zu suchen. Aber sie wollte den Kindern wenigstens Bescheid sagen, dass sie sich aufmachen musste. Schließlich waren sie ja doch freundlich zu ihr gewesen, besonders Eri. Außerdem hatte sie wenigstens die beiden Geldbörsen erwischt. Kassandra hatte ihr diesen Teil der Beute nicht abgenommen. Wahrscheinlich hatte die Wahrsagerin die Börsen vergessen. Nachdem sie Lilas Stirn berührt hatte, war sie wie ausgewechselt gewesen – erst so böse und dann so... verblüfft! Ja, die Verblüffung der alten Frau war es, die Lila dem, was Kassandra erzählte, Glauben schenken ließ. Das war so... so ehrlich und echt gewesen, fand Lila.
Amadeo staunte nicht schlecht, als Lila den vier Waisenkindern die beiden Portemonnaies präsentierte. Aber er besann sich gleich, zog seine Stirnfalte ins Gesicht und sagte: „Wo ist die dritte? Matthes hat gesagt, es waren drei Geldbörsen.“
„Mehr konnte ich nicht bekommen“, sagte Lila atemlos. „Und ich muss auch gleich wieder fort. Ich muss zum Hafen! Ich muss auf ein Schiff!“
Die Kinder blickten Lila entgeistert an.
„Du willst weg?“ fragte Eri entsetzt. „Aber warum denn?“
„Diese alte Frau, sie ist eine Wahrsagerin“, berichtete Lila aufgeregt. „Sie hat gesagt, ich muss auf ein Schiff, damit ich irgendwelche Geheimnisse lösen kann. Vielleicht meint sie, dass ich herausfinden kann, wo Frau Spitzhak steckt. Und ehrlich, sie hat gewusst, dass ich verfolgt werde! Und dass diese Ungeheuer immer noch hinter mir her sind, und dass sie eine Menge dafür bezahlen würden, um mich zu fangen. Dass sie bald da sind, dass sie schon ganz in der Nähe sind, sich hier irgendwo herumtreiben, und...“
„Und jetzt musst du zum Hafen“, wiederholte Amadeo gelassen. „Natürlich bringen wir dich dorthin. Jetzt hast du einen solchen Dienst für uns getan, weil du die Geldbörsen geholt hast. Da ist das das Mindeste, das wir für dich tun können.“
„Ja, sicher“, stammelte Lila überrascht. „Wenn ihr wollt.“
„Wir haben zum Abschied aber noch eine kleine Überraschung für dich“, sagte Amadeo mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht. „Wir wollten dich ja in unsere Bande aufnehmen und haben daher ein kleines Geschenk an deinem Schlafplatz versteckt.“
„Haben wir?“ fragte Otto und sah Amadeo überrascht an.
Amadeo stieß Otto unsanft in die Seite. „Da warst du wohl gerade unterwegs.“
„Aber -“, setzte Eri an, doch sie kam nicht weiter, weil Amadeo sie fest am Handgelenk packte. „Gut“, sagte Lila und bückte sich, um durch die Tür in den Verschlag im Brückenpfeiler zu gelangen. Kaum hatte sie den dunklen Raum betreten, schlug die Tür hinter ihr zu. Vor Schreck stürzte Lila auf den Boden.
„Und jetzt bleibst du da drin!“ schrie Amadeos Stimme von draußen. „Bis wir dich rauslassen!“
„Was?“ Lila wusste nicht, wie ihr geschah. Sie rüttelte an der Tür und trommelte dagegen. „Jetzt macht nicht solche blöden Scherze, ich muss gehen!“
„Amadeo, bist du vollkommen verrückt geworden?“ fragte Eri und wollte die Tür öffnen. Doch Amadeo ließ sie nicht durch.
