Читать книгу Lila Blitz - Das Geheimnis der Snirq - Nicolas Bjausch - Страница 4
2. Kapitel: „Als Frau Spitzhak verschwand“
ОглавлениеLila kauerte an der Felswand und hatte ihr Gesicht zwischen ihren Knien vergraben. Noch immer wusste sie nicht, was sie tun sollte. Besorgt blickte sie zum Himmel. Er war noch ebenso grauschwarz wie vorher. Die Sonne machte keine Anstalten, sich zu zeigen. Solange sich das nicht änderte, war Lila wenigstens vor dem Licht in Sicherheit.
Hier konnte sie nicht bleiben, das wusste sie. Lila konnte nicht darauf warten, dass vielleicht jemand vorbeikommen würde und sich um sie kümmerte. Außerdem war sie viel zu durstig. Das Wasser in den Prielen im Schlick war Salzwasser, das konnte sie nicht trinken.
Lila richtete sich auf und stellte sich auf ihre Füße. Sie fühlte sich immer noch etwas benommen, aber nicht mehr ganz so wie vorher.
Was hätte Frau Spitzhak ihr geraten? Lila hörte die Stimme der alten Frau regelrecht in ihren Ohren: „Mein kleiner Vampir, du bist elf Jahre alt. Alt genug zu entscheiden, ob du dich auf deinen Kopf oder auf deinen Bauch verlassen willst.“
Sich auf ihren Kopf zu verlassen, das hatte keinen Zweck, das wusste Lila. Denn sie hatte ja keine Ahnung, was hier überhaupt vor sich ging. Also musste der Bauch die Antwort liefern. Lila schaute nach rechts. Dann blickte sie nach links. Eigentlich sahen beide Seiten gleich aus: Es gab nur den finsteren Strand, der irgendwo in absoluter Finsternis verschwand. Hin und wieder ragten hohe, scharfe Felsen aus dem Sand.
Lila schloss die Augen und stellte sich die Frage: „Rechts oder links?“. Dann horchte sie tief in sich hinein. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie in ihrem wunderschönen gemütlichen Bett bei Frau Spitzhak immer nach links gedreht lag. Das war einerseits sehr bequem, andererseits weg vom Fenster, durch das ja immer ein wenig Licht dringen konnte.
„Links!“ schoss es Lila durch den Kopf. Sie wandte ihren Körper nach links und begann zu laufen. Sicherheitshalber blieb sie immer in der Nähe der Felswand – falls sie schnellen Schutz vor den Sonnenstrahlen suchen musste.
„Frau Spitzhak hat recht“, dachte Lila. „Es war richtig, sich auf meinen Bauch zu verlassen. Was würde sie mir noch raten?“
Da fiel Lila schlagartig wieder ein, dass Frau Spitzhak ihr gar nichts raten konnte. Nicht nur, weil sie nicht in der Nähe war, nein... Waren es Tage? Oder waren es Wochen, in denen sie Frau Spitzhak nicht gesehen hatte? Richtig, es war ja etwas passiert...
Frau Spitzhak liebte es zu kochen. Mit dem Motorrad brachte Alexander ja jede Woche einen Korb voller Lebensmittel, aber Frau Spitzhak bediente sich auch an dem, was der Wald bot. Zum Beispiel sammelte sie Pilze. Sie konnte jeden Giftpilz von einem leckeren, genießbaren Pilz unterscheiden. Außerdem kochte sie herrliche Gerichte aus gesammelten Wurzeln und Beeren.
Was Frau Spitzhak außerdem sehr liebte, waren Krebse. Einige Meilen entfernt vom Haus gab es einen See. Ab und zu wanderte Frau Spitzhak dorthin, um Krebse zu fangen. Lila begleitete sie nur selten, denn der See war zu weit entfernt. Die Gefahr, dass sie es nicht vor Sonnenaufgang nach Hause schafften, war zu groß.
Wenn der Nachtnebel bei Vollmond über dem See schwebte, dann war für Frau Spitzhak die beste Zeit, Krebse zu fangen. Daraus kochte sie dann zu Hause ein leckeres Gericht, verfeinert mit edlen Kräutern, die sie ebenfalls im Wald gesammelt hatte.
Während Frau Spitzhak unterwegs war, vertrieb sich Lila die Zeit alleine. Entweder spielte sie im Haus oder kletterte in den hohen Bäumen herum. Darin war Lila unschlagbar, sie konnte klettern wie ein Affe – und Höhe machte ihr gar nichts aus.
