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7. Kapitel: „Tyrann“

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Lila musste an Eri denken. Wie viele Tage waren es, seit sie aus der Stadt geflohen war? Fünf oder sechs Tage mochten es bestimmt sein. In diesem Augenblick fiel Lila ein, dass sie den Anorak, den Eri mit ihr getauscht hatte, gar nicht mehr trug. Richtig, sie hatte die Jacke in ihrem Versteck auf dem Schiff gelassen. Dort hatte Lila sich in den kühlen Nächten damit zugedeckt. Tagsüber war es zu warm gewesen, um den dicken Anorak zu tragen.

Nach wie vor wirbelten schwarze und graue Wolkenberge am Himmel umeinander. Lila versuchte sich zu besinnen, wie lange es jetzt schon her war, dass sie am Strand erwacht war. Als sie am Rande der Brandung zu sich gekommen war, schien das Morgengrauen schon ein wenig hereingebrochen zu sein. Aber bis jetzt machte der Tag noch keine wirklichen Anstalten, den Himmel zu erhellen. Eigentlich konnte das nicht sein, befand Lila. Vielleicht war es so, dass es doch noch mitten in der Nacht war und ein riesiger heller Vollmond hinter den Wolken vorgaukelte, dass der Morgen graute. Jedenfalls hatte Lila keine andere Erklärung. Es hätte längst tagen müssen.

Der harte Lehmboden unter Lilas Füßen bekam mit jedem Schritt kleine Risse. Das einzige Zeichen von Leben waren schwarze, kreischende Vögel, die ab und zu in kleinen Schwärmen über die karge Landschaft flogen. An den verdorrten Bäumen war kein einziges Blatt zu sehen.

Allmählich spürte Lila unter den Beinen einen Anstieg. Sachte, aber nur ganz sachte erhob sich die weite Fläche vor ihr hinauf. Lila musste ihre Augen anstrengen. Doch dann konnte sie durch die dunstige Luft erkennen, dass in der Ferne, bestimmt noch viele Kilometer entfernt, ein Berg lag. Er war schlecht zu erkennen, weil die Wolkengebilde den Berg umschlungen hatten – auf den ersten Blick war er gar nicht als Berg auszumachen. Lila schöpfte Hoffnung, dass sie dort etwas finden würde: Vielleicht endlich etwas zu trinken oder jemanden, der ihr sagen konnte, wo sie sich überhaupt befand. Es war müßig, jetzt darüber nachzudenken, nun da Lila hier gestrandet war. Aber hatte sie sich richtig entschieden? Nein, eigentlich konnte Lila diese Frage sich überhaupt nicht stellen, nachdem, was im Hafen geschehen war.

Lila war eine Leiter am Bootssteg nahe der „Tyrann“ hinunter geklettert und kauerte auf der untersten Sprosse. Alles, was sie wusste war, dass sie sich auf eines der beiden Schiffe schmuggeln musste. Es konnte nur eines der beiden Schiffe sein, von denen die alte Kassandra gesprochen hatte. Oder sie hatte das richtige Schiff schon versäumt, während sie von Amadeo im Brückenturm eingesperrt gewesen war. Aber das würde Lila jetzt nicht mehr herausfinden.

Angestrengt versuchte Lila zu erwägen, welches der beiden Schiffe sie wählen sollte: das graue, unheimlich wirkende Frachtschiff „Tyrann“ oder das edle weiße Boot, die „Treipan“. Nun – sie konnte ja auch nicht ganz unbehelligt auf eines der beiden Schiffe spazieren. Das alles musste geheim geschehen. Irgendwie musste Lila sich an Bord schmuggeln und sich dann als blinder Passagier verstecken – einerseits davor, dass sie von keinem Teil der Mannschaft oder der Passagiere entdeckt wurde. Andererseits würde auch die Sonne gegen Morgen wieder aufgehen. Hoffentlich liefen die Schiffe überhaupt noch früh genug aus. Aber der Hafenarbeiter hatte von „heute Nacht“ gesprochen.

Eigentlich brauchte Lila gar nicht lange darüber nachzudenken, dass die „Tyrann“ die wesentlich bessere Lösung war. Auf einem Frachtschiff gab es bestimmt nur wenige Personen, dafür umso mehr Möglichkeiten, sich zu verstecken. Auf dem Passagierschiff, der „Treipan“ würde es bestimmt schwieriger, nicht entdeckt zu werden.

Wenn Lila auf die „Tyrann“ wollte, musste sie sich beeilen. Der Arbeiter, der die Schlange mit den Säcken angeführt hatte, hatte ja signalisiert, dass das Frachtschiff bald zum Auslaufen bereit war.

