Читать книгу Lila Blitz - Das Geheimnis der Snirq - Nicolas Bjausch - Страница 11

9. Kapitel: „Sturm“

Оглавление

Je weiter Lila lief, desto mehr Grün wuchs am Boden. Die Berge, die sich in der Ferne auftaten, waren von grünen Palmenhainen besetzt. Allerdings schien es dort auch viel heller zu sein. Ja, tatsächlich – hier hingen die schwarzgrauen Wolkenberge noch immer wie ein nächtlicher Vorhang über der Gegend. Über die Berge jedoch hatte der Himmel das Sonnenlicht ausgeschüttet.

Der Anblick raubte Lila den Atem. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Sie selbst stand in der Sicherheit der Nacht, aber konnte dort in der Ferne auf den Tag blicken. Zartes, rotes Sonnenlicht säumte die Berge. Darüber wuchs ein Blau am Horizont entlang, das Lila bisher nur auf Bildern gesehen hatte. Es war in sicherer Entfernung, es schmerzte Lila auch nicht beim Hinsehen. Es erfüllte sie jedoch mit einem Glücksgefühl, so sehr, dass sie lächeln musste. Wann hatte sie jemals so etwas schönes gesehen?

Ob der Tag von dort hinten nach hier übergreifen würde? Das konnte durchaus passieren. Aber hier, wo sich das Grün endlich wieder zeigte, war Lila zuversichtlich, bald einen Platz zu finden, an dem sie sich ein neues Versteck einrichten konnte. Hoffentlich würde sie etwas finden, was einigermaßen bequem war. Wenn sie an das Versteck ihrer letzten Tage dachte, schüttelte sie es. Tagelang fühlte sich Lila dort eingepfercht. Dass sie da wieder lebend raus gekommen war, grenzte für sie an ein Wunder. Und noch immer war ihr nicht klar, wie das eigentlich passieren konnte.

In den folgenden Nächten wurde das Abenteuer der ersten Nacht an Bord der „Treipan“ zur Routine: Es mochte immer gegen halb vier Uhr sein, als Lila ihr winziges Versteck für eine kurze Zeit verließ. Einmal schlich sie noch in die Speisekammer, da sie die gestohlenen Vorräte aufgebraucht hatte. Und jeden Morgen, nachdem sie gerade eingeschlafen war, wurde sie von einem erneuten Überfall der Piraten auf ein anderes Schiff geweckt.

In Lilas Kopf drehte es sich vor Müdigkeit und Hunger so sehr, dass sie überlegen musste: Waren es nun vier oder fünf Nächte und Tage gewesen, die sie auf der „Treipan“ verbracht hatte? Die ganze Zeit war Lila in dem kleinen Rettungsboot unter der Abdeckplane versteckt. Sie kauerte und schlief die ganze Zeit auf dem harten, schrägen Holzboden. Ihre Arme und Beine taten häufig weh.

Wann würde das Schiff endlich irgendwo anlegen? Lilas Geduld war allmählich erschöpft. Sie wollte raus hier, sie musste sich bewegen. Und es wäre auch schön gewesen, endlich mal wieder einen anderen Menschen um sich zu haben. Hier war sie den ganzen Tag von bösen Männern umgeben, die keine Ahnung hatten, dass Lila überhaupt da war. Wie lange würde diese unheimliche Irrfahrt noch dauern?

Eines hatte Lila bemerkt: In jeder Nacht, in der Lila eine Stunde außerhalb ihres Verstecks verbrachte, wurde die klare Luft etwas milder. Ja, es war ganz sicher ein wenig wärmer geworden, seit sie die Hafenstadt verlassen hatten.