„Dieses Mädchen mit den lila Flusen auf dem Kopf wird verfolgt“, erklärte Amadeo. „Von jemandem, der eine Menge für sie bezahlen würde. Hat sie selbst gesagt. Dann warten wir doch, ob derjenige nicht bald auftaucht, um sie zu suchen. Und einen Batzen Geld können wir gut gebrauchen, oder nicht?“
„Amadeo“, sagte Eri kalt. „Du bist ein abscheuliches Miststück. Lass sie raus. Sofort.“
Amadeo stellte sich mit breiten Beinen vor die Tür. Er gab Otto und Matthes ein Signal. Sie stellten sich schützend rechts und links neben ihn. „Du weiß, dass bei uns die Mehrheit entscheidet. Du hast dich dem zu fügen oder kannst verschwinden, Eri. Entscheide dich.“
„Hey, lass mich raus! Sofort!“ klang Lilas dumpfes Rufen durch die Tür, begleitet von energischem Trommeln.
Eri blickte die Jungs an. Was sollte sie tun?
Während man Lilas verzweifelte Rufe, Schläge und Tritte von drinnen ignorierte, kam auch Eri mit dem Bitten und Betteln nicht weit, Lila frei zu lassen. Amadeo stellte sie vor die Wahl. Entweder ließ sie es zu, dass Lila gefangen gehalten wurde, um sie ihren Verfolgern auszuliefern – oder sie wurde von der Gruppe verstoßen. Der Gedanke war schlimm für Eri. Sie wusste nicht, ob sie in der Lage war, sich alleine durchzuschlagen. Irgendwann gab sie es auf.
„Vergiss das Gör mit den lila Haaren“, sagte Amadeo. „Bald sind wir sie los, und vielleicht haben wir dann einen ganzen Batzen Knete! Dann sind wir erst einmal alle Probleme los!“
„Du weißt doch überhaupt nicht, wann das passieren soll! Wie lange willst du sie denn da einsperren?“ fragte Eri patzig.
„Ihre komische Wahrsagerin hat doch gesagt, dass „sie bald da seien“, und dass sie schon „ganz in der Nähe“ wären“, gab Amadeo zurück.
„Du bist ein ganz mieser Erpresser“, murmelte Eri. „Ein richtig niederträchtiges Schwein.“
Amadeo winkte läppisch ab. „Du wirst drüber wegkommen.“
Hasserfüllt sah Eri die drei Jungs an. „Ich rede kein Wort mehr mit euch.“ Sie zog die Kapuze ihres Anoraks über den Kopf und schnürte sie eng zu. Dann wandte sie sich ab.
Verzweifelt kauerte Lila sich in ihrem Gefängnis zusammen. Sie wollte weinen, aber das brachte sie auch nicht weiter. Das, was die alte Kassandra gesagt hatte, kam ihr so wichtig vor. Und jetzt verdarben diese bescheuerten Kinder alles! Wenn die Wesen, die nach ihr im Tobanja-Wald gesucht hatten, tatsächlich ganz in der Nähe waren, dann war Lila in allerhöchster Gefahr. Wie konnte sie nur aus diesem Kerker ausbrechen, um schnell zum Hafen zu gelangen, wie die alte Kassandra es ihr gesagt hatte? Lila tastete sich an allen Wänden entlang. Es gab keine zweite Tür. Und die Eingangstür war von außen verriegelt und obendrein noch bewacht. Lila sah keine Chance, nach draußen zu dringen.
Aneinander gelehnt schliefen Matthes und Otto allmählich am Feuer ein. Amadeo starrte mit grimmiger Miene in die Flammen. Eri lag auf der anderen Seite des Feuers auf ihren Arm aufgestützt und hatte sich von den Jungs abgewandt. Wütend sah sie auf den Fluss hinauf.
„Eri?“ Amadeo bekam keine Antwort. „Eri!“ Wieder reagierte Eri nicht.
Energisch stand Amadeo auf, machte einige Schritte um das Feuer herum und baute sich vor Eri auf. „Kriegst du vielleicht mal die Zähne auseinander? Ich rede mit dir!“
„Aber ich rede nicht mit dir!“ erwiderte Eri kühl und drehte sich weg.
Amadeo hockte sich hin und riss Eris zugezogene Kapuze auf. „Pass mal auf! Das ist kein Spiel! Das ist doch für uns eine perfekte Gelegenheit! Wir kennen dieses Mädchen überhaupt nicht, und wenn jemand sie sucht und dafür eine Stange Geld hinblättert, dann haben wir alle was davon, oder?“
Eri dachte kurz nach. Sie beobachtete Amadeo nur flüchtig. Dann richtete sie sich auf und sagte resignierend: „Du hast ja recht.“
Amadeo grinste. „Gut so.“
„Aber dennoch soll es ihr nicht schlecht gehen“, sagte Eri.
