Читать книгу Die Toten vom Eifelhof - Nicole Berwanger - Страница 10
ОглавлениеGründonnerstag, 13. April
Es war ein sonniger Morgen, als sich Charlotte auf den Weg in die Eifel machte. Obwohl sie bereits zum zweiten Mal zu diesem Hof in der Eifel unterwegs war, schaltete sie ihr Navi ein, denn das Anwesen der Familie Funk lag so versteckt und abseits, dass sie es sicher nicht auf Anhieb wiederfinden würde.
Sie war bester Laune und freute sich auf die Landschaft der Eifel und auf frische Landluft. Sie warf einen letzten Blick auf die Rückbank des Autos und kontrollierte, ob Handy, Fotoapparat, einen Laserentfernungsmesser, ihre Schreibmappe und Verträge dabei waren. Vorsichtshalber hatte sie ihre Brotdose mit Käsebroten und frischem Obst sowie eine Flasche Wasser dabei, denn in dieser Gegend der Eifel war es gut möglich, dass man kein Lokal zum Mittagessen fand. Charlotte hatte sich vorgenommen, an einem idyllischen Plätzchen in der herrlichen Natur der Eifel eine Rast einzulegen, sobald sie den Makler-Vertrag in der Tasche hatte und sich dann auf den Rückweg zu begeben.
Sie hatte schon auf dem Weg zu ihrem ersten Besuch kein einziges geöffnetes Ausflugslokal oder Restaurant gesehen. Irgendwie wirkte diese Gegend gespenstisch. Das war keine hilfreiche Voraussetzung für den Verkauf eines so großen Anwesens, aber es gab immer wieder Kunden, die genau so etwas suchten. Ruhe, Abgeschiedenheit und Natur. Dazu jede Menge Weidefläche rund um den Hof. Und exakt das hatte das Anwesen der Funks zu bieten. Charlotte überlegte, dass ein Investor ein ansprechendes kleines Reiterparadies daraus machen könnte. Sie dachte an einen schicken Pensionsstall oder eine Station für Wanderreiter, Radfahrer oder Ferienkinder. Es gab viele Möglichkeiten, die ihr spontan eingefallen waren, als sie den Hof zum ersten Mal besichtigt hatte.
Charlotte hatte sich bei der Erstellung des Exposés besondere Mühe gegeben. Sie hatte bei der ersten Immobilienbesichtigung stilvolle Fotos gemacht, die sie in ihrem Exposé zur Immobilie bestens in Szene gesetzt hatte. Das war eine Sache, die Charlotte am Herzen lag. Oft war es vorgekommen, dass sie bei späteren Besichtigungen zu hören bekommen hatte, auf den Bildern im Exposé hätte es viel schöner oder größer und idyllischer gewirkt, als es in Wirklichkeit war. Aber hatte der Kunde erst einmal einen Besichtigungstermin mit ihr vereinbart, war es ihr durch ihre überzeugende Art oftmals gelungen, ein Haus zu verkaufen, das dem Kunden auf den ersten Blick gar nicht hundertprozentig gefallen hatte. Während ihres Besuchs auf dem Aussiedlerhof der Funks, waren ihr direkt Dinge ins Auge gesprungen, die unbedingt in das Exposé gehörten. Die gut erhaltene Hausfassade mit historischem Fachwerk, der kleine Brunnen im Hof, der großzügige Hausflur mit herrlichen alten Fließen und der alte große Kastanienbaum, der vor dem Haus stand, das alles galt es in Szene zu setzen. Direkt am Haus sprossen saftige Wiesen, soweit das Auge reichte.
Wie beim vorherigen Termin parkte sie ihren Wagen im Hof unter dem alten Kastanienbaum. Sie nahm ihre Verträge in die Hand, stieg die Treppe hinauf zur Haustür und klingelte.
Insgeheim hoffte Charlotte, dass das Vertragsgespräch heute schnell über die Bühne gehen würde. Sie hatte sich vorgenommen, zeitig in ihr wohlverdientes, langes Osterwochenende zu starten. Außerdem wartete ihr Hund alleine zu Hause. Sie hatte vorgehabt, Ella mitzunehmen und es sich dann doch anders überlegt, als sie sich an den aggressiven Schäferhund, der neben den Stallungen an der Hundehütte angekettet war, erinnert hatte. Ella hätte im Auto bleiben müssen und das wollte sie der Hündin nicht zumuten, man wusste ja nie, wie lange die Kundengespräche dauerten. Sie hoffte, dass der Landwirt mit seiner Frau gesprochen hatte, und beide einvernehmlich für den Verkauf der Immobilie waren.