In dieser Nacht nahm Lila den letzten Brotkanten aus dem Bündel. Dann knüllte sie das gestohlene Tuch zusammen und stopfte es in ihre Hosentasche. Das Brot war hart. Kleine Stückchen davon blieben zwischen Lilas Zähnen stecken. Sie schluckte es hinunter. Ihr Hunger war noch lange nicht gestillt. Aber ihre Vorräte hatte sie nun aufgegessen. Es ließ sich wahrscheinlich nicht vermeiden, dass sie sich wieder auf einen Diebeszug begeben müsste. Lila beobachtete den zunehmenden Mond. Er hatte beinahe seine volle, runde Größe erreicht. Noch ein oder zwei Nächte, schätzte Lila. Dann war Vollmond. Je voller der Mond, desto heller war es in der Nacht an Deck. Und je heller es war, desto besser war sie zu sehen.

Am Besten war es, wenn sie die Suche nach Nahrung gleich hinter sich bringen würde. Lila hasste es, den Weg vorbei an den Kajüten der Piraten in die Kombüse zu nehmen. Wenn sie nur einer der Männer erwischen würde, würde das gewiss ihrem Todesurteil gleichkommen.

Jetzt war es das dritte Mal in den Tagen an Bord der „Treipan“, dass sie den dunklen Flur im Unterdeck entlang schlich. Das beständige Schnarchen drang aus den Türen. Alles war wie immer, nichts außergewöhnliches geschah. Trotzdem brachte die Aufregung Lila beinahe an den Rand des Wahnsinns.

Schnell schlüpfte sie durch die Kombüsentür. Drei Scheiben von dem aufgeschnittenen Brot nahm Lila aus dem Korb. Im unteren Schrank fand sie eine große Schüssel mit Würsten. Lila nahm eine Handvoll davon. Dann wühlte sie in den restlichen Würsten herum, damit es nicht so aussah, als ob etwas aus der Schüssel fehlte.

Gerade als Lila das Tuch aus ihrer Tasche ziehen wollte, um die erbeuteten Würste und das Brot einzupacken, erklang ein lautes Poltern vom Flur. Vor Schreck zuckte Lila zusammen. Dabei fielen ihr zwei Würste zu Boden. Rasch hob Lila sie wieder auf. Dem Poltern folgten Schritte – Schritte, die sich der Kombüsentür näherten. Panisch sah Lila sich um. Der Raum war so eng, dass sie auf den ersten Blick keine Möglichkeit sah, sich zu verstecken. Weiterdenken konnte sie nicht, denn im gleichen Augenblick öffnete sich die Tür der Schiffsküche langsam. Schnell huschte Lila in die danebenliegende Ecke, so dass sie beinahe von der Tür eingequetscht wurde.

Das erste, was Lila sah, waren zwei Hände. Den Händen folgten Arme, in buschigen Hemdsärmeln gewandt und gerade voraus gestreckt vom Körper eines Piraten. Der Pirat hatte die Augen geschlossen und betrat mit langsamen Schritten die Schiffsküche. Er atmete ruhig und gleichmäßig.

„Ein Schlafwandler!“ schoss es Lila durch den Kopf. Sie beobachtete, wie der schlafwandelnde Pirat um den Kombüsenschrank zum Herd herumging. Dann stieß der mit den Knien gegen den Herd und blieb stehen. Als ob der Pirat im Schlaf gemerkt hatte, dass er nicht weiterkam, drehte er sich nun langsam um.

„Jetzt oder nie!“ dachte Lila, stieß die Kombüsentür auf und tigerte mit einem leisen Satz aus der Schiffsküche auf den Flur. Hier musste sie wieder mucksmäuschenstill sein, um die anderen Piraten nicht zu wecken. Auf Zehenspitzen schlich sie bis zu der Stiege, die auf das Oberdeck führte. Als sie die erste Stufe betreten hatte, vernahm sie das Quietschen der Kombüsentür. Lila fuhr atemlos herum. Der schlafwandelnde Pirat trat mit geschlossenen Augen, offenem Mund und ausgestreckten Armen auf den Flur. Lila hielt die Luft an, presste Brot und Würste an sich und stieg schnell, so leise sie konnte, die Stufen hinauf. Als sie durch die Tür wieder an Deck gelangt war, wollte sie eigentlich gleich loslaufen. Doch sie konnte sich noch rechtzeitig besinnen. Sie durfte keinen Lärm machen, der den Schlafwandler irgendwie wecken konnte.

