Читать книгу Die Toten vom Eifelhof - Nicole Berwanger - Страница 8
ОглавлениеMontag, 3. April – eine Woche später
Als sie mit ihrem Auto vor dem Hauseingang des Eifelhofes parkte, fiel ihr auf, dass sich eine Gardine im Erdgeschoss des Hauses bewegte und sie offensichtlich erwartet wurde. Es kam niemand auf den Hof, um sie zu begrüßen. Der erste Eindruck war enttäuschend. „Wieder so ein altes Bauernhaus, das nicht stilgerecht renoviert worden ist“, murmelte sie. Die einstigen Fenster hatte man durch hässliche große Scheiben mit Aluminiumrahmen und zeitgemäßen Rollläden ersetzt. Auch die alte Haustür war einer modernen, langweiligen Eingangstür gewichen. Lediglich die alte Sandsteintreppe, die beidseitig hinauf zum Einlass führte, schien im Originalzustand zu sein. Daher wirkte sie verschlissen und marode. Vor dem Haus säumten allerlei Blumentöpfe, aus denen schon die unterschiedlichsten Frühlingsblüher ragten, die Front. Wenigstens ein schöner Anblick, der das trostlose Bild etwas aufwertet, schoss es ihr durch den Kopf.
Mit einem Blick auf die Uhr stieg Charlotte die altertümliche Treppe mit schnellen Schritten hinauf. An der Haustür drückte sie den Klingelknopf. Es schellte grell. Niemand reagierte, woraufhin Charlotte die Klingel ein zweites Mal betätigte. Ein durchdringendes „Ring-Ring“, hörte man bis vor die Haustür.
Eine lange hagere Frau in einer altmodischen Kittelschürze und mit einer langweiligen Frisur öffnete ihr nach einer ganzen Weile die Tür und musterte Charlotte von Kopf bis Fuß.
„Guten Tag, mein Name ist Charlotte Schumann. Ich bin Immobilienmaklerin und ich habe mit Herrn Funk einen Termin.“ Ein herrlicher Duft von frisch gebackenem Apfelkuchen durchströmte den Hausflur.
„Ja gut, kommen Sie rein, ich hole meinen Mann“, sagte die dürre Frau mit mürrischer Stimme und trat zur Seite. Charlotte stand in dem großen breiten Hausflur und hier war sie vorerst gezwungen, zu warten. So hatte sie immerhin etwas Zeit, sich in Ruhe umzuschauen.
„Ich komme gleich zurück“, erklärte die Frau, wischte sich die Hände an ihrer grauen Schürze ab und war sogleich hinter der nächsten Tür verschwunden. Charlotte packte die Gelegenheit und ließ den Blick durch den Raum wandern. Die altertümlichen Fliesen im Hausflur und die Holzvertäfelung an der Decke passten überhaupt nicht zusammen. Die Wandfarbe im Flur war weiß und leicht verschmutzt. Eine große Holztreppe führte in der Mitte des Flures in den zweiten Stock. Zwischen den köstlichen Apfelduft mischte sich der Geruch von verbranntem Kaminholz, der aus einer Feuerungsstätte aufstieg, die am Ende des Hausflurs lag. Als Frau Funk zurückkam, folgte ihr ein Mann, dessen Lebensalter Charlotte auf Mitte 60 schätzte. Er trug eine grüne Latzhose über einem grau karierten Flanellhemd. Seine Haare waren schon ein wenig ergraut, aber dicht. Er hatte ein rundes Gesicht, auffallend große Augen und einen stechenden Blick. Seine Wangen waren leicht gerötet und ein ungepflegter Dreitagebart zierte sein Gesicht. Der Mann war muskulös aber nicht groß und wirkte gedrungen.
„Guten Tag, Edgar Funk“, stellte er sich vor und schüttelte Charlottes Hand mit kräftigem Händedruck. „Am besten gehen wir in die Gute Stube“, sagte er freundlich und wies mit der Hand auf die rechte Tür. „Nehmen Sie schon mal Platz. Ich habe alle Flurpläne und den Bauplan vom Haus zusammen, die bringe ich Ihnen gleich.“
Damit verließ er das Zimmer und Charlotte saß mit Frau Funk alleine am Tisch, die sie mit feindseligem Blick beobachtete. Die Hausherrin sprach kein Wort, hatte die Lippen fest aufeinandergepresst und die Arme verschränkt. Zumindest bei ihr war Charlotte nicht besonders willkommen.
