Читать книгу Lila Blitz - Das Geheimnis der Snirq - Nicolas Bjausch - Страница 5
3. Kapitel: „Die Gestalten“
ОглавлениеAls Lila sich diesen Moment wieder aus ihrer Erinnerung hervorholte, füllten sich ihre Augen mit Tränen – ganz genau wie damals. Sie blickte sich wieder um. Aber außer der dunkelgrauen See, dem trüben Strand und den finsteren Kreidefelsen war nichts weiter zu sehen. Jetzt fühlte Lila sich genauso verlassen wie damals. Dazu spürte sie die Angst, die sie immer enger einzuschnüren schien.
„Du darfst nicht aufgeben, kleiner Vampir“, hörte Lila Frau Spitzhak sagen. „Von alleine geschieht nämlich nichts. Das ist nun mal so im Leben.“
Wie recht Frau Spitzhak damit gehabt hatte, dachte Lila. Sie atmete tief durch. Dann sprang sie in die Luft und stieß einen lauten Schrei aus. Das Tosen des Meeres hatte den Schrei schnell verschluckt. Aber es tat trotzdem gut – so konnte Lila das Gefühl der Einsamkeit und ihre Angst abschütteln. Und sie konnte beschließen, dass sie selbst doch viel stärker war als all die blöden Gefühle, die sie nur aufhielten.
„Von alleine geschieht nämlich nichts“, sagte Lila vor sich hin.
Das hatte sie auch damals vor sich hin gesagt, als sie am See weinend im Schilf kauerte. Denn Weinen und Kauern brachte Frau Spitzhak auch nicht zurück zu Lila. Sie musste etwas sinnvolles unternehmen.
Doch - was machte Sinn? Frau Spitzhak im endlosen Tobanja-Wald zu suchen? Und was, wenn Frau Spitzhak gar nicht mehr im Tobanja-Wald war? Vielleicht hatte man sie verschleppt und an einen fernen Ort gebracht.
Bei allem, was Lila sich überlegte, musste sie stets im Hinterkopf behalten, dass sie sich vor dem Morgengrauen vor dem Sonnenlicht in Sicherheit gebracht haben musste. Jetzt war die Nacht schon zu weit fortgeschritten, als dass Lila noch große Unternehmungen machen konnte. Wahrscheinlich war es das Klügste, erst mal nach Hause zurückzulaufen.
Erwin hatte sich derweil ebenfalls wieder ein wenig beruhigt. Er zitterte noch sachte. Lila strich ihm sanft über das Gefieder, während sie ihre letzten Tränen herunterschluckte. „Komm, Erwin“, flüsterte sie. „Ich bringe dich nach Hause.“
Auf dem Weg durch den Nachtwald aß Lila die Brote, die sie sich als Proviant mitgenommen hatte. Bisher war sie viel zu aufgeregt zum essen gewesen, aber sie musste sich ja irgendwann in dieser Nacht noch stärken. Außerdem hatte sie so das Gefühl, dass die Zeit auf dem langen Nachhauseweg schneller verstrich.
Mit dem Blick auf den Mond stellte Lila fest, dass die Nacht sich bald ihrem Ende zuneigen würde. Glücklicherweise konnte der Weg nach Haus nicht mehr allzu weit sein. Es war allerhöchste Zeit, sich vor dem drohenden Sonnenlicht zu verstecken.
Tatsächlich sah Lila nur kurze Zeit später in der Ferne zwischen den Bäumen die Schemen des großen, alten Hauses auftauchen. Das fahle Licht des Mondes wurde immer schwächer. Nun würde es nicht mehr lang dauern, bis die ersten Sonnenstrahlen sich den Weg durch das Blattwerk bahnen würden.
„Da sind wir wieder, Erwin“, flüsterte Lila dem Uhu zu.
Ein Hoffnungsfunken, dass Frau Spitzhak vielleicht mittlerweile nach Hause gekehrt war, überkam Lila. Doch gerade, als sie diesen Gedanken zuende gedacht hatte, hörte sie plötzlich das laute Knacken von Ästen. Gleich darauf erklangen zwei dunkle, merkwürdig verzerrte Stimmen, die in einem scharfen Ton miteinander stritten.
Fast wäre Lila zu Tode erschrocken. Fremde Menschen so tief im Tobanja-Wald? Das war noch nie vorgekommen, solange Lila sich erinnern konnte. Sie war außer Frau Spitzhak, Alexander, und Herrn Taubenblau mit seinen Neffen noch nie anderen Menschen hier begegnet. Waren sie freundlich? Oder waren sie böse?
Als Lila zwei Schatten aus dem Dickicht heraustreten sah, schlüpfte sie schnell hinter einen Strauch, um sich zu verbergen. Ihr stockte der Atem. Durch das dichte Geäst konnte sie nicht ganz genau erkennen, was das für Gestalten waren, die da nur wenige Meter von ihr entfernt aus den Büschen traten.
„Da ist das Haus!“ zischte eine Stimme.
„Dann haben wir das Kind ja gleich in den Fingern“, antwortete die andere Stimme, gefolgt von einem gehässigen Kichern.