Vorsichtig blieb Lila stehen und horchte. Ob der Pirat vielleicht zurück in seine Koje wankte? Leider war dem nicht so – Lila hörte die schlurfenden Schritte die Stiege hinauflaufen. Der Pirat würde jeden Moment an Deck auftauchen. Lila musste in ihr Versteck zurückkehren. Als sie los schleichen wollte, stolperte sie über ein dickes Tau, das am Boden lag. Doch bevor sie der Länge nach hinschlug, konnte sie sich noch aufrappeln. Eine der Würste fiel Lila auf den Boden, doch darum konnte sie sich jetzt nicht mehr kümmern. Denn die Tür zum Schiffsinneren knarrte langsam und bedrohlich. Schon sah Lila das Bein des Piraten aus der Tür treten.

Bis zum Rettungsboot waren es noch einige Meter. Es musste Lila gelingen, diese Entfernung völlig geräuschlos zurückzulegen. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie der Pirat nun schlafend mit schlurfenden Schritten das Deck betreten hatte.

Das Beste, was passieren konnte, war, dass der Seeräuber vielleicht im Schlaf über die Reling in den Ozean fallen würde. Schaudernd schüttelte sich Lila darüber, dass sie so einen bösen Gedanken haben konnte.

Jetzt hatte sie das Rettungsboot fast erreicht. Sie sah noch einmal zurück. Der Pirat drehte sich um und war jetzt dem Heck des Schiffes zugewandt. Mit den ausgestreckten Armen ging er weiter, er bewegte sich direkt auf Lila zu. Lila versuchte, alle Hast zu vermeiden, aber sie musste in ihr Versteck, bevor der Pirat doch noch aufwachen würde. Jetzt – da – um Haaresbreite verfehlte er das Tau, über das Lila eben selbst gestolpert war. Lila unterdrückte ein angstvolles Schluchzen und hob die Persenning an, um darunter zu schlüpfen. Sie blickte noch einmal auf. In diesem Moment trat der Pirat auf die gebratene Wurst, die Lila aus der Hand gefallen war. Als der Schlafwandler seinen Schritt mit vollem Gewicht über die Wurst tat, glitt das zerplatzte Fleisch über den Boden hinweg. Der Pirat rutschte aus, verlor sein Gleichgewicht – und stürzte. Der Mann fiel hin und schlug hart mit seinem Hinterteil auf dem Boden auf.

Lila erstarrte vor Schreck. Durch den heftigen Schlag war der Pirat aus seinem Schlaf erwacht. Zunächst sah er sich verwirrt um. Dann aber traf sein Blick auf Lila.

Lila riss die Persenning hoch und wollte in das Rettungsboot klettern. Doch der Ruf des Piraten hielt sie zurück. „Hey! Du!“

Der Pirat rappelte sich vom Boden auf. Dann ging er mit schnellen Schritten an den beiden Masten des Schiffes vorbei und zog Lila an ihrer Jacke vom Rettungsboot weg. „Na, wen haben wir denn da?“

Lila sah den Mann mit angsterfüllten Augen an. „Ich... ich will...“

„Ein kleiner, blinder Passagier, was?“ Der Pirat straffte seinen Griff. „Wie lange steckst du hier schon?“

„Seit... seit...“ Lila versuchte, sich loszumachen, aber das schien den Piraten nur noch härter zupacken zu lassen. „Seit wir den Hafen verlassen haben.“

Der Pirat schüttelte ungläubig den Kopf. „Was hast du hier an Bord verloren?“ fragte er drohend.

„Ich weiß nicht“, gab Lila zu. „Ich bin...“ Sie verstummte. Wie sollte sie dem Seeräuber all das hier erklären? Sie konnte nicht einfach sagen, dass sie dem Rat einer Wahrsagerin gefolgt sei und sich deswegen auf das Schiff geschmuggelt hatte.

Plötzlich ließ der Pirat Lila los und ging zurück zum vorderen Schiffsteil. Während Lila ihm nachblickte, grollte in der Ferne Donner. Ein kalter Windhauch wehte heran. Was hatte der Seeräuber vor?