„Was meinst du?“ fragte Amadeo.
„Nun ja, wenn da irgendwelche unbekannten Verfolger sind, dann wollen sie Lila doch bestimmt in gutem Zustand haben, oder?“ fragte Eri.
„Da hast du recht“, bestätigte Amadeo.
„Und außerdem müssen die Verfolger ja wissen, wo Lila steckt“ fragte Eri weiter.
„Richtig“, erwiderte Amadeo.
„Dann möchte ich dir beweisen, dass ich guten Willen zeige“, entgegnete Eri. „Ich möchte nach den Verfolgern suchen und sie hier herbringen.“
Amadeo sah sie überrascht an. „Bist du sicher? Wie willst du sie überhaupt erkennen?“
„Lila hat sie doch in etwa beschrieben“, gab Eri zurück. „Solche merkwürdigen Gestalten sollten leicht auszumachen sein, denke ich. Und wenn sie ohnehin schon ganz in der Nähe sind...“
„Gut“, sagte Amadeo und half Eri auf. „Aber sei vorsichtig.“
„Ich will Lila kurz vorher noch was zu essen reinbringen“, schlug Eri vor. „Damit sie glaubt, dass wir es gut mit ihr meinen. Sie soll sich in Sicherheit fühlen.“
„Okay.“ Amadeo ging zum Rucksack mit den Vorräten und gab Eri ein Stück Brot und ein Würstchen. „Aber das muss reichen.“
„Das wird es“, sagte Eri und blinzelte Amadeo verschwörerisch zu. Dann zog sie ihre Kapuze wieder zu. „Ich gehe jetzt rein zu ihr und beruhige sie. Und dann suche ich gleich nach den Verfolgern.“
„Gut!“ sagte Amadeo und begleitete Eri zum Brückenpfeiler. Dann schob er den Riegel hoch und öffnete die Tür. Eri zwinkerte Amadeo zu und hob den Daumen als Zeichen, dass der Plan perfekt war.
„Eri!“ Lila war erleichtert, als sie ihre Freundin erblickte. „Was ist hier los, was soll das?“
„Alles ist gut, dir kann nichts geschehen“, erklärte Eri. „Weißt du, Amadeo hat leider recht. Wir können dich nicht einfach so fort lassen. Du bist vielleicht eine Menge Geld wert, Lila...“
Amadeo hörte die Worte von Eri und grinste. Der Sinneswandel von Eri kam ihm sehr gelegen. Er schob die Tür wieder an, damit es für Lila keine Gelegenheit gab zu fliehen. Mittlerweile war es schwärzeste Nacht. Die Lichter vom Jahrmarkt erhellten den Himmel nicht mehr, der Jahrmakt hatte geschlossen. Hoffentlich würde Eri die Verfolger noch in dieser Nacht finden. Minuten vergingen. Amadeo wurde ungeduldig.
Endlich klopfte es von innen. Eris Stimme erklang. „Alles klar, Amadeo, ich bin es!“
Amadeo zog die Tür auf und ließ Eri nach draußen schlüpfen. Während Eri sich den Schmutz aus dem Verschlag vom Mantel klopfte, schloss Amadeo den schweren Riegel der Tür wieder. Dann rief er Eri zu: „Alles klar?“
Eri lugte aus ihrer Kapuze und hob wieder den Daumen.
„Gut“, rief Amadeo. „Dann lauf los!“
Noch einmal hob Eri den Daumen und rannte los, um nach Lilas Verfolgern zu suchen. Flugs war sie hinter dem Brückenpfeiler verschwunden.