Lila spähte über den Rand des Bootsstegs. Noch immer waren die Arbeiter mit den Säcken beschäftigt. Während Lila das beobachtete, wuchs eine Idee in ihr. Natürlich – so würde sie auf die „Tyrann“ gelangen, ohne dass man sie erwischen würde. Der Plan war zwar kühn, aber vielleicht funktionierte er.

Lila erklomm den Bootssteg üer die kleine Leiter und schlich zum Hafenkai zurück. Sie wartete einen günstigen Moment ab, in dem sie hinter die großen Reifen des Lastwagens schlüpfen konnte. So konnte sie auf die andere Seite des Lastwagens gelangen, ohne dass sie von einem der Arbeiter gesehen wurde. In dem Augenblick, in dem der Arbeiter, mit dem Lila vorhin gesprochen hatte, einen weiteren Sack hinter sich schleuderte, kletterte sie flink zwischen Reifen und Ladefläche an dem Fahrzeug hoch. Mit einem Satz sprang sie auf die große Pritsche und verbarg sich hinter den verbliebenen Säcken. Lila wartete einen kleinen Moment ab. Dass nichts geschah, deutete sie als Zeichen, dass sie niemand bemerkt hatte.

Wie gut, dass Lila vorher ganz genau beobachtet hatte, was auf der Ladefläche lag. Sie schnappte sich einen der leeren Säcke, steckte ihre Füße in die Öffnung und zog den Sack an ihrem Körper hoch. Die Borsten der rauen Leinen kratzen und juckten, aber das war jetzt das geringste Problem. Als Lila ganz im Sack verschwunden war, versuchte sie, so gut es ging, das obere Ende zusammenzuraffen. Sie hoffte, dass es von außen aussah, als ob der Sack wie die anderen verschlossen war.

Es dauerte eine kurze Weile, bis Lila spürte, dass der Sack, an den sie sich bis jetzt gelehnt hatte, weggenommen wurde. Lila machte sich bereit – gleich würde ihr Sack dran sein. Für einen kurzen Moment durchfuhr sie der Gedanke, ob ihre Idee nicht völlig verrückt und gefährlich war – aber da war es schon zu spät. Sie spürte, wie der Sack, in dem sie steckte, plötzlich und ruckartig hochgehoben und dann mit Schwung durch die Luft geworfen wurde.

„Passt auf, Männer, der ist viel leichter!“ hörte Lila die kratzige Stimme des Arbeiters von außen. Sie selbst musste sich die Hände auf den Mund pressen, um nicht aufzuschreien. Als sie von Armen zu Armen geworden wurde, schüttelte es Lila so durcheinander, dass sie für ein paar Sekunden nicht mehr spürte, wo oben und wo unten war. Durch wie viele Hände sie unsanft gereicht wurde, konnte sie nicht sagen. Aber es dauerte nicht mal eine halbe Minute, dann spürte sie, wie sie ein bisschen kräftiger geworfen wurde. Dann prallte sie auf – zum Glück nicht ganz so hart, wie sie befürchtet hatte. Die Säcke auf dem Bootsdeck hatten ihren Aufschlag gemildert.

Zaghaft lugte Lila durch die Öffnung des Sacks – und erschrak. Nur haarscharf verfehlte sie der nächste Sack, der auf das Bootsdeck geworfen wurde.

Hastig befreite sich Lila aus ihrem Sack und versuchte, unentdeckt über das Bootsdeck zu robben. Es war wichtig, jetzt hier wegzukommen, bevor die Männer die Säcke mit Planen und Seilen auf dem Deck sicherten.

Dass ihre Verfolger ihr zur selben Zeit gefährlich nahe gekommen waren, ahne Lila nicht. Aber in diesem Augenblick hatten wir beiden einen perfekten Blick auf den Hafen.

„Leichtes Spiel“, sagte der Große mit der dumpfen Stimme und deutete auf das Frachtschiff, die „Tyrann“. „Das da muss die kleine Kröte sein.“

In diesem Moment war Lila zwischen den Säcken auf dem Bootsdeck hervorgehuscht.

„Nie gesehen und gleich wiedererkannt“, kicherte die kleinere Gestalt mit durchdringender Stimme. „Die ganzen Kerle da sind zu blöd, das Balg zu sehen, aber ich hab sie gleich erspäht.“

„Du hast sie gleich erspäht?“ fragte die große Gestalt und hob drohend die Hand. „Ich hab sie erspäht. Und darum gehört der Löwenanteil der Kopfprämie mir.“

„Dir?“ versicherte sich die kleinere Gestalt. „Ich höre wohl nicht recht. Die Kopfprämie wird durch zwei geteilt oder gar nicht!“

„Wenn wir uns nicht beeilen, kriegen wir gar keine Belohnung“, dröhnte der Große. „Dann fährt das Schiff nämlich ohne unsere Beute los.“

„Also los, auf sie mit Gebrüll!“ kicherte der Kleinere gehässig und wollte loslaufen. Doch der Große hielt ihn zurück.

