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4. Kapitel: „Eine Stadt“

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Lila konnte den Schrecken dieser Nacht ohne Anstrengung wieder in sich hervorrufen. In dieser Nacht war ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt worden, als Frau Spitzhak verschwunden war und die beiden unheimlichen Kreaturen ihr Zuhause zerstört hatten. Selbst den Geruch von faulendem, nassen Laub aus ihrem Versteck unter der Baumwurzel hatte Lila noch in der Nase. Sie hatte allerdings auch nicht vergessen, wie sehr sie das Versteck vor dem bedrohlichen Sonnenlicht beschützt hatte.

Lilas Blicke zum wolkenverhangenen Himmel verrieten ihr, dass sie auch hier, am Ufer des Ozeans, bald der Bedrohung durch das Tageslicht ausgesetzt sein würde. In diesem Moment fiel ihr ein, dass sie ein Sonnenstrahl getroffen hatte. Sie wusste gerade nicht mehr genau, wie und wann – dazu dröhnte ihr Kopf noch viel zu sehr. Aber Lila spürte, dass dieses Ereignis noch gar nicht lange her war. Und es hatte irgendwas damit zu tun, dass Lila sich hier in dieser Nacht an diesem unbekannten, verlassenen Strand wiedergefunden hatte. Doch so sehr Lila sich in diesem Augenblick anstrengte – sie konnte sich nicht erklären, wie das alles zusammenhing. Aber wahrscheinlich, nein, ganz sicher, war der Sonnenstrahl Schuld daran gewesen, dass Lila jetzt alles wehtat.

Irgendwann würde die Sonne sich zeigen – daran bestand kein Zweifel. Was konnte Lila tun, um sich zu schützen? Hier am Strand konnte sie sich allenfalls in den ausgewaschenen Kreidefelsen verstecken. Aber es sah nicht so aus, als würde sie hier eine Höhle oder eine Grotte finden, in der sie sich vor dem Tageslicht komplett verbergen konnte. Lila überlegte. Dabei fiel ihr Blick auf das Tuch, mit dem sich sich die Hand verbunden hatte. Richtig, das war das Tuch, das sie auf dem Schiff aus der Küche gestohlen hatte. Das Essen, das sie darin versteckt hatte, hatte sie aufgegessen. Aber kurz bevor man sie erwischt hatte, hatte Lila das Tuch hastig in ihre Tasche gestopft...

Der Schnitt auf der Hand blutete noch ein wenig. Aber der war jetzt weniger wichtig, fand Lila. Für den Fall, dass das Sonnenlicht sie schneller einholen würde als erwartet, war der Schutz ihres Kopfes bestimmt das allerwichtigste. Sie zupfte das Tuch von ihrer Hand ab faltete es an zwei Ecken zusammen und legte es zu einem Dreieck. Dann band sie sich das Tuch um ihren Kopf. Ihre lila Haare und ihre Stirn waren nun verhüllt.

„Bestimmt sehe ich jetzt wie ein Pirat aus“, sagte Lila leise zu sich – und erschrak. Das Wort „Pirat“ hatte sie erschreckt. Sie hatte es unwillkürlich benutzt. Lila schluckte und sagte: „Wenn es nicht so schrecklich wäre, könnte ich über das Wort lachen.“

Damals in ihrem Versteck unter der Baumwurzel hatte Lila geglaubt, nie wieder im Leben zu lachen. Frau Spitzhak war verschwunden, zurück nach Hause konnte sie nicht. Nicht einmal Erwin war noch bei ihr. Was sollte sie nur tun?

So viele Stunden hatte sie in ihrem Versteck nun ausgeharrt. Geschlafen hatte sie nicht sehr viel. Der leichte Schimmer des Tages, der durch das aufgeschichtete Laub drang, ergraute immer mehr und verblasste schließlich völlig. Das bedeutete wohl, dass der Abend draußen hereingebrochen war.