Amadeo hatte versucht, sich schlafen zu legen. Aber an Einschlafen war nicht zu denken. Es war ein Fehler, Eri alleine auf die Suche nach Lilas Verfolgern zu schicken. Es war doch viel zu gefährlich, mitten in der Nacht durch die Stadt zu laufen. Und dann noch ein Mädchen! Ein Mädchen, das nach zwei Wesen suchte, von denen man noch nicht einmal genau wusste, wer – oder vielmehr was - sie waren. Nie im Leben hätte Amadeo sich ausgemalt, dass er sich Sorgen um Eri machen würde. Aber immerhin hatten sie viel miteinander durchgestanden. Sie gehörten doch alle zusammen zu ihrer kleinen Gruppe. Wahrscheinlich hätte er sie auch niemals wirklich aus der Bande ausgeschlossen. Wenn sie nur erst wieder da wäre!
Eine Uhr hatte er nicht, aber Amadeo schätzte, dass Eri jetzt bestimmt schon über eine Stunde weg war. Was, wenn ihr etwas zugestoßen war? Vielleicht waren Lilas Verfolger nicht nur hinter Lila her? Vielleicht hatten sie sogar Eri statt Lila entführt? Einen kurzen Moment überlegte Amadeo, ob er in die Stadt laufen und nach Eri suchen sollte. Doch hatte das einen Sinn?
Ach, diese Lila! Die war doch an allem schuld! Es war allein ihr Fehler, dass Amadeo sich jetzt um Eri sorgen musste. Hätten sie diese blöde Ziege mit ihrem violetten Haar doch bloß gleich weggeschickt. Plötzlich war Amadeo fürchterlich sauer auf Lila. Er befreite sich aus seinem Schlafsack, stand auf und öffnete den Riegel der Tür im Brückenpfeiler. Er musste diesem dämlichen Weibsbild sagen, wie wütend er darüber war, dass sie alles durcheinander gebracht hatte.
In dem kleinen Raum war es stockdunkel. Schnell fingerte Amadeo aus seiner Jackentasche das Feuerzeug, mit dem er das abendliche Feuer anzündete. Er ließ das kleine Rädchen nach unten schnellen. Die kleine Flamme erhellte den Raum. Lila lag in der Ecke und schlief. Amadeo trat einen Schritt näher. Aber – was war das? Als Amadeo genau hinsah, sah er – „Eri!“ rief Amadeo und verbrannte sich seinen Finger am Feuerzeug.
Eri fuhr schlagartig aus dem Schlaf hoch. Amadeo hatte den Schwindel bemerkt. „Tut mir leid, Amadeo“, sagte Eri. „Aber ich konnte nicht anders. Ich musste Lila helfen.“
Lila war längst am Hafen angekommen. Sie war Eri so dankbar, dass sie den Ärger mit Amadeo in Kauf nahm, nur um ihr zu helfen. Als Eri zu ihr in den Verschlag gekommen war, tauschte sie ihren Anorak mit Lilas Sachen. Lila verbarg ihre Haare und zog die Kapuze genauso tief zu, wie Eri es vorher getan hatte. Amadeo hatte Lila aus der Kammer gelassen, in dem Glauben, es sei Eri. Eri hatte Lila vorher noch geraten, sich mit erhobenem Daumen zu verabschieden, bevor sie auf die angebliche Suche nach den Ungeheuern ging. Das hatte Amadeo zusätzlich in Sicherheit gewogen. In dem Augenblick, in dem Lila Amadeo gegenüberstand und er sie für Eri hielt, schlug ihr Herz wie wahnsinnig.
Trotz der späten Stunde war am Hafen noch Betrieb. Lila hoffte inständig, dass es noch nicht zu spät war. Merkwürdig war dabei, dass sie nicht im Geringsten wusste, wofür sie überhaupt zu spät sein konnte. Doch immer wieder kreisten ihr die Worte der alten Kassandra durch den Kopf. Ein „Totenschädel“ war ein merkwürdiger Anhaltspunkt. Mit dem Lila wusste hier am Hafen erst recht nicht viel anzufangen. Ansonsten hatte Kassandra Lila geraten, sich auf ihr „Gefühl“ zu verlassen. War das ein guter Vorschlag, wenn es um so große Schritte ging? Da fiel Lila ein, dass auch Frau Spitzhak ihr den Rat gegeben hatte, sich auf den Bauch zu verlassen. Das war doch vom Gedanken her wohl dasselbe.