Lila zuckte zusammen. Sprachen die beiden Stimmen über sie? Sie merkte, wie Erwin auf ihrer Schulter immer aufgeregter wurde. Sie merkte, wie er den Schnabel öffnete, um zu rufen. Aber es gelang Lila, ihm den Schnabel zuzuhalten. Auch wenn Erwin sich heftig wehrte.
„Komm schon“, dröhnte die erste Stimme wieder. „Liefern wir das Balg ab. Dann herrscht endlich wieder Ruhe.“
„Und dann sind wir die Größten!“ fügte die zweite Stimme hinzu. „Das riecht nach einer wunderbaren Belohnung!“
Unter großem Gelächter entfernten sich die beiden Gestalten Richtung Haus. Lila wagte vor Angst nicht, aus ihrem Versteck auch nur einen kleinen Schritt hervorzutreten. Aber durch die Zweige hindurch sah sie die Silhouetten der beiden Figuren. Obwohl Lila leibhaftige andere Menschen ja fast nur aus dem Fernsehen oder von Bildern kannte, so hatte sie sich andere Menschen nicht so vorgestellt. Nein, dachte Lila. Menschen waren das ganz sicher nicht. Die beiden Kreaturen waren viel größer als sie selbst oder Frau Spitzhak. Sie hatten unheimlich breite, oben spitz zusammenlaufende Schultern. Aus den Schultern ragten lange Arme mit dürren spitzen Fingern daran. Außerdem waren die Gestalten irgendwie... bucklig. Lila sah die Kreaturen nur von hinten, so dass die Köpfe beinahe ein bisschen hinter dem Rücken verschwanden. Zumindest der obere Teil ihrer Köpfe hatte eine ganz andere Form als menschliche Köpfe.
Mit einem angsterfüllten Blick zum Himmel musste Lila feststellen, dass die Morgendämmerung nicht mehr lange auf sich warten ließ. Was sollte sie nur tun? Zwei merkwürdige Geschöpfe, die nichts Gutes im Sinn hatten, steuerten schnurstracks auf ihr Haus zu. Und bald würde die Sonne ihr erstes Tageslicht durch den Wald schicken.
Erwin gelang ein kleiner Schrei. Dann drückte Lila ihm wieder den Schnabel zu.
Die Gestalten blieben stehen. „Was war das?“ kreischte die eine.
„Nur eine Eule!“ zischte die andere. „Komm schon!“
„Welche Eule?“
„Irgendeine Eule!“
„Aber –"
„Komm schon, das Haus! Schnappen wir das Menschlein und dann nix wie weg!“
Panisch hielt Lila dem Uhu den Schnabel zu. Erwin versuchte, ihre Hand mit einem seiner Füße zu lösen. „Bitte, sei still!“ wisperte Lila dem Nachtvogel energisch entgegen. „Es tut mir leid, wenn ich dir wehtue, aber sie dürfen uns nicht erwischen!“
Einige Augenblicke später wagte Lila einen Schritt nach vorne. Die beiden Gestalten waren fast am Haus angelangt und durften eigentlich nicht mehr in Hörweite sein.
Lila schlich ein paar Schritte zurück auf den Waldpfad. Gerade noch konnte sie sehen, wie die beiden großen Gestalten die Stufen zur Haustür hinauf huschten. Gleich darauf ertönte das Krachen von splitterndem Holz. Lila zuckte zusammen. Die Wesen hatten die Haustür aufgebrochen.
Plötzlich schlug Erwin seine Kralle auf Lilas Unterarm. Vor Schreck und vor Schmerz lockerte sie schlagartig ihren Griff um seinen Schnabel. Sie gab sich alle Mühe, den Schmerzensschrei zu unterdrücken. Erwin kreischte auf, flatterte mit den Flügeln und löste sich von Lilas Schultern. Erschrocken sah Lila ihm nach, gleichzeitig von Panik erfüllt, dass die beiden Kreaturen sie hören konnten. Erwin flog über eine Baumkrone und sauste dann direkt auf das Haus zu.
Das durfte nicht wahr sein! Entgeistert musste Lila mit ansehen, wie Erwin direkt durch ein geöffnetes Fenster im Obergeschoss in das Haus flog.
„Wo bist du, du verkommene, kleine Kröte?“ hörte Lila die dunklere der beiden Stimmen aus dem Inneren des Hauses brüllen.
„Komm raus!“ kreischte die andere Stimme. „Auf der Stelle, du missratenes Miststück!“
Lila wusste nicht, wie ihr geschah. Sie hörte das Poltern, das Krachen und zerbrechendes Glas, dazwischen die beiden Kreaturen, die mit ohrenbetäubenden Geschrei im Haus herum wüteten.
Was mochten sie wollen? Wen oder was suchten die unheimlichen Wesen im Haus? Meinten sie mit der „kleinen Kröte“ Frau Spitzhak - oder Lila selbst?