Ganz behutsam grub sich Lila mit den Händen durch das Laub. Sofort sog sie die frische Luft ein, die in ihr Versteck drang. Das tiefe Durchatmen tat gut.

Tatsächlich war Lila vor der Sonne erst einmal sicher: Der Mond stand kühl und blank am sternenbesetzten Nachthimmel. Aber ob Lila auch vor den beiden Wesen sicher war? Vielleicht waren sie noch immer im Wald und suchten nach ihr. Für einen Moment überlegte Lila, ob es besser wäre, nach Hause zurückzugehen. Aber vielleicht würde sie den Kreaturen dann direkt in die Arme laufen.

Wo sollte sie hingehen? Sie war schon jetzt in einem Teil des Waldes, den sie nicht richtig kannte. Und zu essen und zu trinken hatte sie auch nichts. An eine Rückkehr nach Hause war einfach nicht zu denken. In der Hoffnung, dass die Eindringlinge die Suche nach ihr aufgegeben hatte, entschied Lila, noch ein Stück weiterzugehen. Vielleicht fand sie irgendwo ein paar Beeren oder essbare Wurzeln. Jedenfalls war alles besser als hier zu bleiben.

Nach ein paar Stunden konnte sich Lila nur noch am Mond orientieren – und selbst das nicht so recht, weil sich der Mond am Himmel ja nicht stillstand. Der Teil des Waldes, den sie jetzt erreicht hatte, war ihr völlig fremd. Hier war der Boden viel feuchter, fast sumpfig. Die Bäume wurden dürrer, ihre knorrigen Äste sahen aus wie Arme, die nach Lila greifen wollten. Aber Lila versuchte tapfer, ihre Angst herunterzuschlucken und ging weiter. Wann immer ein Geräusch durch den Nachtwald drang, zuckte Lila zusammen. Selbst wenn es nur das Knacken eines Zweiges oder der Ruf eines Käuzchens war, so fuhren Schreck und Angst immer wieder durch ihre Glieder. Denn wer konnte sagen, dass die unheimlichen Wesen ihr nicht auf den Fersen waren?

Stunde um Stunde irrte Lila durch den Wald. Ein schmaler Bach floss durch eine Senke. Das kalte Wasser half Lila, ihren Durst ein wenig zu bekämpfen. Zum Essen hatte sie noch immer nichts gefunden.

Lila hatte den Wald in ihrem ganzen Leben noch nie verlassen. Bisher hatte sie auch den Wunsch danach nie verspürt. Aber in dieser Nacht dachte sie, dass es vielleicht besser wäre, das Ende des Waldes zu finden. Jetzt, da sie Frau Spitzhak und ihr Zuhause verloren hatte, brauchte Lila vielleicht jemand anderen, der ihr helfen konnte. Aber wer verirrte sich schon in diese entlegenen Gebiete des Tobanja-Waldes?

Allmählich zeichnete sich ab, dass Lilas Irrweg sie heute Nacht zu keinem Ziel führen würde. Langsam wurde es Zeit, sich wieder eine Zuflucht vor dem Tag zu suchen. Das Glück, eine schützende Höhle zu finden, hatte Lila kein zweites Mal. Stattdessen fand sie einen Baum, dessen Blätter größer waren als ihr eigener Kopf. Lila sammelte einen ganzen Haufen dieser Blätter, um damit und mit abgebrochenen Zweigen einen Unterstand zu bauen. Es wurde ein richtiger Verschlag daraus. Bestimmt würde Lila darin gut geschützt sein. Als sie sich wieder bückte, um einige der Riesenblätter aufzuheben, fand Lila plötzlich eine braune Glasflasche auf dem Boden. Sie war leer, das grüne Etikett war halb abgerissen. Anzufangen war damit nichts. Aber was Lilas Herz schneller schlagen ließ, war die Erkenntnis, dass irgendjemand hier gewesen sein musste. Schließlich war die Flasche nicht von alleine hier gelandet. Das bedeutete ja vielleicht, dass sie nicht allzu weit von der Grenze des Waldes entfernt war. Vielleicht würde sie morgen diese Grenze finden. Doch was mochte jenseits dieser Grenze liegen?