Lila hatte den Kai erreicht. Es war schwierig für sie, sich hier zu bewegen, denn das Hafenbecken war von gigantischen, grellen Flutlichtern erleuchtet. Obwohl es mitten in der Nacht war, belud eine Mannschaft von Männern in schmutziger Kleidung und Dreck im Gesicht ein großes, gräulich-braunes Frachtschiff mit unzähligen Säcken. Die Arbeiter hatten eine Schlange gebildet und warfen sich die Säcke von Mann zu Mann zu. Der Mann am Beginn der Schlange hob die Säcke von der Ladefläche eines großen Lastwagens. Hinter den prall gefüllten Säcken lag ein Haufen leerer, zerschlissener Säcke.
Der Letzte in der Kette wiederum warf die Säcke auf das Bootsdeck. Lila sah den Namen des Schiffes, der auf dem Schiffsbauch angebracht war. „Tyrann“ lautete der Name des Schiffes. Das klang ja nicht gerade vertrauenserweckend. Lila wandte sich zaghaft an den ersten Arbeiter in der Schlange und fragte: „Verzeihung... können sie mir sagen, wohin die Tyrann ausläuft?“
Der Mann würdigte Lila keines Blickes und brummte: „Die Küste runter, und dann Richtung Südsee.“ Dann brüllte er den Rest der Mannschaft an: „Haltet euch ran, Jungs, dann kann der Alte abdampfen und wir können nach Hause!“
„Danke“, sagte Lila und ging weiter. Die Südsee lag im Süden, soviel stand fest. Das kam ja der merkwürdigen Weissagung der alten Kassandra nahe.
Ein Hafenarbeiter schrieb gerade mit Kreide auf eine große Tafel. Lila versuchte zu lesen, was darauf stand. Aber die Schrift des Hafenarbeiters war so krumm und schief, dass Lila nicht mal einzelne Buchstaben erkennen konnte. Sie fragte den Arbeiter: „Wie viele Schiffe fahren von hier Richtung Süden?“
„Heute Nacht fahren hier überhaupt nur noch zwei Schiffe ab“, nuschelte der grimmige Mann durch seine qualmende Zigarre hindurch. „Die Tyrann und die Treipan. Die fahren beide Richtung Süden.“
„Die Treipan?“ wiederholte Lila. Die „Tyrann“, das war klar, das war das Frachtschiff, an dem die Matrosen arbeiteten. Der Hafenarbeiter wies in die andere Ecke des Hafenbeckens. Dort stand ein großer Zweimaster, bei dem gerade die Segel hochgezogen wurden. Er war weiß und sah edel aus. Die Mannschaft sah sehr merkwürdig aus: Es waren allesamt Männer mit grauen Anzügen, glatt gestriegelten Frisuren und Sonnenbrillen.
„Was macht so eine halbe Portion von Göre wie du eigentlich mitten in der Nacht hier?“ fragte der Hafenarbeiter grimmig. „Hey, ich hab dich was gefragt.“
Verschüchtert ging Lila einige Schritte zurück und rannte davon.
Was in der Zwischenzeit bei den Waisenkindern unter der Brücke ablief, davon hatte Lila keine Ahnung. Nachdem Amadeo sich vom ersten Schreck erholt hatte, war er erbost darüber, wie die Mädchen ihn ausgetrickst hatten. Jetzt hatte er sich gegenüber von Eri aufgebaut, die sich allerdings selbstbewusst mit verschränkten Armen vor ihm behauptete.
„Wie kannst du uns nur so verarschen?“ schnauzte Amadeo Eri an. „Die Mehrheit hat entschieden, dass wir das durchziehen.“
„Die Mehrheit“, höhnte Eri. „Wann gab es denn eine Abstimmung, bei der es eine Mehrheit hätte geben können?“
„Brauchte es nicht“, antwortete Amadeo patzig. „Du hast doch wohl gesehen, dass Otto und Matthes mir gleich zur Seite standen.“
„Ja, weil sie dran gewohnt sind, dir wie doofe Schafe ständig hinterher zu laufen!“ Eris Worte trafen den wütenden Amadeo. „Aber das, was du dir da mit Lila ausgedacht hast, das war eine ganz große Schweinerei! Klauen und Stehlen und Rauben, von mir aus! Aber mit einem Mädchen Geschäfte machen wollen, das ist wirklich das Hinterletzte.“
„Und dass du deine eigenen Freunde verrätst, das ist das Allerletzte!“ behauptete Amadeo.