Der Pirat ging zum vorderen Mast, wo eine Strickleiter vom Ausguck hinunter baumelte. Dort nahm er die Kordel einer großen Glocke aus Messing in die Hand. Dann schüttelte er das Pendel der Glocke. Das laute Klingen durchschnitt die Nachtstille auf dem Meer. „Alarm!“ schrie der Pirat. „Alarm, blinder Passagier.“ Dabei hörte er nicht auf, mit der Glocke zu läuten.

Tränen schossen in Lilas Augen. Jetzt war alles aus.

Es dauerte nicht lange, bis die ersten Piraten aus dem Unterdeck nach oben gekommen waren. Der Schlafwandler wies auf Lila, die verschüchtert und ängstlich am Rettungsboot stand. „Schaut, was ich entdeckt habe.“

Die Piraten tuschelten miteinander und grinsten Lila hämisch an. Eine laute Stimme erklang. „Was ist hier los?“

An der Stimme erkannte Lila, dass es wohl der Piratenkapitän war, der vor einigen Tagen die Ansprache auf dem Ausguck geführt hatte. Auf seine Aufforderung hin hatten sich alle Männer ihrer Anzüge und Sonnenbrillen entledigt.

„Mein altes Problem!“ erklärte der Schlafwandler. „Morgen ist Vollmond... und ich bin wohl wieder im Schlaf herumgelaufen, Chef. Aus irgendeinem Grund bin ich hier an Deck aufgewacht, und da bin ich auf das da gestoßen.“ Er zeigt auf Lila.

Der Kapitän sah Lila aus scharfen Augen an. Dann ging er langsam bedrohlich auf sie zu.

Am Himmel blitzte es plötzlich auf. Ein weiterer, kalter Windstoß trieb über das Schiff. Dann donnerte es wieder. Lila sah furchtsam zu Boden.

„Sie hat sich hier versteckt“, erklärte der Schlafwandler. „Sie ist bei uns an Bord, seit wir in Dovquansy abgelegt haben.“

„Und bestohlen hat sie uns auch noch“, stellte der Kapitän mit ruhiger, bedrohlicher Stimme fest, als er die Brotscheiben und die Würste sah.

Lila versuchte zaghaft, mit dem Kopf zu schütteln.

„Aber fatal ist vorwiegend eines...“ sagte der Kapitän und blickte seine Mannschaft an. „Das kleine Mädchen hat mitbekommen, was hier an Bord so vor sich geht. Nicht wahr, kleines Mädchen? Was hast du gesehen? Was weißt du über uns?“

„Nichts“, log Lila hastig. „Ich hielt mich die ganze Zeit versteckt, ich weiß überhaupt nicht, was...“ Zaghaft versuchte sie, sich herauszureden. „Da waren nur Männer in Anzügen auf dem Schiff...“

„Lüg nicht“, brüllte der Kapitän. Die anderen Piraten hatten sich mittlerweile hinter ihm aufgebaut. „Was glaubst du, was wir mit einem blinden Passagier wie dir machen?“

Ein weiterer Blitz zuckte am Himmel auf. Lila konnte das Weinen nicht mehr unterdrücken. „Bitte... lassen sie mich gehen.“

„Dich gehen lassen?“ wiederholte der Piratenkapitän und blickte seine Männer mit gespielter Verwunderung an. Die Männer lachten dreckig. „Wohin sollen wir dich denn gehen lassen? Wir sind mitten auf dem Ozean.“

„Ja, aber...“ Lila fiel nun kein Ausweg mehr ein.

„Wir können dich nicht gehen lassen“, sagte der Mann mit vorgetäuschtem Bedauern. „Wer mitbekommen hat, was auf der Treipan vorgeht, der geht nirgendwo mehr hin. Höchstens über Bord. Es tut mir sehr leid für dich, kleines Mädchen.“

„Was haben sie vor, Käpt’n?“ fragte der Schlafwandler.