Den folgenden Tag über schlief Lila besser als am vorherigen. Mittlerweile hatte sie das Gefühl, dass sie ihren Verfolgern erst einmal entkommen war. Außerdem hatte der Fund der Flasche ihr einen Funken Hoffnung geschenkt.

Am nächsten Abend lugte Lila vorsichtig zwischen den Blättern hindurch, bis sie sich sicher sein konnte, dass die Abenddämmerung weit genug fortgeschritten war. Dann verließ sie ihren Verschlag und machte sich wieder auf ihren Weg ins Ungewisse.

Das Geräusche, das Lila heute Nacht am meisten erschreckte, war das Knurren ihres Magens. Bei den ersten Malen hatte sie gedacht, dass ein knurrender Wolf ihr auflauerte. Es war an der Zeit, endlich etwas zu essen zu finden. Einmal fand sie einen Hexenring von großen Pilzen. Aber ob die essbar waren, wusste Lila nicht.

Plötzlich stolperte Lila über etwas. Im ersten Moment dachte sie an einen Zweig oder einen Baumstumpf – aber es war ein Schuh. Tatsächlich, ein Schuh! Ein erneuter Hinweis darauf, dass Menschen hier gewesen sein mussten – oder vielleicht sogar ganz in der Nähe waren?

Gespannt lief Lila weiter. Es dauerte nicht lange, bis sie auf den nächsten Gegenstand stieß: Der Wind trieb einen kleinen Ballen von zerknülltem Zeitungspapier zwischen den Baumstümpfen hin und her. Aber die Baumstümpfe... sahen sehr seltsam aus, dachte Lila. Normalerweise ragten scharfkantige Splitter, die mit Moos und Pilzen bewachsen waren, aus den Stümpfen heraus. Diese hier aber hatten eine ebene, glatte Oberfläche, auf denen man Jahresringe erkennen konnte. Und Lila fand es merkwürdig, dass hier zahlreiche dieser Baumstümpfe mit ebener Oberfläche nebeneinander standen. Hier war es viel heller als im Rest des Waldes. Das fahle Mondlicht spendete der Lichtung einen silbernen Schimmer.

Lila ging weiter. Auf einmal ragte ein riesiges Gebilde vor ihr empor. Zuerst dachte Lila, es sei eine Hütte. Als sie aber näher kam, sah sie, dass das ein Haufen von turmdicken Baumstämmen war, die aufeinandergestapelt waren. Baumkronen hatten die Stämme nicht mehr. Die andere Seite der Stämme waren ebenso glatt wie die Oberfläche der Baumstümpfe. Jetzt erkannte Lila, was es damit auf sich hatte: Die Bäume waren abgesägt worden! Lila hatte so etwas nie zuvor gesehen, aber hatte davon gelesen – Bäume wurden gefällt, um Brennholz zu gewinnen oder Papier daraus zu machen. Noch ein untrügliches Zeichen, dass die scheinbar grenzenlosen Wälder hier doch irgendwo ein Ende fanden.

Es mochte vielleicht noch eine halbe Stunde Fußmarsch gewesen sein, als Lila einen schwachen Schimmer wahrnahm. Der Schimmer fiel in einem zarten Orange durch die Bäume und Sträucher in der Ferne. Es war ein schwaches Licht, wie Lila es noch nie zuvor gesehen hatte. Zwar war sie sich nicht sicher, inwiefern dieses Licht für sie gefährlich war, aber es war ganz sicher kein Sonnenlicht. Sie wagte sich näher heran.