„Jetzt brüll nicht so! Lass die Jungs schlafen!“ zischte Eri wütend und wies auf Matthes und Otto, die unruhig am Feuer in ihren Schlafsäcken lagen. „Lila wollte zum Hafen, es war unheimlich wichtig für sie! Warum wolltest du ihr das versauen?“
„Weil mir diese dämliche Kuh mit ihren lila Haaren völlig egal ist“, erwiderte Amadeo. „Es wäre für uns alle vielleicht eine Chance gewesen.“
„Hat da jemand „die dämliche Kuh mit ihren lila Haaren“ gesagt?“, klang da eine dumpfe Stimme aus der Nähe. Eri und Amadeo fuhren herum. Hinter dem Brückenpfeiler am Ufer standen zwei Gestalten. Eine Laterne, die auf der Brücke in einem unheimlichen Orange leuchtete, warf ein wenig Licht auf die beiden. Um wirklich etwas zu erkennen, waren sie zu schemenhaft. Eri und Amadeo nahmen nur zwei Silhouetten war, die alles andere menschlich wirkten.
„Wer ist da?“ rief Amadeo laut.
„Höhö“, machte die dröhnende, dunkle Stimme der einen Gestalt. „Wer bist du denn? Und wo steckt die dämliche Kuh mit den lila Haaren?“
„Was sagen die da?“ fragte Eri Amadeo panisch.
Amadeo schüttelte den Kopf. „Ich kenne die Sprache nicht!“
„Sie verstehen uns nicht!“ polterte die eine Gestalt. „Bedauernswerte Menschen.“
„Hauptsache, wir verstehen sie!“ knarrte die Stimme des anderen Wesens. „Sie wollte zum Hafen. Zum Hafen wollte sie!“
„Dann komm“, grölte die dunkle Stimme. „Noch mal darf sie uns nicht entwischen!“
So schnell, wie die beiden riesigen Gestalten aufgetaucht waren, waren sie hinter dem Brückenpfeiler wieder verschwunden.
„Verdammt!“ flüsterte Eri. „Das waren Lilas Verfolger. So hat sie sie beschrieben.“
„Was waren denn das für Viecher?“ fragte Amadeo entsetzt. „Und was haben die für eine Sprache gesprochen? Ich habe kein Wort verstanden!“
Mittlerweile waren Otto und Matthes von dem Krach erwacht. „Was ist denn hier los?“ fragte Otto verwirrt.
„Gar nichts“, sagte Amadeo. „Legt euch wieder hin!“
„Wir müssen Lila warnen!“ drängte Eri. „Bitte, lasst uns zum Hafen laufen und Lila suchen!“
„Sie wird längst auf einem Schiff sein!“ hielt Amadeo dagegen.
„Wer hat sie denn überhaupt aus dem Verschlag gelassen?“ fragte Matthes.
Amadeo antwortete mit einem spitzen Seitenblick auf Eri: „Sie ist wohl einfach geflohen.“
Eri erwiderte Amadeos Blick nicht. Sie sah in die Ferne, in die Himmelsrichtung, in der der Hafen lag. „Sie ist vor ihren Verfolgern geflohen. Sie waren hier.“
„Echt?“ fragte Otto überrascht.
Eri nickte. „Wir haben sie nicht richtig gesehen. Nur ihre Schatten.“
„Aber es waren bestimmt die zwei Kerle, von denen Lila gesprochen hatte?“ fragte Otto.
„Wer sollte es sonst gewesen sein? So ungefähr hat Lila sie beschrieben.“ bemerkte Eri achselzuckend. „Aber ich könnte nicht einmal sagen, ob das wirklich Männer waren. Sie sahen merkwürdig aus... so groß und...“
„Was soll das heißen, merkwürdig?“, fragte Matthes.
Amadeo sah zu Boden. „Eri hat recht. Das waren keine Männer. Das waren Monster.“
„Und sie haben eine fremde Sprache gesprochen!“ sagte Eri.
Amadeo nickte. „Die waren nicht von dieser Welt. Die kamen von ganz woanders her.“