Weiter kam Lila mit ihren Gedanken nicht, denn ein lauter Knall schallte durch den Wald. Entgeistert beobachtete Lila, wie Holzlatten und Ziegel aus dem Hausdach in alle Richtungen flogen, fast wie bei einer Explosion. Plötzlich erhob sich aus dem Dach ein großer Schwarm kleiner schwarzer, flatternder Gestalten: Es waren die Fledermäuse vom Dachboden, die aufgeschreckt auseinander stoben. Fast hätte Lila „Nein!“ geschrien, aber glücklicherweise besann sie sich rechtzeitig.
„Wo bist du?“ kreischte eine der Stimmen wieder. Gleich darauf gab es einen weiteren Donner im Haus. Die Fensterscheiben zerbarsten. Lila erstarrte, als sie Tausende von kleinen, funkelnden Punkten durch die Nachtschwärze fliegen sah. Das Glühwürmchenkabinett! Wie ein Funkenflug zerstreuten sich die vielen kleinen Lichter rund um das Haus, das von innen gerade immer mehr zerstört wurde.
Lila hatte keine Zeit zu überlegen, was sie tun konnte, denn soeben hörte sie die Stimme des einen Ungeheuers wieder brüllen: „Nun komm endlich raus, du Göre! Ich reiße dir eines deiner Haare nach dem anderen aus!“
Da drang ein lauter Eulenschrei aus dem Haus. Erwin!
„Noch so ein Viehzeug!“ brüllte die gehässige Stimme. „Komm her, du!“
Lila hörte das laute Kreischen des Uhus, dann einen dumpfen Schlag – auf den der Eulenschrei schlagartig verstummte. Erwin! Ob er noch am Leben war? Oder ob sie ihn getötet hatten?
„Irgendwo muss sich doch dieses widerliche Kind herumtreiben!“ hörte Lila die dunkle Stimme schreien. „Es riecht ja alles nach ihr! Es riecht alles nach dem Kind mit den lila Haaren!“
Lila Haare! Die beiden Gestalten waren also auf der Suche nach ihr! Lilas Angst steigerte sich ins Unermessliche. Sie musste hier weg, schleunigst weg! Und während das Poltern und Knallen im Haus weiterging, begleitet von den schrillen Schreien der Eindringlinge, begann sie zu rennen. Lila drehte sich nicht mehr um Sie lief und lief, sprang über Baumwurzeln, trat in Pfützen und wirbelte Laub hinter sich auf.
Erst nachdem sie eine Ewigkeit gerannt war, und die Kraft sie allmählich verließ, wagte es Lila, stehen zu bleiben. Zaghaft drehte sie sich um. Egal wie weit sie vom Haus weg war, in Sicherheit fühlte Lila sich deswegen noch lange nicht. Vielleicht waren ihr diese Monster schon längst auf den Fersen, nachdem sie festgestellt hatten, dass Lila nicht im Haus war. Die Nacht hatte derweil an Schwärze verloren. Das Morgengrauen brach allmählich herein. Lila konnte ihr Zuhause nicht als rettenden Unterschlupf vor der Sonne aufsuchen. Aber sie musste sich vor ihren gefährlichen Strahlen schützen!
Eine riesige Eiche stand dort in der Nähe, am Rande eines kleinen Abhangs. Dort, wo die Wurzeln des Baumes den Abhang berührten, war der Boden ein wenig weggebrochen und die Erde nach unten gerutscht. Auf diese Weise entstand unter den verschlungenen Baumwurzeln eine Art Höhle. Vorsichtig kletterte Lila am Stamm entlang über die Wurzeln und hangelte sich in die Höhle. Viel Platz war dort nicht. Aber wenn Lila den Eingang des kleinen Raumes von innen mit Laub vergrub, würde das Tageslicht sie sicher nicht erreichen. Außerdem wäre sie – hoffentlich – vor den Blicken der unheimlichen Gestalten geschützt, die sicherlich nach ihr suchen würden.
Schnell hatte Lila ihr Versteck gesichert, so gut es ging. Erst jetzt umgab sie die Finsternis wieder völlig. Ein paar bleiche Schimmer, die durch das Laub drangen, ließen Lila das Tageslicht erahnen. Sie hatte sich gerade noch rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Vor der Sonne war sie geschützt – aber was war mit ihren Verfolgern? Sie konnte nur hoffen. Noch immer schnürte ihr die Angst die Kehle zu.
Lila dachte an Erwin. Sein Schrei war durch diesen enormen Schlag erstickt worden. Trotzdem hatte Lila noch immer Hoffnung, dass er es vielleicht geschafft hatte. Vielleicht hatten die Eindringlinge das Tier nur zu Boden geschlagen und es musste sich erst wieder erholen. Nein, tot war Erwin bestimmt nicht... oder?
Es wäre schön gewesen, wenn Erwin jetzt mit Lila gemeinsam im Versteck ausgeharrt hätte. Die Vertrautheit des Tieres hätte ihr gewiss Trost gespendet.
Auch wenn Lila ihre Furcht an diesem Tage nicht mehr abschütteln konnte, so übermannte die Müdigkeit sie irgendwann doch. Lila fiel in einen unruhigen, traumlosen Schlaf.