Je weiter Lila ging, desto kräftiger wurde der Schein. Aber er war längst nicht stark genug, um die Nacht zu durchbrechen. Die Finsternis umgab Lila immer noch wie ein schützender Umhang. Das wog Lila so sehr in Sicherheit, dass sie es wagte, sich der großen Hecke immer mehr zu nähern, die vor ihr lag. Dahinter schien der Schimmer am kräftigsten zu sein. Lila bahnte sich den Weg durch die Hecke und strich die letzten Zweige zur Seite. Mit dem, was sie hier sah, hätte Lila nie gerechnet.

Sie blickte hinunter in einen Talkessel. Dort unten lag eine Ansammlung von Häusern, die an hell erleuchteten Straßen standen. Diese kleine Stadt war es, die den orangefarbenen Schein in die Nachtschwärze trug. Hinter der Stadt spiegelte sich das Licht des Mondes auf einer scheinbar unendlichen schwarzen Fläche unter dem Nachthimmel.

„Das Meer“, dachte Lila schlagartig. Sie hatte oft in Büchern Bilder vom Meer gesehen, und Frau Spitzhak hatte erzählt, dass man am Meer „Wasser, so weit das Auge reicht“ sehen konnte.

Was Lila an der kleinen Stadt am schönsten fand, war eine Ansammlung von vielfarbigen Lichtern, die in der Dunkelheit blinkten und blitzten. So schönes, buntes Licht hatte sie noch nie gesehen. Und es war weit genug weg, als dass es Lila hätte gefährlich werden können. Was mochte das sein, was da so bunt leuchtete und sich drehte? Außerdem glaubte Lila, in der Ferne Musik zu hören.

Lila atmete tief durch. Es war das erste Mal, dass sie eine Stadt vor sich sah. Ganz sicher würde sie dort etwas zu essen finden. Und bestimmt würde sie auch jemanden finden, der ihr helfen konnte. Vielleicht wusste man dort sogar, was mit Frau Spitzhak geschehen war. Und so begann Lila, den Abhang in das Tal hinabzusteigen, um zum ersten Mal in ihrem Leben eine Stadt zu betreten.

Lila war zunächst enttäuscht, als sie feststellte, dass die Straßen menschenleer waren. Eine Stadt hatte sie sich viel lebendiger vorgestellt. Dann fiel ihr ein, dass die meisten Menschen ja in der Nacht im Bett lagen und schliefen. Ob es noch mehr Leute wie sie gab, die in erster Linie in der Nacht lebten?

Lila überquerte eine große Straße und irrte durch schmale Gassen, an denen Häuser aus großen Steinen dicht aneinander gebaut waren. Hinter manchen Fenstern leuchtete ein wenig Licht. Staunend betrachtete Lila die großen Autos, die an den Bürgersteigen geparkt waren. Sie hatte noch nie ein Auto in Wirklichkeit gesehen.

Die Musik, die Lila schon im Wald gehört hatte, klang jetzt näher als eben. Außerdem glaubte Lila, ein Gewirr aus Stimmen und Lachen zu hören. Da – dort hinten huschten einige Menschen über die Straße. Lila wollte instinktiv rufen - gleichzeitig war sie aber auch erschrocken. Rasch verbarg sie sich hinter eine Mülltonne. Die Leute waren achtlos weitergelaufen.

Obwohl es noch einige Stunden bis zum Sonnenaufgang waren, machte Lila sich Gedanken, wo sie sich vor dem Tageslicht in Sicherheit bringen konnte. Aber hier in der Stadt, mit den vielen Gassen und Häusern würde sich bestimmt eine Gelegenheit finden.

Lila trat aus einem kleinen Seitengässchen auf eine größere Straße hinaus. Die Straße schlängelte sich am Lauf eines kleinen Flusses entlang. Eine Brücke aus mächtigen Steinen führte über den Fluss. Auf der Brücke fuhren Autos, Menschen liefen am Geländer entlang. Die Leute hatten Luftballons in der Hand und trugen große Herzen an Bändern um den Hals. Sie schienen gute Laune zu haben. Lila schaute staunend zu. Hier auf der größeren Straße klang die Musik gleich viel lauter. Außerdem schimmerte das bunte, flimmernde Licht über den Hausdächern, das Lila vom Wald aus schon bewundert hatte.

