Читать книгу Lila Blitz - Das Geheimnis der Snirq - Nicolas Bjausch - Страница 7
5. Kapitel: „Die Mutprobe“
ОглавлениеLila hatte das Gefühl, schon meilenweit an den Kreidefelsen an dem breiten Strand entlang gelaufen zu sein. Sie schienen kein Ende zu nehmen. Scheinbar gab es nirgends eine Möglichkeit, nach oben zu klettern, um so vielleicht ins Landesinnere zu gelangen. Zwar versuchte Lila, zuversichtlich zu bleiben. Aber so langsam schwand ihre Geduld. Glücklicherweise machte die Sonne noch immer keine Anstalten, aufzugehen.
In bizarren Formen ragten die Felsen aus dem Schlick. Sie sahen aus wie Türme mit vielen Spitzen, dann wieder wie Drachen mit gezackten, schuppigen Schwänzen. Lila sah, dass man sich leicht verletzen konnte, wenn man auf so einem Felsen ausrutschte. Vor ihr tat sich plötzlich ein Felsen auf, der alle anderen Felsen überragte. Lila ließ ihren Blick daran emporgleiten. Ob dieser Felsen vielleicht ein Weg nach oben war? Das große, steinerne Gebilde wuchs ein paar Meter in die Höhe und neigte sich dann zur Seite. Es war fast wie ein Torbogen. Lila berührte den Felsen. Er war nass und kalt, außerdem war er mit Moos und Algen bedeckt, so dass er glitschig und rutschig war. Die obere Spitze des Teils, der sich nach hinten neigte, war nicht allzu weit vom Plateau der oberen Kreidefelsen entfernt. Wenn Lila es schaffte, das Felsengebilde hinaufzuklettern und sich oben irgendwie auf das Plateau zu hangeln, hatte sie eine Chance, endlich vom Strand hier wegzukommen.
Lila trat auf eine kleine Kante und versuchte, sich mit den Händen den Felsen hinaufzuziehen. Doch sofort rutschte sie ab. Sie stieß einen kleinen Schmerzensschrei aus, als ihre Hände an den scharfkantigen Steinrändern entlang scheuerten. Aber es hatte nicht mal eine Schramme an ihren Fingern hinterlassen.
Lila versuchte es noch einmal. Je achtsamer sie mit den Händen und Füßen den Felsen berührte, desto sicherer fühlte sie sich. Und so schaffte sie es, wenn auch nur langsam, das Felsgebilde Stückchen für Stückchen empor zu klettern. Einmal wagte sie es, zurück nach unten zu schauen. Ein Sturz hätte ein großes Unglück bedeutet. Glücklicherweise machte die Höhe Lila als erfahrene Baumkletterin nicht viel aus.
Fast hatte sie die Spitze erreicht. Von dort aus war es ein leichtes, bis zum Ende des Felsenbogens zu gelangen. Lila trat mit dem rechten Fuß auf einen kleinen Vorsprung und drückte sich mit dem Bein nach oben – da brach der Vorsprung ab. Lila schrie auf. Im letzten Augenblick bekam sie mit beiden Händen einen schmalen Zacken zu fassen. Ihr drohender Fall wurde unsanft gebremst. Unter sich sah Lila, wie die Stücke des abgebrochenen Steins in den Schlick fielen.
Mit aller Kraft, die ihr noch geblieben war, zog sich Lila an dem Felszacken hoch, bis ihre Füße wieder Halt auf dem Steingebilde fanden. Als sie ihre Muskeln entspannen konnte, atmete Lila erleichtert aus. Sie zitterte. Das war knapp gewesen.
Nun hatte sie die Spitze des Felsenbogens erreicht. Hier konnte sie kurz verschnaufen, bevor sie mit einem gekonnten Satz auf das Plateau sprang. Rasch zog Lila sich das Tuch vom Kopf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie sah zurück. Dieses scharfkantige Etwas hinaufzuklettern, hatte eine ganz gehörige Portion Mut erfordert. Mut. Es war noch gar nicht lange her, dass Lila Mut hatte beweisen müssen. Um vielleicht unter den Waisenkindern neue Freunde zu finden. Und das war nun daraus geworden.
Die vier Waisenkinder schliefen eingepackt in Schlafsäcken auf dem Boden rund um das Feuer. Lila wunderte sich, dass sie nicht auch in dem kleinen Raum im Brückenpfeiler schliefen, so wie sie es ihr angeboten hatten. Die drei Jungen und das Mädchen Eri schlummerten friedlich vor sich hin. Selbst Amadeo, der sonst so ruppig erschien, sah freundlich und gelassen aus, fand Lila.