„Bist du verrückt? Dann wird alle Welt auf uns aufmerksam, und das lila Haar wahrscheinlich auch. Wenn wir so gehen, wie wir aussehen, dann fallen wir zu sehr auf. So sieht man hier einfach nicht aus. Und dann ist das lila Haar auch gewarnt.“

„Ah.“ Der Kleinere verstand und blickte seinen Begleiter an. „Und was schlägst du vor?“

„Ganz einfach“, sagte der Größere listig. „Wir schleichen uns da an den Rand und dann geht’s ins Wasser... und dann schwimmen wir die paar Meter bis zum Boot hinterher.“

„Und das soll klappen?“ fragte der Kleinere skeptisch.

Der Große sah ihn verheißungsvoll an. „Fisch!“ sagte er.

„Fisch“, wiederholte der Kleine verständnislos. Dann erhellte seine Miene sich. „Fisch! Ja, klar! Fisch! Die ehrenwerte Suoltary wird stolz auf uns sein. Und der Aufstieg in den Großen Rat rückt näher!“

Lila hatte ein perfektes Versteck gefunden. Ein kleines Holzboot lag kopfüber hinter dem Häuschen, in dem die Steuerkabine des Schiffes untergebracht war. Lila schätzte, dass es ein Rettungsboot war. Von hier aus hatte sie einen guten Überblick über den Hafen. Sie konnte beobachten, wie die Männer die letzten Säcke auf das Deck warfen. Außerdem ließ Lila ihren Blick über die Stege schweifen. Das edle Passagierschiff, die „Treipan“, machte sich offenbar zum Ablegen bereit.

„Fertig, Kapitän!“ brüllte ein Mann aus.

Das galt wohl dem Kapitän der „Tyrann“, der gefolgt von zwei Matrosen, das Schiff über eine kleine Holzbrücke betrat und dann am Deck vorbei zur Steuerkabine ging. Die Beine der Männer gingen nur wenige Zentimeter an Lilas Gesicht vorbei.

„Bereit zum Ablegen, Männer“, sagte der Kapitän mit einer dunklen Dröhnstimme.

Einen kurzen Moment überkam Lila der Gedanke, ob die Entscheidung, sich auf die „Tyrann“ zu begeben, die richtige gewesen war. Die alte Kassandra hatte zwar davon gesprochen, dass Lila auf ihre innere Stimme hören und sich vom Schicksal leiten lassen sollte. Aber sie hatte auch von einem Totenschädel gesprochen, fiel Lila wieder ein. Und hier auf der „Tyrann“ gab es rein gar nichts, was an einen Totenschädel erinnerte. Hoffentlich war sie auf dem richtigen Weg. Die Maschinen des Frachtschiffes begannen zu brummen. Lila spürte die Vibrationen unter sich. Die Matrosen zogen die Schlingen der dicken Seile über die Poller. Das Schiff setzte sich sachte in Bewegung. Lilas Herz klopfte, als sie beobachtete, wie sich der Schiffsbauch langsam von der Hafenmauer löste.

Das Heck der „Tyrann“ hinterließ eine Schneise von kleinen, schaumigen Wellen im Hafenbecken. Gemütlich tuckerte das Frachtschiff los. Die Bucht, an der der Hafen lag, lief an beiden Enden ziemlich eng zusammen, an einer Stelle, wo der einzige Weg in den Ozean führte. Langsam fuhr die „Tyrann“ darauf zu.

Im Fahrwasser, nur ein paar Meter hinter dem Heck, tauchten plötzlich Lilas Verfolger aus dem Wasser auf.

„Erster!“ rief der Kleine mit der hellen Stimme. „Wieder ich! Wieder normal!“

„Wir waren beide gleich schnell“, brummte der Große.

„Und holen wir uns das Kind jetzt?“ fragte der Kleine.

Der Große überlegte. „Noch nicht jetzt. Lass uns erst ein wenig weiter draußen sein, mitten auf dem Ozean. Da hat sie dann keine Möglichkeit mehr zu fliehen. Komm.“

Der Große schwang seine borstigen, langen Arme nach vorne und griff an ein Metallrohr, das am Heck der „Tyrann“ befestigt war. Dann ließ er sich von dem Schiff durch das Wasser pflügen.