Wenig später saß Charlotte mit den Eheleuten Funk in deren guter Stube am Tisch und trank Kaffee. Sie präsentierte ihr Exposé und erklärt nochmals die Vertragsbedingungen. Herr Funk stellte viele Fragen, die sie alle ausführlich beantwortete. Die Bilder des Anwesens kamen gut an. Das Gespräch dauerte eine Stunde. Im Anschluss nahm Herr Funk den Kugelschreiber in die Hand und fragte, wo er unterschreiben müsse.
Frau Funk schüttelte den Kopf. „Ich unterzeichne jetzt noch nicht“, brachte sie leise hervor.
Herr Funk schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Kaffeetassen klirrten.
Am liebsten wäre Charlotte aufgesprungen und hätte Frau Funk mal ordentlich die Meinung gesagt. Sie ärgerte sich, dass sie bisher schon so viel Zeit investiert hatte und es doch nicht zum Vertragsabschluss kommen würde. Sie versuchte, ihren Ärger runterzuschlucken, und dachte an ihre Provision. Daher holte sie tief Luft und schlug den Eheleuten vor: „Ich werde jetzt ein halbes Stündchen draußen spazieren gehen. Dann haben Sie beide in Ruhe Zeit, über all das zu sprechen. Danach werde ich wieder zu Ihnen ins Haus kommen und vielleicht können wir heute doch den Makler-Vertrag unterschreiben.“
„Das ist eine gute Idee.“ Herr Funk nickte Charlotte freundlich zu und öffnete ihr die Zimmertür. „Sie finden ja hinaus“, sagte er mit angespannter Miene.
Draußen spazierte Charlotte quer über den Hof zu den Viehkoppeln, die am Weg vorbeiführten, genoß die hübsche Landschaft und überlegte, wie es weitergehen würde. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und knipste zum Zeitvertreib ein paar Bilder von der Gegend, dem klaren Bach, der entlang der Straße führte und dem Bauernhaus mit den Stallungen. Wenn sie Pech hatte, fuhr sie heute ohne unterschriebenen Vertrag die weite Strecke ins Saarland zurück. Wenn das Glück auf ihrer Seite war, stimmte Frau Funk zu, und Charlotte durfte mit einem unterzeichneten Vertrag in der Tasche zurückfahren. Nach einem Blick auf die Uhr beschloss sie, zurück zum Auto zu laufen und jetzt schon etwas von ihrem mitgebrachten Proviant zu essen. Die vereinbarte Wartezeit war noch nicht vorbei. Sie öffnete die Autotür und setzte sich hinters Steuer.
In diesem Moment sah sie den Sohn der Eheleute Funk auf sich zukommen. Rainer klopfte ans Autofenster und sie öffnete die Seitenscheibe des Autos. Er wirkte nervös.
„Hallo, Herr Funk“, begrüßte sie ihn durch die heruntergelassene Scheibe und reichte dem jungen Mann die Hand. Er erwiderte den Gruß und Charlotte spürte seinen verschwitzten Händedruck. Dann sagte er zu ihrer Verwunderung: „Also, mein Vater möchte, dass ich Ihnen noch unser Wochenendhaus mit dem angrenzenden Waldgrundstück und den Fischweiher zeige. Das hat er total vergessen, zu erwähnen. Ich soll Sie hinbringen, damit Sie da auch noch ein paar Bilder machen können und er sagte, es wäre eine Zugabe zur Immobilie oder wir könnten es noch extra anbieten. Ganz wie Sie es für richtig halten.“
Charlotte war überrascht. Was war denn jetzt los? Bisher hatte doch der Landwirt dieses Wochenendhäuschen gar nicht erwähnt. Versuchte er damit Zeit zu gewinnen, um seine Frau zu überzeugen, oder wollte er den Verkaufswert steigern und somit ihre Provision? Charlotte zögerte. „Ja, Okay“, sagte sie nach kurzer Pause, „ist es denn weit weg von hier?“ Sie ärgerte sich zwar insgeheim, dass durch den Zeitverzug heute nichts mehr aus ihrem gemütlichen Wochenende werden würde, aber sie konnte schlecht ablehnen. Außerdem war ihre Neugier geweckt.