Der Kapitän warf einen verächtlichen Blick auf Lila. „Fesselt sie auf dem Ausguck. Dann zurück in die Kojen! Wir entscheiden bei Tageslicht, was mit ihr geschieht! Kapiert, Brüder? Das heißt, wenn sie den Sturm übersteht.“ Er blickte zum Himmel, wo sich brodelnde Wolken zusammenpressten. „Sofort Segel einholen!“

„Ho!“ brüllten die Piraten im Chor. Der Kapitän warf Zweien von ihnen einen auffordernden Blick zu. Die beiden Piraten traten vor und packten Lila. Lila schrie wie am Spieß und versuchte sich zu wehren – doch es war vergebens. Die Männer waren viel zu stark für sie. Einer der beiden warf Lila über seine Schulter. Zwischen den übrigen Piraten hindurch trugen sie Lila zum vorderen Mast und kletterten nacheinander die Strickleiter am Mast hinauf. Oben zwängten sie Lila durch die schmalen Stäbe hindurch auf den Ausguck. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie die Segel heruntergelassen wurden.

„Lasst mich los!“ schrie Lila verzweifelt. Aber es hatte keinen Sinn. Während der eine Pirat Lila festhielt, hielt der andere ihre Hände hart hinter ihrem Rücken zusammen und verschnürte sie mit einem Seil. Dann band er das Seil am Mast fest. Auch wenn Lila merkte, dass es nichts nützte, versuchte sich sie noch immer zu wehren.

Die beiden Piraten stiegen die Strickleiter wieder herunter. Dann verschwanden sie hinter den anderen Männer durch die Tür ins Unterdeck. Lila hörte die Stimmen der Mannschaft noch dumpf reden und lachen, bevor sie völlig verstummten.

Der Wind blies Lila eiskalt ins Gesicht. Sie blickte hinab auf das Schiff. Das Wasser rings um die „Treipan“ war ein unruhiger geworden. Um den fast vollen Mond wirbelten die Wolken bedrohlich umeinander. Wieder blitzte es. Jetzt folgte der Donner bereits etwas schneller. Erste Regentropfen fielen vom Himmel und benetzten Lilas Gesicht. Der Sturm nahm volle Fahrt auf.

Der Sturm machte Lila jedoch nicht so viele Sorgen wie die Tatsache, dass sie hier oben auf dem Ausguck festsaß und sich nicht rühren konnte. Denn allzu viele Stunden würden es nicht dauern, ehe die Sonne aufging. Und wenn Lila dem Sonnenlicht ausgesetzt wurde, dann war es um sie geschehen.

Die Tränen liefen an Lilas Wangen hinab und vermischten sich mit den Regentropfen. Die einzige Frage, die sie jetzt noch beschäftigte war, was ihrem Leben zuerst ein Ende setzen würde: die bösen Piraten, der Sturm oder das unaufhaltsame Sonnenlicht.

Die Zeit verstrich. Lila spürte ihre Hände nicht mehr, weil die Fesseln um ihre Handgelenke so festgeschnürt waren. Die „Treipan“ schaukelte auf den tobenden Wellen auf und ab. Der aufziehende Sturm tobte ausgelassen über ihr. Der Mond hatte er vollständig verschluckt. Ein paar Mal war Lila beinahe eingenickt, aber da sie ja mehr am Mast stand als saß, schreckte sie immer wieder hoch. Die Piratenflagge über ihr flatterte laut im kräftigen Wind.

In der Ferne zeichnete sich über dem schwarzgrauen Meer das erste Licht der Morgendämmerung am Horizont ab. Das hatte Lila noch niemals so gesehen. Aber lange konnte es nicht mehr dauern, bis sich der Tag komplett zeigte. Ob sie große Schmerzen haben würde, wenn die Sonnenstrahlen sie trafen? Vielleicht hatte Lila Glück und sie würde schnell bewusstlos, so dass sie die Qualen nicht mehr mitbekommen würde. Lila schluchzte bei dem Gedanken, dass ihr nur noch wenig Zeit blieb, bis es aus mit ihr war.

Drei Piraten tauchten plötzlich an Deck auf. Auch der Kapitän war dabei. Jetzt waren die Männer allerdings nicht mehr in ihrer zerschlissenen, dreckigen Piratentracht gekleidet, sondern sie trugen Ölzeug und große Hüte gegen den Regen.