Obwohl sie von der Neugier gepackt war, wagte Lila sich nicht auf die Brücke, um sich dort unter die Menschen zu mischen. Unter der Brücke, direkt am Flussufer nahm sie einen schwachen, flackernden Schein in der Dunkelheit wahr. Das war gewiss ein Feuer. Das Feuer im Ofen im Haus von Frau Spitzhak war stets gemütlich gewesen. Ob es unter der Brücke auch wenigstens ein bisschen gemütlich war? Lila beschloss, dort nachzusehen. Vielleicht war sogar jemand da, dem sie sich anvertrauen konnte.

Vorsichtig lugte Lila um die Ecke des Brückenpfeilers. Zu ihrer Überraschung saß dort eine Gruppe von Kindern um das Feuer herum. Vier Kinder, drei Jungen und ein Mädchen, schätzte Lila. Die Kinder trugen Mützen und waren in zerschlissene Decken eingehüllt.

„Kinder, mitten in der Nacht unter einer Brücke“, dachte Lila. „Sind gewöhnliche Kinder nicht nachts bei ihren Eltern und schlafen? Vielleicht geht es ihnen ja so ähnlich wie mir.“

Zaghaft näherte sie sich der Gruppe. Sie musste die Augen zukneifen. Das helle Strahlen des Feuers brannte darin.

Lila musste an die Zwillinge Anatol und Bernhard denken, die Neffen von Frau Spitzhaks Freund Herr Taubenblau. Hoffentlich waren diese Kinder genauso freundlich wie die Zwillinge. Noch hatte die Gruppe Lila nicht bemerkt. Lila schluckte aufgeregt und trat einen weiteren Schritt vor. Dann sagte sie vorsichtig: „Guten Abend!“

Schlagartig wandten sich alle Blicke ihr zu. Der Junge, der ihr am nächsten saß, stand sofort auf und zischte: „Was willst du hier?“

Erschrocken machte Lila einen Schritt zurück. „Ich... ich...“

„Sieh zu, dass du Land gewinnst!“ sagte der Junge mit scharfer Stimme. „Bei uns hast du nichts verloren.“

In dem Moment standen die anderen beiden Jungen ebenfalls auf und stellten sich mit Drohgebärden hinter den angriffslustigen Jungen.

„Ich wollte nur... ich“.... Lila konnte sich vor Schreck kaum rühren. Warum waren diese Kinder denn so böse?

„Lila Haare“, spottete der Junge rechts hinter dem Anführer. „Habt ihr so was schon mal gesehen?“

„Vielleicht hat sie sich das Haar mit Blaubeersaft gewaschen!“ kicherte der Junge auf der linken Seite boshaft. Die anderen beiden fielen in das Gelächter mit ein.

„Was bitte ist an lila Haaren so ungewöhnlich, ihr Mützenträger?“ fragte Lila und verschränkte die Arme.

Das Gelächter verstummte. Damit hatten die Jungen nicht gerechnet. Bevor einer der drei reagieren konnte, erhob sich das Mädchen, das bis jetzt noch am Feuer sitzen geblieben war.

„Lasst sie doch in Ruhe! Wir wissen doch gar nicht, was sie möchte.“

Der Anführer warf dem Mädchen einen verächtlichen Blick zu. Dann sah er Lila prüfend an. „Willst du stehlen?“ fragte er drohend.

„Nein“, antwortete Lila. „Ich wollte nur schauen. Aber wenn ihr vielleicht was zu essen habt, wäre ich nicht unglücklich.“

„Gut, jetzt hast du geschaut“, gab er zurück. „Und jetzt wird es Zeit, dass du nach Hause verschwindest. Mama und Papa warten schon!“

Die anderen Jungs lachten. Das Mädchen rollte mit den Augen und ging auf Lila zu. Sie legte ihr den Arm um die Schulter. „Amadeo hat recht“, sagte sie. „Es ist spät. Du solltest wirklich nach Hause gehen.“

„Wenn das so einfach wäre“, erwiderte Lila. „Ich habe kein Zuhause mehr.“

„Du hast kein Zuhause?“ wiederholte das Mädchen.