Sie dachte darüber nach, wie sehr die letzten drei Nächte alles verändert hatten. Erst war Frau Spitzhak verschwunden. Dann waren diese Ungeheuer aufgetaucht. Und jetzt war Lila zum ersten Mal außerhalb des Waldes, in dieser kleinen Stadt, und befand sich mit vier anderen Kindern unter einer Brücke an einem Feuer. Alles kam Lila so unwirklich vor.
Die Musik des Jahrmarkts verstummte irgendwann. Außerdem verloschen die Lichter. Es wurde still in der Stadt. Das einzige, was Lila noch hörte, war das leise Fließen des Flusses und das Rauschen der Meeresbrandung in der Ferne.
Eri war die Erste der vier Waisen, die noch vor Sonnenaufgang wieder wach war. Während die Jungs noch weiterschliefen, packte sie für sich und Lila ein kleines Frühstück aus. „Lustig“, sagte sie. „Mein Frühstück ist dein Abendessen.“
Obwohl es wieder nur Brot und Käse war, genoss Lila diese Mahlzeit.
„Mach dir übrigens keine Sorgen“, versprach Eri. „Amadeo muss immer angeben. Wenn ich bei ihm ein gutes Wort für dich einlege, wird das mit der Mutprobe bestimmt nicht weiter wild.“
„So schlimm wird es schon nicht werden“, sagte Lila möglichst gelassen. Aber insgeheim war sie sich nicht sicher, wozu Kinder in der Lage waren, die anderen etwas stahlen.
„Also, ich fände es schön, wenn du bei uns bleiben würdest“, sagte Eri. „Endlich noch ein Mädchen! Ich finde, das fehlt einfach bei uns.“
Lila sah Eri unentschlossen an. „Ich weiß nicht. Ich würde schon gerne... aber ich muss doch wissen, was mit Frau Spitzhak passiert ist. Und diese beiden Ungeheuer... also, irgendwer sucht mich. Ich weiß nicht, warum.“
„Hm.“ Eri wusste auch keinen Rat. Aber sie munterte Lila auf. „Wir werden dich schon vor Ungeheuern beschützen. Und wenn du deine Frau Spitzhak nicht wiederfindest, dann werden wir eben deine neue Familie.“
Das fand Lila unheimlich lieb von Eri. Sie umarmte ihre neue Freundin kräftig.
Die Morgendämmerung ließ nicht mehr lange auf sich warten. Lila durfte Eris Schlafsack mit in den Brückenverschlag nehmen. Dann versprach Eri, Lila zu wecken, wenn die Sonne wieder untergegangen war.
Zwar war der kleine Raum in dem Brückenpfeiler nicht gerade komfortabel. Der Modergeruch und die Feuchtigkeit in der Luft waren ein bisschen gruselig. Aber dennoch fühlte Lila sich besser und sicherer als an den vergangenen zwei Tagen. In ihren Notunterkünften mitten im Wald hatte sie keine rechte Ruhe gefunden. Heute jedoch fiel Lila rasch einen tiefen, erholsamen Schlaf.
Viele Stunden später wurde Lila von einem sanften Klopfen an die Holztür geweckt.
„Lila?“ erklang Eris Stimme von draußen. „Es ist dunkel. Du kannst rauskommen!“
Schlaftrunken richtete Lila sich auf und besann sich. Richtig, sie war ja nicht mehr in dem alten Haus im Wald. Sofort fiel ihr ein, was in den letzten drei Tagen und Nächten alles geschehen war. Lila befreite sich aus dem Schlafsack und kroch dann zur Tür.
Draußen knisterte das Feuer unter der Brücke. Die Waisenkinder saßen um die Flammen herum und hielten Holzstäbe in die Glut. Kartoffeln waren daran aufgespießt. Sofort sah Lila, dass eins der Kinder fehlte.
„Guten Abend“, sagte Lila.
„Hallo Lila“, sagte Eri freundlich. „Hast du gut geschlafen?“
Lila nickte und streckte sich. „Wo steckt Matthes?“ fragte sie.
„Besorgt uns was zu essen“, sagte Amadeo, ohne Lila eines Blickes zu würdigen.