„Mir gefällt das nicht! Startet die Motoren, wir müssen den Kurs ändern“, bestimmte der Kapitän. Seine Untergebenen begaben sich sofort an ihre Aufgaben.

Lila versuchte noch einmal, um Gnade zu flehen. „Bitte!“ bettelte sie. „Ich darf nicht hier oben sein, die Sonne darf mich nicht treffen! Ich habe eine Lichtallergie, die Sonne ist tödlich für mich!“

Der Kapitän warf ihr einen hämischen Blick zu. „Dann trifft uns die Schuld wenigstens nicht.“ Das Heulen des Windes erstickte seine Worte beinahe.

„Ich verrate niemandem ein Wort“, versicherte Lila. „Wirklich! Wenn Sie anlegen, gehe ich von Bord und niemand wird irgendwas erfahren.“

Eine heftige Woge erfasste die „Treipan“. Lila wurde am Mast hin- und hergerissen. „Bitte!“ brüllte sie unter Tränen. „Helfen Sie mir!“

Doch der Kapitän antwortete nicht mehr. Er und seine Männer waren nur noch damit beschäftigt, die „Treipan“ für den wütenden Sturm zu sichern.

Das kräftige Schaukeln brachte Lilas Magen durcheinander. Der Regen peitschte ihr ins Gesicht. Lila schloss die Augen und hoffte, dass alles schnell zu Ende ging.

Mittlerweile hatte sich der Kapitän ans Steuerruder begeben. Der Donner des Gewitters war ohrenbetäubend laut. Lila öffnete die Augen. Es war schon wieder ein Stück heller geworden. Das Tageslicht und der Sturm schienen sich um die Wette über die „Treipan“ werfen zu wollen.

Lila kniff die Augen zusammen. „Alles wird gut, alles wird gut!“ sagte sie zu sich selbst mit tränenerstickter Stimme. „Ich muss nur auf meine innere Stimme hören! Auf meine innere Stimme!“

Mittlerweile war die ganze Piratenmannschaft wach und kümmerte sich darum, dass sie den Sturm gut überstehen würden. Um Lila kümmerte sich allerdings niemand. Sie saß auf dem Ausguck fest und bewegte sich nicht. Der Horizont war nun von gelbrotem Licht gesäumt. Kurz darüber begannen die Sturmwolken zu brodeln, die sich über den Ozean bis hierher erstreckten. Blitze zuckten, der Wind und die Wellen spielten mit dem Schiff und warfen es hin und her.

Lila spürte nur noch den Druck des Sturmes und hörte das Heulen des Windes und das Toben des Meeres. Sie wunderte sich, dass sie noch am Leben war. „Ein letztes Mal“, dachte sie, „jetzt öffne ich ein letztes Mal meine Augen.“

Lila blinzelte durch ihre Augenlider durch und sah zum Himmel. Dort, mitten aus den schwarzen Sturmwolken, brach mit einem Mal die Sonne hervor. Gigantisch, riesige, grelle Strahlen bahnten sich ein Loch durch das tobende Gewitter. Das goldene Licht wirkte im grauschwarzen Getöse geradezu unheimlich. Und Lila blickte direkt hinein, das Sonnenlicht traf sie mitten ins Gesicht. Die Sonne übergoss die komplette „Treipan“ mit ihren wärmenden Strahlen, nur für einen Augenblick. Lila kniff die Augen vor Schmerz wieder zusammen. Es war aber nicht ein solcher Schmerz, wie sie erwartet hatte. Auf ihrer Haut brannte die Sonne, die sie nun zum ersten Mal im Leben getroffen hatte, nicht. Aber ihre Augen hatten solche Helligkeit noch nie wahrgenommen. Was geschah nun mit ihr, da sie in das Sonnenlicht geraten war?