Hastig erzählte Lila in knappen Worten, woher sie kam und was sie erlebt hatte. Die Jungen sahen sie ungläubig an.

„So ein Märchen habe ich schon lange nicht mehr gehört!“ sagte Amadeo verächtlich.

Aber das Mädchen sagte: „Komm. Setz dich mit zu uns ans Feuer.“

Unsicher, aber doch ein wenig froh, begleitete Lila das Mädchen zum Feuer. Die Jungen setzten sich ebenfalls wieder und beäugten Lila argwöhnisch.

„Habt ihr vielleicht etwas zu essen?“ fragte Lila bittend. „Ich habe seit vorgestern nichts mehr gehabt.“

„Gib ihr was, Otto“, knurrte Amadeo seinen Freund an, der daraufhin widerwillig in einem von Motten zerfressenen Rucksack kramte. Daraus holte er ein Stück Brot und ein bisschen Käse hervor. Dankbar nahm Lila es an.

„Der Dritte im Bunde heißt Matthes“, erklärte das Mädchen. „Und mein Name ist Eri. Wir heißt du?“

„Lila“, sagte Lila kauend. „Mein Name ist Lila.“

„Lila“, wiederholte Otto höhnend. „Ihr Name ist genauso verrückt wie ihre Haare! Zum Piepen!“

„Halt den Mund, Otto!“ sagte Eri.

Noch immer drang Musik aus der Ferne hervor. Hinter der Brücke sah Lila noch immer die bunten Lichter am Himmel leuchten. „Was ist das?“ fragte sie.

„Hinter dem Hafen ist ein Jahrmarkt“, erklärte Eri. „Die ganze Stadt ist auf den Beinen.“

„Ja“, lachte Matthes. „Gut für uns! Alle verlassen ihre Häuser, da können wir ganz in Ruhe stöbern.“

„Halt den Mund, Matthes!“ zischte Amadeo wütend und stieß ihn in die Seite.

„Wonach stöbert ihr?“ erkundigte sich Lila.

„Danach, was du gerade in den Händen hältst!“ erklärte Amadeo.

Lila blickte auf ihr Brot und den Käse. „Willst du damit sagen, dass ihr das Essen geklaut habt?“

„Natürlich“, erwiderte Amadeo. „Was sollen wir denn sonst machen?“

Noch nie hatte Lila über Stehlen nachgedacht. Bei Frau Spitzhak im Haus kam so etwas nie vor. Lila wusste nur, dass es nicht rechtens war – und das fand es richtig so.

„Klauen ist nicht in Ordnung!“ sagte sie. Dann blickte sie zaghaft Eri an. „Oder?“

Eri zuckte mit den Achseln. „Eigentlich nicht“, gab sie zu. „Aber was sollen wir machen?“

„Habt ihr denn auch kein Zuhause?“ fragte Lila. „Oder jemanden, der sich um euch kümmert?“

„Nein, haben wir nicht“, gab Otto patzig zurück. „Hatten wir. Aber da sind wir abgehauen.“

„Abgehauen? Freiwillig?“, fragte Lila verwirrt. „Warum das?“

„Wir haben im Waisenhaus gelebt“, erklärte Eri. „Aber dort wurde man furchtbar ungerecht behandelt. Sie haben uns geschlagen. Und außerdem gab es vor allen Fenstern Gittern. Wie im Gefängnis. Irgendwann sind wir abgehauen.“

„Geschlagen?“ fragte Lila. Sie war nie geschlagen worden. Frau Spitzhak konnte manchmal streng sein. Aber sie hatte nie ihre Hand gegenüber Lila erhoben. „Und das habt ihr euch gefallen lassen?“

Eri zuckte wieder die Achseln. „Was sollten wir machen? Nun gaunern wir uns so durch. Die erste Zeit mussten wir uns verstecken, da waren sie noch hinter uns her. Aber ich glaube, mittlerweile sind wir ihnen egal.“

Lila dachte an die beiden mysteriösen Gestalten, die das Haus von Frau Spitzhak überfallen hatten. Ob sie immer noch auf der Suche nach ihr waren?