Lila fragte nicht weiter und setzte sich neben Eri. Die gab Lila ebenfalls einen Holzstab. „Hier, wenn du dir auch eine Kartoffel braten möchtest.“
„Ja, vielen Dank“, sagte Lila und steckte eine große, braune Kartoffel auf den Stab. Während sie das Holz in die Flammen hielt, beobachtete sie Amadeo und Otto. Ob sich Amadeo bereits eine Mutprobe für sie ausgedacht hatte? Eigentlich fühlte sie sich gut, hier bei den Kindern. Mit Eri hatte sie sich bereits angefreundet. Und trotz aller Ruppigkeit mochte sie die Jungs. Vielleicht wäre es doch ganz schön, bei ihnen zu bleiben.
Mit einem Male kam eine gekrümmte Gestalt um die Ecke des Brückenpfeilers. Lila erschrak kurz. Aber sie erkannte schnell, wer das war. Sie ärgerte sich ein bisschen, dass sie durch die Ereignisse der letzten Tage so schreckhaft geworden war.
„Matthes!“ rief Amadeo erstaunt. “Was ist denn los?”
Matthes trat näher ans Feuer. Er hatte die Arme in seine Magengrube gepresst und krümmte sich wimmernd. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. „Diese... diese alte Hexe...“
„Was für’ne alte Hexe?“ fragte Otto.
„So ein altes Hutzelweib auf dem Jahrmarkt!“ stöhnte Matthes und ließ sich neben das Feuer fallen. „Hat mich beim Klauen eiskalt erwischt und dann vermöbelt.“
„Ein Hutzelweib hat dich vermöbelt?“ Amadeo grinste spöttisch. „Wie armselig.“
„Die hatte Bärenkräfte, das sage ich dir!“ wimmerte Matthes.
„Was hattest du denn überhaupt auf dem Jahrmarkt zu suchen?“ fragte Eri. „Wir waren uns doch einig, die verlassenen Wohnungen und Häuser zu nehmen, von den Leuten, die auf den Jahrmarkt gehen.“
„Ich dachte, dass der Jahrmarkt der Ort ist, an dem die Leute ihr Geld mit sich herumtragen!“ erklärte Matthes kleinlaut. „Anfangs hat ja auch alles gut geklappt, ich habe die Geldbörsen von zwei Frauen und einem Mann geklaut.“
Lila schauderte bei dem Gedanken daran, dass Matthes einfach so andere Menschen bestohlen hatte. Aber sie hatte verstanden, dass die Waisenkinder das nicht aus Spaß taten. Sie hatten wohl keine andere Wahl.
„Dann kam ich zu diesem Zelt“, berichtete Matthes. „Ein kleines buntes Zelt. Ein Mann mit einer Frau ging dort rein. Die Frau hatte einen großen Hut mit einer langen Feder auf dem Kopf. Sie sahen sehr reich aus. Also habe ich gewartet, bis die beiden wieder aus dem Zelt herauskamen. Und als sie an mir vorbeigegangen sind, habe ich das große braune Portemonnaie in der Jackentasche von dem Mann gesehen. Er hätte es gar nicht gemerkt, dass ich es gestohlen hatte – aber plötzlich stand hinter mir diese alte Frau. Sie war aus dem Zelt gekommen, ohne dass ich es bemerkt hatte. Und sie hielt mein Handgelenk fest, so fest, dass ich die Geldbörse fallen lassen musste. Sie hat dem Mann die Geldbörse zurückgegeben und dann hat sie mich in ihr Zelt gezerrt und verprügelt. Die anderen drei Börsen hat sie mir weggenommen.“
„Geschieht dir eigentlich recht“, wollte Lila sagen. Aber sie bremste sich rechtzeitig, denn sie wollte nicht den Zorn der Jungs auf sich ziehen.
„Am besten, du trinkst einen Tee“, riet Eri Matthes. „Das wird dir gut tun.“
„Ein altes Hutzelweib“, murmelte Amadeo. „Die soll uns nicht ohne weiteres davonkommen, die alte Schachtel.“
„Sei bloß vorsichtig!“ warnte Matthes. „Die Alte hat Klauen und Riesenkräfte.“
„Was hat sie mit den anderen drei Geldbörsen gemacht, als sie sie dir abgenommen hat?“ wollte Amadeo wissen.