„Ja!“ freute sich der Kleine und hakte sich mit den Knien in einer Leiter fest, die von der Reling herunterführte. „Dann kann sie nicht mehr fliehen, dann kann sie nicht mehr fliehen!“

„Still!“ brummte der Große giftig. „Uns darf niemand schnappen. Vergiss nicht, es sind noch andere Menschen hier in der Nähe.“

„Menschen. Überflüssig und im Weg.“ Der Kleinere schüttelte sich. Dann deutete er in Richtung Hafenbecken, das mittlerweile schon etwas weiter entfernt war. „Da stechen noch mehr von denen in See.“

Damit meinte er das edle Schiff, die „Treipan“, die ebenfalls gerade den Anker lichtete und ihren Anlegeplatz verließ.

Das Grummeln und Brummen, das Lila auf dem Schiff im Bauch verspürte, war ein neues Gefühl für sie. Noch konnte sie nicht sagen, ob es ihr wohl dabei war oder ob ihr gleich schlecht werden würde. Aber die Bewegung der „Tyrann“ fühlte sich schon sehr merkwürdig an.

Lila blickte zurück auf die Stadt. Die Lichter der Straßen zogen sich entlang der Küste und führten den Berg hinauf. Dort, wo der hügelige Wald begann, zerstreuten sich die Lichter immer mehr. Je höher der Berg wurde, desto schwärzer wurde er. Das Strahlen des Jahrmarkts war längst erloschen.

Vom Hafen her drangen Rufe und Gelächter über die Wasseroberfläche. Lila sah, dass diese Geräusche von dem großen Motorsegler, der „Treipan“ kam. Das Schiff hatte ebenfalls abgelegt und näherte sich mit hoher Geschwindigkeit. Lila fragte sich, was das wohl für eine Gesellschaft war, die dort in Anzügen und dunklen Brillen in See stach – und das mitten in der Nacht. So stellte sich Lila reiche Geschäftsmänner vor, die allerhand wichtige Angelegenheiten mit Geld und Aktien und solchem Kram regelten. Aber so richtig konnte sie sich nicht vorstellen, was solch eine Gruppe auf einem Schiff trieb. Vielleicht feierten sie eine Party. Aber um diese Zeit?

Wie sie so aus ihrem Versteck unter dem Holzboot beobachtete, wie das hellerleuchtete weiße Schiff sich immer mehr näherte, kamen ihr die Worte der alten Kassandra wieder in den Sinn. Mehr als einmal hatte Kassandra von dem Totenschädel gesprochen. Aber nichts deutete darauf hin.

Lila wandte sich zum Bug des Schiffes. Vor ihnen lag die Landenge, die aus der großen Bucht hinaus auf das offene Meer führte. Als Lila zum Heck schaute, stellt sie fest, dass die „Treipan“ nähergekommen war.

Als Kassandras Worte Lila erneut durch den Kopf spukten, stellte Lila sich plötzlich eine Frage: War sie denn überhaupt ihrem Gefühl und ihrer inneren Stimme gefolgt? Kassandra hatte darauf immer wieder gepocht. Aber war die Entscheidung, sich auf die „Tyrann“ zu begeben, richtig gewesen?

Die „Treipan“ hatte mächtig aufgeholt. Wenn das so weiterging, vermutete Lila, würden die „Treipan“ und die „Tyrann“ die Landenge, die durch die beiden Enden der Bucht entstand, zur gleichen Zeit erreichen.

Fieberhaft dachte Lila nach. Die Entscheidung, sich auf die „Tyrann“ zu schmuggeln – hatte sie die denn auf ihr Gefühl hin getroffen? Nein... eigentlich hatte Lila doch beschlossen, das Frachtschiff zu nehmen, weil es dort sicherer schien. Und das aus dem vernünftigen Beschluss heraus, dass auf der „Tyrann“ weniger Menschen waren als auf der „Treipan“... und es auf dem Frachtschiff mehr Möglichkeiten gab, sich besser zu verstecken. Aber das war eine Wahl gewesen, die eben aus der Vernunft entstanden war. Hatte das mit Gefühl und der inneren Stimme zu tun?

„Sind die denn verrückt geworden?“ schrie da plötzlich der Kapitän. „Was rücken die uns so auf die Pelle?“ Er deutete auf die „Treipan“, die bedrohlich näher kam. Zwei der Männer an Bord der „Treipan“ standen in ihren Anzügen und Sonnenbrillen mit verschränkten Armen am Bug.