Urplötzlich schloss sich die Wolkendecke wieder. Lila wurde erneut am Mast herumgewirbelt. Ein greller Blitz schoss aus einer schwarzen Wolke und schlug direkt in den Mast ein. Lila schrie. Sie konnte nicht mehr sagen, wo sie sich befand und wo welche Himmelsrichtung war, als der Mast umknickte und den Ausguck mitsamt Lila viele Meter in die Tiefe riss.

Lila stürzte ins Wasser. Die Wellen zerbrachen den Mast ein weiteres Mal. Lila spürte, wie die Fesseln am Holz entlangglitten, sich lösten und ihre Handgelenke freigaben. Endlich konnte sie ihre Arme wieder bewegen. Aber die wütenden Wogen schleuderten Lila hin und her und schlugen sie von allen Seiten. Eine kräftige Strömung erfasste Lila. Wie durch einen Schleier sah Lila ein letztes Mal die „Treipan“, die immer schneller, immer weiter von ihr wegtrieb.

„Jetzt werde ich ertrinken“, dachte Lila. Nachdem sie das erste und einzige Mal die Sonne gesehen hatte, würde sie ertrinken. Lila spürte, wie die Kräfte sie verließen. Wenn es ihr gelang, noch einmal aus dem brausenden Wasser aufzutauchen, schnappte sie nach Luft. Aber es wurde immer schwieriger.

„Ich müsste ein Fisch sein“, dachte Lila. „Ein Fisch. Wenn ich ein Fisch wäre, dann könnte ich jetzt in die Tiefe tauchen und unter den Wellen hindurch schwimmen.“

Zwei Wellen türmten sich haushoch auf und klatschen hoch über dem Meeresspiegel zusammen. Von dort oben stürzte das Meerwasser auf Lila hinab und riss sie in die Tiefe.

„Ich müsste ein Fisch sein“, dachte Lila ein letztes Mal. Während sie immer tiefer und tiefer in den Abgrund gezogen wurde, stellte sie sich vor, wie ein Fisch zu schwimmen und wie ein Fisch unter Wasser atmen zu können. Und sogleich fühlte sie sich viel besser.

Jetzt hatte Lila sich wieder an alles erinnert. Wie sie von dem schlafwandelnden Piraten entdeckt worden war. Wie man sie auf den Ausguck gefesselt hatte und wie der Mast mit ihr in dem fürchterlichen Sturm abgeknickt war. Wahrscheinlich war das sogar ihre Rettung gewesen. Lila wusste auch noch, wie sie sich, vorgestellt hatte, ein Fisch zu sein, als sie im stürmischen Ozean trieb. Aber wie sie es geschafft hatte, nicht zu ertrinken, und wie sie dann hier an diesem Strand angespült worden war – das wusste sie nicht mehr.

Immer noch hatte Lila keine Ahnung, was hier aus ihr werden sollte. Es war ein Fehler gewesen, der alten Kassandra zu glauben. Oder? „Nur dieses Schiff wird dich leiten“, hatte sie gesagt. Von wegen - dieses Schiff hatte Lila ins Verderben geführt! Um ein Haar wäre sie von den Piraten gelyncht worde! Oder wäre in den Tiefen des Meeres versunken. Das konnte Kassandra doch wohl unmöglich gemeint haben. Wie durch ein Wunder stand sie jetzt hier mitten im Nirgendwo. Aber auch das konnte unmöglich der Plan gewesen sein.

Die Palmen, die den Beginn eines Hains bildeten, trugen Kokosnüsse. Vielleicht würde es auch andere Bäume mit Früchten geben? Jedenfalls stellte Lila erleichtert fest, dass sie nun wohl auch nicht verhungern musste.

„Hallo!“ hörte Lila plötzlich eine helle Stimme.

Erschrocken fuhr Lila herum. Auf einem Felsen in einigen Metern Entfernung stand eine Gestalt. Lila sah die Silhouette eines Menschen. Das zerzauste Haar wehte im milden Wind.

„Hallo“, sagte die Stimme noch einmal. „Wer bist denn du?“

Lila trat ein paar Schritte näher an den Menschen heran. Es war ein Kind.

Lila Blitz - Das Geheimnis der Snirq

Подняться наверх