Das letzte Mal, als Frau Spitzhak Krebse fangen ging, war, als die Tage wieder länger und die Nächte kürzer wurden. Ja, es musste kurz nach Frühlingsanfang gewesen sein. Denn Lila spürte, wie sich die Luft im Wald veränderte. Außerdem sah sie im Nachtlicht, wie sich tagsüber Knospen an den Sträuchern geöffnet hatten. Das war zwar sehr schön. Aber für Lila bedeutete es auch, dass die Nächte mit jedem Tag, bis zur Sommersonnenwende, kürzer wurden. Und je länger ein Tag dauerte, desto mehr Gefahr bestand, dass das Sonnenlicht Lila erreichte.
Lila winkte Frau Spitzhak nach, als sie an diesem Abend auf Krebsfang ging. Der Uhu Erwin saß auf Frau Spitzhaks Buckelkorb, der über ihren Schultern hing. Aber dann entschied Erwin sich noch einmal um und flog zu Lila zurück. Wahrscheinlich würde Frau Spitzhak erst gegen Morgen wiederkommen. Es war also noch ungewiss, ob Lila und Frau Spitzhak sich in dieser Nacht noch begegnen würden.
Lila schaute nach den Fledermäusen, nach den Hamstern und nach den Glühwürmchen. Außerdem war in der Stube gerade ein Hermelin zu Gast, das sich an seiner Brust verletzt hatte. Aber es war nach Frau Spitzhaks Behandlung auf dem Weg der Besserung.
Tatsächlich ging es dem Hermelin heute Nacht wieder richtig gut. Nachdem es anfänglich etwas schüchtern war, fraß es Lila nach einiger Zeit sogar aus der Hand. Dann spielte Lila mit dem Hermelin. Es war kitzlig, wie Lila beim Herumtoben feststellte: Als sie ihm den Bauch kraulte, fiepste das weiße Tier vor Vergnügen.
Zweifellos ging es dem Hermelin wieder prächtig. Also entschloss sich Lila schweren Herzens, dem Tier seine Freiheit zurückzugeben. Sie brachte es auf eine Lichtung, die nur wenige hundert Meter vom Haus entfernt war. Dort setzte sie es in den Schein des Mondlichts auf den Boden. Das Hermelin legte den Kopf schief und schaute Lila fragend an. Als Lila dem Tier freundlich und aufmunternd zunickte, fiepste es noch einmal und sprang mit großen Sprüngen zwischen den Büschen hindurch in den Wald. Lila winkte dem kleinen Kerl noch ein wenig nach, selbst wenn er längst schon über alle Berge war. Erwin kreiste noch einige Runden über den Baumkronen, um festzustellen, dass das Hermelin auch wirklich seinen Weg fand.
Lila ging zurück nach Hause. Auf dem Weg dorthin kam sie an einem Strauch vorbei, an dem viele Frühlingsnachtastern wuchsen. Diese Blumen hatten einen ganz besonderen Duft, den sowohl Frau Spitzhak als auch Lila sehr liebten. Lila pflückte ein paar davon. Vielleicht konnte sie Frau Spitzhak damit überraschen.
Erst jetzt fiel ihr auf, wie lange sie sich mit dem Hermelin beschäftigt hatte. Es würde sicherlich nicht mehr lange dauern, bis die Morgendämmerung hereinbrach. Es war Zeit für Lila, sich in ihre Kammer zurückzuziehen und schlafen zu gehen, bevor die Sonne aufging.
Frau Spitzhak war noch nicht zurück. Lila war ein wenig enttäuscht, aber machte sich keine Sorgen. Der Weg war weit, und der Krebsfang kostete Frau Spitzhak viel Zeit. Sie würden sich ja spätestens in der nächsten Nacht wiedersehen. Vielleicht überraschte Frau Spitzhak Lila ja morgen Abend mit einem köstlichen Frühstück (trotzdem sie es abends zu sich nahmen, nannten Lila und Frau Spitzhak die Mahlzeit „Frühstück“). Das tat sie manchmal, wenn sie in der vorherigen Nacht so spät nach Hause kam, dass sie Lila nicht mehr gute Nacht (vielmehr „guten Tag“) wünschen konnte. Lila kam eine Idee: Sie stellte das Glas mit den herrlich duftenden Nachtastern direkt vor die Haustür. Wenn Frau Spitzhak mit ihren Krebsen nach Hause kam, würde sie den Strauß mit den herrlichen Blumen sofort entdecken. Das war bestimmt eine fantastische Überraschung! Auch Erwin heulte begeistert über diesen Plan. Dann zog er sich mit Lila zurück und bewachte ihren Schlaf.
Als Lila am nächsten Abend aufwachte, zog kein Frühstücksduft durch das Haus. Sie hörte auch kein Poltern oder kein gutgelauntes Singen von Frau Spitzhak. Es herrschte Stille. Das war merkwürdig. Lila stand auf und lief die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Der wohltuende Geruch der Nachtastern hatte sich überall hier unten ausgebreitet. Aber Frau Spitzhak war nirgends zu sehen.