Lila schloss die Augen und sog die frische Seeluft kräftig ein. Sie konzentrierte sich kräftig auf sich selbst, so dass sie gar nichts mehr von außen wahrnahm. Lila spürte, wie ihre Gedanken sich sammelten und wie ihr Herz schlug. Und als sie das gleichmäßige, etwas aufgeregte Schlagen ihres Herzens wahrgenommen hatte, da wusste sie es plötzlich.

„Wollt ihr eine Kollision heraufbeschwören?“ brüllte der Kapitän. Schlagartig öffnete Lila die Augen. Sie sah zuerst die Füße der Matrosen vor sich vorbeilaufen. Die Matrosen wollten sichergehen, dass die Fennen am Schiffsbauch einen möglichen Zusammenstoß mit dem großen Motorsegler abdämpfen konnten. Dann sah Lila, wie die hohen, weißen Masten der „Treipan“ nur knapp hinter der Reling der „Tyrann“ emporragten. Gerade als der Frachter in die Landenge eintauchte, drang auch das Segelschiff in den schmalen Weg zum Meer. Nur weil der Kapitän der „Tyrann“ das Schiff schnell nach Backbord zog, stießen die beiden Schiffe nicht zusammen. Beide beide Schiffe glitten durch die Landeng – so haarscharf nebeneinander her, dass es an ein Wunder grenzte, dass sich die Schiffe nicht rammten.

„Keine Panik, Alterchen!“ lachte einer der Männer mit den Sonnenbrillen. „Wir haben es leider ein bisschen eilig!“

„Unglaublich!“ brüllte der Kapitän aus seiner Kabine. „Da wird eine Meldung an die Seewacht fällig!“

„Mach nur!“ lachte der Mann. Die „Treipan“ zog geschmeidig an der „Tyrann“ vorüber.

Jetzt musste Lila handeln. Ihre innere Stimme hatte ihr einen sehr wichtigen Rat gegeben. Trotz aller Gefahr durfte sie keine Sekunde mehr verschwenden. Rasch kroch sie aus ihrem Versteck hervor und kletterte über die Reling. Die „Treipan“ war schon fast vorbeigerauscht – da ging Lila in die Knie und stieß sich mit den Füßen kräftig ab. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Lila unter sich das gurgelnde Meereswasser. Sie streckte die Hände aus – und konnte sich mit den Fingern an der stählernen Reling der „Treipan“ festklammern. Lila stellte ihren Fuß auf den Rand des Decks – und rutschte ab. Sie stieß einen kurzen Schrei aus und zog sich mit aller Kraft nach oben. Endlich fühlte ihr Fuß einen festen Untergrund. Lila zog sich an der Reling hoch und zwängte sich zwischen den Stahlseilen hindurch. Dann blieb sie erst einmal erschöpft liegen. Sie hatte es geschafft, sie war an Bord der „Treipan“. Hoffentlich hatte niemand gesehen, wie sie sich auf das Deck geschmuggelt hatte.

Die kleine Besatzung der „Tyrann“ hatte sich von dem Schreck erholt. Was bildeten sich diese arroganten Schnösel dieses edlen Motorseglers nur ein? Das Frachtschiff mitten in der Landenge zu überholen, war ein riskantes Manöver gewesen, das zu einer großen Katastrophe hätte führen können.

Von all dem Chaos hatten Lilas Verfolger nichts mitbekommen. Sie hingen nach wie vor am Heck des Schiffes und ließen sich durch das kalte Meerwasser ziehen.

„Wir haben das offene Meer erreicht“, grinste der Kleinere gehässig. „Und das andere Schiff mit all den Leuten ist auch weg. Wir können uns das Gör jetzt schnappen.“

„Geduld, Geduld“, versuchte der Große etwas bedächtiger zu sein. „Lass uns genau überlegen, was wir tun.“

„Ziehen wir das kleine Aas doch einfach mit durch das Wasser“, schlug der Kleine vor. „Lassen wir sie ertrinken.“

„Du bist so blöd“, sagte die andere Kreatur. „Der Auftrag lautet: Bringt das Kind lebend! Wenn wir sie abliefern und sie ist tot, dann möchte ich der ehrenwerten Suoltary nicht begegnen.“

„Gut, gut“, antwortete sein Kumpane genervt. „Also, was wollen wir machen?“

„Überlegen, was wir tun“, wiederholte der Große. „Sie kann nirgends hin, wir haben alle Zeit der Welt zum Überlegen.“

Keiner der beiden hatte eine Ahnung davon, dass Lila sich längst auf einem anderen Schiff befand. Lila war auf einem Schiff, dass kurz nach Passieren der Landenge einen ganz anderen Kurs als die „Tyrann“ eingeschlagen hatte.

Lila Blitz - Das Geheimnis der Snirq

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