„Vielleicht fahren Sie mir einfach hinterher,“ forderte Rainer sie auf, „es ist gar nicht so weit. Mein Auto steht da vorne.“ Er zeigte mit dem Arm in Richtung Straße. „Es ist ein grüner Suzuki, ein kleiner Geländewagen.“ Und schon lief er vom Hof in Richtung Straße. Nervös schaute er sich einmal kurz um. Seinen Wagen konnte man vom Hof aus nicht sehen. Ohne lange zu überlegen, steckte Charlotte den Zündschlüssel ein und fuhr los.
Während der kurzen Autofahrt, die über enge Straßen, vorbei an Bachläufen und grünen Wiesen führte, versuchte Rainer, sich zu beruhigen. Seine Hände schwitzten immer. Nervös rutschte er auf dem Fahrersitz hin und her. Als er diese Maklerin heute Morgen auf den Hof fahren gesehen hatte, war eine unsagbare Wut in ihm aufgestiegen. Sie richtete sich in erster Linie auf seine Eltern, die vorhatten, sein Erbe zu verschleudern, aber genauso gegen diese geldgierige Maklerin, die sich von dem Verkauf seines Erbes wahrscheinlich eine satte Provision versprach. Er hatte sich zwar bisher nicht für die Übernahme des Hofes interessiert, hätte aber nie im Leben geglaubt, dass er einmal gezwungen wäre, dort wegzuziehen. Eines Tages hatte er geplant, mit der Landwirtschaft aufzuhören, wenn die Eltern einmal nicht mehr lebten. Dann änderte sich das ganze Leben und er hätte nichts als Ruhe auf dem Hof. Das komplette Anwesen würde ihm gehören und er wäre in der Lage, alles alleine zu entscheiden. Er wohnte dann mietfrei, und sein kleiner Verdienst in der Gärtnerei würde für Wasser, Strom und Müllgebühren ausreichen.
Vorhin war eine riesige Panik in ihm aufgestiegen, als er befürchtete, dass seine Eltern vorhatten, den Maklervertrag zu unterschreiben. Dann war alles verloren. Dann stünde einem Verkauf nichts mehr im Weg. Daher blieb ihm keine andere Wahl, als etwas zu unternehmen. Er presste seine Lippen einen Moment lang zusammen. Bei dem Gedanken, sein Zuhause zu verlieren, stieg Panik in ihm auf. Er rang nach Luft. Sein Herzschlag beschleunigte sich und bei dem Gedanken hier wegzuziehen, wurde ihm übel. Er musste jetzt handeln.
Später wunderte sich Rainer selbst, wie er so schnell diesen Plan gefasst hatte, Charlotte vom Hof wegzulocken. Ursprünglich hatte er das Ziel, sie zunächst einmal in einem Gespräch unter vier Augen zu bitten, von dem Vertrag abzusehen beziehungsweise zurückzutreten. Dazu musste er sie aber vom Bauernhaus weglocken, denn sonst hätten seine Eltern von der Sache Wind bekommen.
Als Charlotte ungefähr 15 Minuten lang hinter Rainer hergefahren war, wurde sie ärgerlich. Sie hatte angenommen, das Wochenendhäuschen wäre nicht weiter entfernt, höchstens fünf Minuten. Hatte der junge Mann nicht gesagt, sie wären gleich da? Plötzlich bog Rainer vor ihr in einen unwegsamen Feldwirtschaftsweg ab. Kurz vor einem dichten Tannenwald fuhr er rechts in eine kleine Einbuchtung und hielt an. Charlotte parkte direkt hinter ihm. Er stieg aus, kam auf ihren Wagen zu und sie ließ ihre Seitenscheibe herunter.
„Sind wir endlich da?“, fragte sie mit leicht verärgertem Ton.
„Ja, lassen Sie am besten Ihren Wagen hier stehen“, antwortete Rainer, „da vorne wird der Waldweg so schlecht, da ruinieren Sie sich nur Ihr Auto. Wir fahren das letzte kleine Stück besser mit meinem Auto weiter. Es sind wirklich nur noch zwei bis drei Minuten“. Charlotte schnappte sich ihre Handtasche mit dem Handy, kletterte aus dem Auto und sperrte es ab. Dann stieg sie zu Rainer in den Wagen. Auf dem holprigen Weg bis zum Wochenendhaus sprach er kein Wort. Im Auto roch es nach Kuhmist, der sich aus Rainers Gummistiefeln im Wagen verbreitet hatte.
Als sie am Wochenendhäuschen ankamen, staunte Charlotte. Was für ein uriges Wochenendhaus versteckte sich hier mitten im Wald. Rainer stellte den Motor ab, als sie davor parkten. „Wie wunderschön!“, entfuhr es ihr. Dann stiegen beide aus.