Matthes dachte nach. „Wenn ich mich recht erinnere, hat sie die unter das Kissen von ihrem Sessel gestopft. Gleich danach hat sie mich geschlagen. Dabei hat sie geschimpft. Sie würde die Geldbörsen bei der Polizei abliefern und mich gleich dazu. Zum Glück konnte ich mich befreien!“
„Nun ja.“ Amadeo grübelte. Dann erhellte sich seine Miene. „Aber da haben wir doch eine wunderbare Mutprobe für unsere Lila.“
„Was meinst du? Was für eine Mutprobe soll das sein?“ rief Eri entsetzt. Aber Lila legte Eri die Hand auf die Schulter und sagte: „Ist schon gut.“ Sie blickte Amadeo angriffslustig an: „Sag mir, Amadeo, was soll die Mutprobe sein?“
„Du wirst zu der alten Frau in ihr komisches Zelt gehen und dafür sorgen, dass wir die Geldbörsen wiederkriegen“, bestimmte Amadeo.
„Und das, nachdem sie Matthes so zugerichtet hat?“ rief Eri empört. „Und vielleicht war sie ja schon bei der Polizei. Vielleicht laufen ja auf dem Jahrmarkt Polizisten rum und—"
„Lass nur, Eri“, sagte Lila und versuchte, dabei möglichst lässig zu klingen. „Das kann ich schon machen. Kein Problem.“
„Gut“, sagte Amadeo. „Es gilt. Wenn du die drei Geldbörsen zu uns bringst, dann gehörst du zu uns.“
Matthes beschrieb Lila genau, wo auf dem Jahrmarkt sie das Zelt der seltsamen alten Frau finden konnte. Lila prägte sich Matthes’ Beschreibung genau ein und machte sich auf den Weg zum Jahrmarkt.
„Ich hätte gedacht, dass sie schon im Vorfeld kneift“, meinte Amadeo. „Ich bin gespannt, wie sie sich schlägt.“
Natürlich war Lila nicht besonders wohl bei dem Gedanken, die gestohlenen Geldbörsen erneut zu stehlen. Aber wenn das der einzige Weg war, sich Respekt bei den anderen Kindern zu verschaffen... so würde sie das durchziehen.
Den Jahrmarkt zu finden, war nicht besonders schwierig. Sie musste einfach nur den Menschen nachgehen, die der Musik und den Lichtern folgten. Vor Aufregung fühlte sich Lila völlig schwindlig – schließlich hatte sie noch nie so viele Menschen auf einmal gesehen – geschweige denn einen Jahrmarkt betreten.
Das Licht von Millionen bunter Glühbirnen blendete Lilas Augen. Sie waren solch eine Helligkeit nicht gewohnt. Und Lila hoffte, dass sie sich nicht in große Gefahr begab – wer wusste, wie sie auf das Licht reagierte? Sie bemühte sich, zwischen den Jahrmarktsbuden und Ständen hindurch zugehen, dort wo das Licht nicht unmittelbar hin traf. Aber bei den vielen Menschen, die hier waren, war das gar nicht so einfach.
Staunend sah Lila, wie sich Leute gebratene Würste kaufen, in große Kisten mit Losen hineingriffen und sich tolle Preise von einem Stand aussuchen durften. Sie beobachtete Kinder mit Luftballons und Zuckerwatte und Männer, die für ihre Frauen eine Rose an der Schießbude schossen. Die Karussells drehten sich, so dass Lila schon vom Zuschauen schwindlig wurde. Über dem Eingang zur Geisterbahn schwang ein riesiger Dämon mit Kapuze und roten Augen seine Sense. Im gläsernen Labyrinth tasteten sich Menschen an den durchsichtigen Scheiben entlang. Zu gerne hätte Lila die eine oder andere Süßigkeit selbst genascht oder die eine oder andere Lustbarkeit selbst ausprobiert. Aber einerseits hatte sie eine Aufgabe zu erledigen, andererseits hatte sie ja doch kein Geld.
Die Achterbahn raste in schwindelerregender Höhe und sah gefährlich aus. Vor der Bahn musste Lila links abbiegen, das hatte Matthes ihr genau erklärt.
Hier wurde es etwas ruhiger, Stimmengewirr und Musik wurden leiser. Hier begann ein etwas abgeschiedenerer Abschnitt des Jahrmarkts. Lila ging an einem Schmuckstand und an einem alten Mann vorbei, der Tonkrüge verkaufte. Und da sah Lila das kleine runde Zelt, das Matthes beschrieben hatte. Über dem Eingang, der mit einem roten Vorhang verhängt war, hing ein Schild. Umringt von gelben gemalten Sternen stand dort in glitzernden Buchstaben „KASSANDRA – DER BLICK NACH ÜBERMORGEN“.