Lila erschrak, als sie feststellte, dass der Blumenstrauß noch immer an der Stelle stand, wo sie ihn am frühen Morgen drapiert hatte. Das musste bedeuten, dass Frau Spitzhak nicht nach Hause gekommen war. Sonst hätte sie die Nachtastern ganz bestimmt auf einen Tisch gestellt. Für alle Fälle vergewisserte Lila sich und rief: „Frau Spitzhak? Frau Spitzhak!“
Niemand antwortete. Lila öffnete die Haustür und schaute nach draußen. Der nächtliche Wald lag in seiner gewohnten Stille vor ihr. „Frau Spitzhak?“ schallte Lilas Stimme zwischen den Bäumen hindurch. Wieder kam keine Antwort.
Was hatte das zu bedeuten? Wenn Frau Spitzhak hätte länger wegbleiben wollen, hätte sie Lila das bestimmt gesagt. Ob ihr etwas zugestoßen war? Irgendwas musste sie aufgehalten haben, das war sicher. Aber Frau Spitzhak war gewitzt und wusste sich zu helfen. Bestimmt würde sie bald nach Hause kommen.
„Erwin?“ rief Lila. „Erwin!“
Es dauerte keine zehn Sekunden, bis der Nachtvogel angeflogen kam und sich auf Lilas ausgestreckte Hand setzte. Er blickte Lila erwartungsvoll an.
„Such Frau Spitzhak!“ forderte Lila ihn auf. „Frau Spitzhak! Verstehst du?“
Erwin legte den Kopf schief und stieß einen kleinen Eulenschrei aus. Dann breitete er die Flügel aus und flatterte davon. Lila sah ihm nach, wie er im nächtlichen Wald verschwand. Erwin war klug und kannte Frau Spitzhak. Bestimmt würde er sie finden und bald nach Hause bringen. Vielleicht hatte sie sich ja verirrt? Dann war Erwin der Retter in der Not zum richtigen Zeitpunkt.
Die Stunden verstrichen. Noch immer war Frau Spitzhak nicht zu Hause. Lila saß in der Küche und schaute aus dem Fenster in die Nacht. Bis vor einiger Zeit war sie noch der festen Überzeugung gewesen, dass Frau Spitzhak jeden Moment mit ihrem Buckelkorb zwischen den Bäumen hindurch treten würde. Und Erwin würde rufend auf dem Korb sitzen, stolz, dass er Frau Spitzhak gefunden hatte. Jetzt war Lila sich nicht mehr ganz so sicher. Sie fürchtete sich ein wenig. Was konnte Frau Spitzhak nur geschehen sein? Vielleicht war es nur eine Kleinigkeit, vielleicht war es überhaupt nicht schlimm. Aber es war ganz einfach nicht ihre Art, so ohne weiteres von zu Hause fernzubleiben. Lila versuchte, sich mit einem kleinen Lächeln zu beruhigen. Bestimmt würde sich bald alles aufklären, und sie und Frau Spitzhak würden darüber lachen.
Plötzlich sah Lila durch das Küchenfenster, wie sich etwas im Wald bewegte. Etwas flatterte aufgeregt zwischen den Baumstämmen hin und her und näherte sich dem Haus. Als Lila erkannte, was das war, stockte ihr der Atem. Sofort riss sie das Küchenfenster auf.
Denn es war Erwin, der Nachtvogel, der da ganz allein aufgeregt durch die Nacht flog.
„Erwin!“ rief Lila. „Was ist passiert? Hast du Frau Spitzhak nicht gefunden?“
Natürlich konnte Erwin nicht antworten. Aber als er auf Lilas Arm landete, sah Lila in seinen kreisrunden Augen, dass etwas nicht in Ordnung war. Angst überkam Lila.
„Erwin“, flüsterte sie leise. „Wenn du doch nur reden könntest. Was ist denn nur geschehen? Warst du am See?“
Erwin stieß einen kleinen Schrei aus und legte den Kopf schief. Es war, als ob er antworten würde.
Die Stunden bis zum Morgengrauen verbrachte Lila mit nervösem Auf- und Abgehen. Immer noch in der Hoffnung, dass Frau Spitzhak eventuell doch noch zurückkommen würde. Aber sie tauchte nicht auf. Irgendwann bemerkte Lila, dass das Morgengrauen nicht mehr weit war. Durch die Baumwipfel drang das erste Tageslicht. Das war die Zeit, zu der es draußen gefährlich für Lila wurde.
Erwin saß mittlerweile auf seinem Ast im Wohnzimmer. Die Aufregung hatte ihn müde gemacht. Außerdem hatte er ja einen sehr ausgiebigen Flug auf der Suche nach Frau Spitzhak hinter sich gebracht. Seine Augen wurden schwer, bis der Vogel schließlich einschlief.