„Wir sollten bald schlafen gehen“, bestimmte Amadeo.

„Schlafen? Jetzt?“ fragte Lila. Als sie die überraschten Gesichter der Kinder sah, erklärte sie rasch: „Ich schlafe nie in der Nacht. Ich gehe immer erst ins Bett, wenn die Sonne aufgeht.“

„Warum das?“ wollte Matthes wissen.

„Ich habe eine Allergie gegen das Licht“, erklärte Lila. „Ich weiß nicht, was dann mit mir geschieht, aber es ist sehr gefährlich für mich. Das Licht vom Feuer geht gerade noch. Es tut mir nur in den Augen weh.“

„Dann kennst du die Welt gar nicht bei Tageslicht?“ fragte Eri.

Lila schüttelte den Kopf.

„Entsetzlich“, sagte Eri. „Ich könnte mir nicht vorstellen, den Himmel und das Meer am Tag nicht sehen zu dürfen.“

„Ist vielleicht gar nicht so schlecht“, sagte Amadeo prüfend. „Du kannst ja heute Nacht Wache schieben. Damit uns keiner beklaut.“

„Aber ich muss einen Platz finden, an dem ich den Tag über verbringen kann!“ rief Lila. „Wenn mich die Sonne erwischt, dann geht es mir ziemlich übel!“

„Das ist kein Problem“, winkte Amadeo ab. Er stand auf und öffnete eine kleine Holztür in dem riesigen Brückenpfeiler. Dahinter war ein dunkler Raum.

„Das ist ja super!“ rief Lila und stand auf. Sie schaute in das kleine schwarze Zimmer. Es roch modrig, die Luft war feucht. Aber vielleicht konnte man es sich irgendwie dort drin gemütlich machen.

„Du kannst ja für einen Tag dort bleiben“, entschied Amadeo.

„Und dann?“ fragte Eri.

„Was und dann?“ fragte Amadeo zurück.

„Na, wo soll Lila dann hin? Sollte sie nicht bei uns bleiben? Fünf Leute sind stärker als vier“, meinte Eri.

„Will sie das denn überhaupt?“ fragte Matthes und blickte Lila prüfend an.

Bisher hatte Lila noch nicht daran gedacht, hier zu bleiben. „Ich... ich weiß nicht.“

„Was bringt das?“ hielt Amadeo sofort dagegen. „Wir leben am Tag und gehen am Abend schlafen. Sie schläft den Tag über. Außer zur Wache ist sie doch zu nichts nutze.“

Die Unverfrorenheit des Jungen ärgerte Lila. Aber sie hatte nichts, was sie dem entgegensetzen konnte.

„Trotzdem!“ sagte Eri energisch. „Wir können sie doch nicht einfach wegschicken, wenn sie noch nicht weiß, wo sie hin soll. Oder, Lila?“

Lila nickte, überlegte und sagte: „Wenn ich vielleicht bleiben könnte, bis ich weiß, was mit mir geschieht?“

„Ich glaube, dass noch ein Mädchen in unserer Gruppe sehr nützlich sein wird“, unterstützte Eri sie.

Die Jungen sahen sich an. Dann nickte Amadeo und sagte: „Einverstanden. Aber nicht ohne Mutprobe. Ohne Mutprobe bleibt niemand bei uns. Sie soll uns beweisen, dass sie nützlich für uns ist.“

„Abgemacht“, versprach Lila. „Darauf kannst du dich verlassen.“

Lila Blitz - Das Geheimnis der Snirq

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