Jetzt wusste Lila, mit was es sich bei der alten Frau auf sich hatte. Offenbar war sie eine Wahrsagerin, die den Leuten auf dem Jahrmarkt die Zukunft voraussagte. Davon hatte Matthes überhaupt nichts erwähnt.
Das größte Glück, das Lila haben konnte, war, dass die alte Kassandra gerade nicht in ihrem Zelt war. Doch das war leider nicht der Fall. Als sich Lila an die Zeltwand heranpirschte, hörte sie die krächzende Stimme der Wahrsagerin durch die Leinen dringen.
„Ich sehe... ich sehe... sie haben vor einiger Zeit einen geliebten Menschen verloren.“
Einen Moment herrschte Stille. Dann sagte eine wesentlich jüngere Frauenstimme: „Na ja, vor sechs Jahren ist meine Oma gestorben.“
„Ja! Ja! Genau, das ist es, was ich sehe!“
Lila runzelte die Stirn. Wahrscheinlich war die alte Kassandra eine Schwindlerin. Jedenfalls sprach der Unsinn dafür, den Lila von draußen hörte.
Lila bezweifelte, dass sie ihre Mutprobe angemessen bestehen konnte. Wie sollte sie denn unbemerkt an den Sessel gelangen, vor allem, wenn die alte Frau selbst drin saß? Und wenn sie die Geldbörsen tatsächlich schon zur Polizei geschafft hatte?
Ein paar Minuten lauschte Lila der dumpfen Unterhaltung. Sie war mittlerweile auf die Rückseite des Zeltes geschlichen. Hier kamen keine Jahrmarktsbesucher vorbei, hier fiel sie nicht weiter auf. Lila bemerkte, dass die Zeltwand dort am unteren Rand nicht richtig in der Bodenplane verbunden war. Sie kniete sich auf den Boden und spähte vorsichtig durch den dünnen Spalt. Rechts sah sie die Beine der alten Kassandra, die von einem langen, bunten Flickenrock bedeckt waren. Die roten Mokassins waren an den vorderen Spitzen nach oben gebogen. Die Kundin, die gegenüber von Kassandra an dem kleinen runden Tisch stand, trug ganz gewöhnliche blaue Hosen.
„Das war’s“, sagte die alte Kassandra. „Die Verbindung ist unterbrochen, mehr kann ich ihnen nicht sagen.“
„Sie haben mir sehr geholfen!“ sagte die Frau und stand auf. „Vielen, vielen Dank, ich komme bestimmt wieder!“
„Ich geleite sie nach draußen“, erwiderte die alte Kassandra.
Das war der perfekte Augenblick. Lila sah, wie die beiden Frauen von ihren Plätzen aufstanden und zum Eingangsvorhang gingen. Vor Aufregung hielt Lila den Atem an. Die alte Kassandra war nur wenige Meter von ihr entfernt. Trotzdem wagte Lila es, die Zeltplane schnell hochzureißen und sich durch den Schlitz zu zwängen. Sie robbte über den zerschlissenen, roten Teppich zum Sessel. Sie steckte die Hände unter das Polster. Tatsächlich, da waren sie noch, die Geldbörsen. Schnell zog Lila eine hervor und stopfte sie sich in die Tasche. Dann noch eine. Dann griff sie nach der dritten.
Unsanft wurde sie von der knochigen Hand nach hinten gerissen. Lila stieß mit dem Hinterkopf an den runden Holztisch und schrie auf. Böse funkelten die Augen im Gesicht der alten Kassandra. Mit ihrer Kraft hielt die alte Frau Lila in ihrem Nacken fest. Ihr bedrohliches Gesicht kam immer näher.
„Ich habe die Faxen dicke mit euch“, zischte Wahrsagerin böse. „Ihr stehlt und klaut und hört noch nicht einmal auf, wenn man einem von euch eine Lektion erteilt hat.“
„Ich... ich wollte nicht stehlen!“ keuchte Lila. „Aber ich muss, weil...“
Der bitterböse Blick von Kassandra bohrte sich tief in Lilas Augen. Doch mit einem Male veränderte sich ihr Blick. Die funkelnden Schlitze verloren plötzlich die Falten drum herum. Kassandras Stirn glättete sich. Jetzt sah sie gar nicht mehr bedrohlich, sondern überaus verwundert aus.