Auch Lila begab sich in ihre Kammer ins Bett. Zunächst war an Einschlafen nicht zu denken: Die ganze Zeit grübelte Lila über Frau Spitzhak nach. Aber schließlich bezwang die Müdigkeit Lila. Sie fiel in einen unruhigen Schlaf.
Allzu lange dauerte der Schlaf nicht: Schon als die Sonne am nächsten Abend unterging, erwachte Lila. Der letzte Funken Hoffnung, dass Frau Spitzhak vielleicht doch wiedergekommen war, erfüllte sich nicht. Lila war noch immer alleine im Haus.
Lila lugte durch die Fensterläden nach draußen. Gleich war es dunkel genug, dass sie das Haus verlassen konnte.
Bald war die Sonne untergegangen. Lila schaute nach Erwin. Der Uhu saß niedergeschlagen auf seiner Stange. Seine gelben Augen leuchteten traurig.
„Komm, Erwin!“ flüsterte Lila und hielt ihm ihren Arm hin. „Wir gehen Frau Spitzhak suchen. Heute suchen wir zusammen. Vielleicht finden wir sie gemeinsam. Lass uns in den Wald gehen.“
Erwin schien zu verstehen. Vorsichtig stieg er mit seinen Vogelfüßen von seiner Stange auf Lilas Handgelenk. Dann nutzte er dem Arm wie eine Treppe und kletterte bis zu ihrer Schulter rauf.
Sicherlich würde sie ein paar Stunden unterwegs sein. Daher packte sich Lila zwei Brote mit Rübensirup ein. Dann verließ sie das alte Waldhaus.
Mehr als zwei Stunden lief Lila mit Erwin auf der Schulter durch den finsteren Nachtwald. Glücklicherweise waren ihre Augen an die Dunkelheit so gewöhnt, dass Lila in der nächtlichen Schwärze gut sehen konnte.
Durch die Jahre hinweg kannte Lila den Wald in- und auswendig. So wusste sie genau, wo entlange der Weg zum See führte, in dem Frau Spitzhak immer Krebse fing. Nirgends war eine Spur der alten Dame auszumachen. Je näher Lila dem See kam, desto aufgeregter wurde sie. Vielleicht würde sich das Geheimnis am Ufer des Sees offenbaren. Erwin führte sich höchst merkwürdig auf. Je weiter Lila sich von zu Hause entfernte, desto häufiger und lauter fing er an, seine Kauzschreie auszustoßen.
Endlich war Lila an ihrem Ziel angelangt. Der See lag glatt und ruhig vor ihr. Das fahle Mondlicht spiegelte sich in der unbewegten Oberfläche. Lichte Nebelfetzen lagen über dem Wasser.
Lila merkte, wie Erwin auf ihrer Schulter unruhig wurde, je mehr sie sich der Stelle näherte, an der Frau Spitzhak immer mit ihrem Krebsnetz gesessen hatte. Kurz bevor sich Lila den Weg durch das Schilf gebahnt hatte, stieß Erwin einen ohrenbetäubenden Schrei aus. Aus heiterem Himmel raste er steil in die Höhe, drehte eine kleine Runde über dem Schilf und ließ sich dann wieder auf Lilas Schulter nieder.
„Ruhig, Erwin!“ flüsterte Lila dem Uhu zu. Sie streichelte ihm behutsam über die braun gescheckten Federn. Aber Erwins Aufregung ließ nicht nach. Was war nur los mit ihm?
Nun hatte Lila Frau Spitzhaks Platz erreicht. Hier war das Schilf abgeknickt. Ein Schachtelhalm war völlig zerfetzt. Auf der Erde konnte Lila Fußspuren entdecken. Die Abdrücke in der feuchten Erde – Lila war sich nicht sicher, ob die nur von Frau Spitzhaks kleinen Wanderschuhen hinterlassen worden waren - oder ob da nicht noch andere Abdrücke waren. Abdrücke, die größer schienen und vorne spitz zusammen liefen.
Das, was Lila erschrecken ließ, war allerdings die Entdeckung, die sie neben dem zerfetzten Schachtelhalm machte: Frau Spitzhaks Krebsnetz lag zerrissen daneben. Halb hatte es sich in den Pflanzen verfangen, halb lag es im Wasser. Daneben lag ihr Buckelkorb. Den hatte Lila nicht gleich sehen können, weil er ins Schilf gestürzt war.
Ein Schauer überkam Lila. Jetzt war sie absolut sicher, dass Frau Spitzhak etwas schlimmes zugestoßen war. Und darum Lila begann zu weinen.