„Was ist?“ fragte Lila ängstlich.
Der harte Griff in Lilas Nacken lockerte sich. Kassandra hob die andere Hand und strich Lila sanft durch das Gesicht. „Deine Stirn... Da ist etwas...“
„Was ist da?“ Instinktiv griff Lila sich an die Stirn und wollte sich wehren. Aber Kassandra legte ihr den Finger auf den Mund. „Pst! Sei still.“
Lila verstummte und sah die alte Frau verschüchtert an.
„Du bist in Gefahr, Kind“, flüsterte Kassandra. „In großer Gefahr. So etwas habe ich noch nie gesehen...“
„Was meinen Sie?“ fragte Lila leise.
Kassandra blickte Lila angestrengt an. „Sie sind hinter dir her. Sie sind dir auf der Spur.“
„Wer denn?“ fragte Lila. Erst jetzt fiel ihr wieder ein, was vor ein paar Tagen im Tobanja-Wald passiert war. Ob Kassandra von den beiden bösen Kerlen sprach?
„Deine Stirn“, sagte Kassandra wieder. „Was ist mit deiner Stirn?“
„Mit meiner Stirn ist nichts“, erwiderte Lila schüchtern. „Aber wer ist hinter mir her? Was soll ich denn machen?“
„Pst!“ Kassandra sah Lila prüfend an. „Lass mich schauen. Du musst...“
Bis eben hatte Lila die Wahrsagerin für eine Schwindlerin gehalten. Aber dass sie wusste, dass jemand hinter Lila her war... bewies das nicht, dass sie die Wahrheit sagte?
Kassandra hatte die Augen geschlossen und schien konzentriert nachzudenken. Plötzlich öffneten sich ihre Augen. „Flieh auf einem Schiff!“ sagte Kassandra bestimmt. „Auf einem Schiff... Richtung Süden.“
„Auf welchem Schiff?“ fragte Lila verwirrt. „Ich war noch nie auf einem Schiff.“
„Halt!“ sagte Kassandra. „Es muss ein ganz bestimmtes Schiff sein. Ich sehe...“
„Was für ein Schiff?“ fragte Lila ungeduldig. „Was muss ich tun?“
„Ich sehe... einen Schädel. Einen Totenkopf!“ Kassandra runzelte die Stirn. „Nur dieses Schiff wird dich leiten. Es bringt dich in Sicherheit und in große Gefahr. Aber wenn du gut handelst, dann wirst du viele Geheimnisse lösen können.. ich sehe nicht genau, welche...“
„Was hat denn ein Schädel mit einem Schiff zu tun?“ fragte Lila. „Und können sie mir sagen, wer hinter mir her ist? Und warum?“
„Ich sehe es nicht ganz genau“, wisperte die alte Kassandra. „Aber es ist ihr einziges Ziel, dich zu finden. Sie würden viel dafür bezahlen, dich zu finden. Es hat was mit deiner Stirn zu tun. Aber ich weiß nicht genau, was. Ich habe so etwas noch nie gesehen, in all den Jahren...“
„Mit meiner Stirn?“ wiederholte Lila verblüfft und schüttelte den Kopf. „Aber das ergibt doch keinen Sinn. Meine Stirn ist ganz normal.“
Kassandra schüttelte den Kopf. „Nein. Du trägst ein großes Geheimnis mit dir. Da bin ich ganz sicher. Du musst zum Hafen gehen. Das Schiff legt bald ab. Sie sind bald da! Sie sind nicht mehr weit! Sie treiben sich hier ganz in der Nähe herum...“
„Woher weiß ich, welches Schiff es ist?“ fragte Lila.
„Denk an den Schädel“, antwortete Kassandra. „Mehr kann ich dir nicht sagen. Du wirst es herausfinden. Du musst deinem Gefühl folgen. Nicht nur, was das Schiff angeht. Folge deinem Gefühl.“
„Woher weiß ich, ob mein Gefühl recht hat oder nicht?“ fragte Lila weiter.
„Dein Gefühl und deine innere Stimme lassen dich nicht im Stich“, war sich die alte Kassandra sicher. „Und auch das Schicksal wird dich leiten. Pass gut auf dich auf, mein Kind.“
Mehr hatte die alte Kassandra ihr nicht zu sagen. Sie öffnete den roten Vorhang und deutete Lila an, dass sie das Zelt verlassen sollte. „Viel Glück, mein Kind. Beeil dich!“