Verlegen schaute sie sich in der Guten Stube um. An der Wand über dem Sofa hingen Landschaftsbilder von unbekannten Malern. Auf einer kleinen Anrichte stand auf einem gehäkelten Spitzendeckchen ein gerahmtes Hochzeitsfoto, offenkundig das der Eheleute Funk, und weitere Bilder, vermutlich von Familienmitgliedern. Daneben war eine Blumenvase mit geschmacklosen Trockenblumen drapiert. In der Ecke stand eine uralte Stehlampe mit malerischen Jagdmotiven auf dem Lampenschirm. Direkt daneben ein gemütlich aussehender Ohrensessel aus einem grün-karierten Stoff. Außerdem gab es in dem Raum eine kleine Vitrine, in der allerlei Sammeltassen und schwere Kristallgläser fein säuberlich aufgestellt waren.
Bevor Charlotte darüber nachdenken konnte, warum Frau Funk so abweisend wirkte und wie sie die Situation deuten sollte, kam Herr Funk wieder ins Zimmer zurück. Er setzte sich mit den Plänen zu ihnen an den Tisch.
„Hast du denn der Frau Schumann schon einen Kaffee angeboten?“ Er richtete einen strengen Blick auf seine Frau.
Diese fragte artig: „Möchten Sie vielleicht einen Kaffee trinken?“ Ihr Augenausdruck und ihre Stimme verrieten Missfallen.
„Sehr gerne“, erwiderte Charlotte höflich und war froh, als die Dame des Hauses daraufhin das Zimmer verließ. Jetzt war sie mit Herrn Funk alleine. Sie durfte nicht mit der Tür ins Haus fallen, aber vielleicht bot sich heute nicht mehr die Gelegenheit, mit dem Mann unter vier Augen zu sprechen. Daher fragte sie ihn blitzschnell. „Ich habe den Eindruck, Herr Funk, dass Ihre Frau nicht begeistert ist, dass der Bauernhof verkauft werden soll. Liege ich da richtig?“
„Ach was, da täuschen Sie sich aber“, antwortete der Landwirt, „meine Frau ist einfach nur wenig Besuch gewöhnt. Wenn jemand Neues zu uns auf den Hof kommt, da ist sie immer zurückhaltend. Natürlich will sie verkaufen!“ Seine Stimme klang gereizt.
Kurz darauf brachte Frau Funk den Kaffee in einer entzückenden alten Kaffeekanne mit passendem Zuckerdöschen und Milchkännchen auf einem großen Tablett herein. Dann nahm sie Tassen mit passenden Untertellern aus der Vitrine. Sie schenkte wortlos den Kaffee ein und setzte sich stumm neben ihren Mann. Charlotte erläuterte die Vertragsbedingungen und erklärte, dass sie gerne Bilder vom Hof und Wohnhaus machen würde. Außerdem hatte sie vor, in allen Zimmern des Hauses die Räume zu vermessen und sämtliche Stallgebäude und Schuppen zu begutachten. Sie bat Herrn Funk, ihr für ein paar Tage die gesamten Flurpläne und die Baupläne zu überlassen, und versprach, diese so schnell wie möglich wieder zurückzubringen. „Zu Hause werde ich in Ruhe alle heute gemachten Bilder auswerten und in einem Exposé verarbeiten.“
Herr Funk nickte.
Als Charlotte merkte, dass Frau Funk mit dem Begriff nichts anzufangen wusste, erklärte sie ihr: „In einem Exposé steht eine Beschreibung Ihrer Immobilie, darin enthalten sind in der Regel auch Bilder und Grunddaten zum Objekt, wie Baujahr, Grundfläche, Preis. Ich habe hier ein Exposé einer anderen Immobilie, das ich angefertigt habe und das im Internet freigeschaltet wurde. Das dürfen Sie sich gerne mal anschauen, damit Sie sich einen Eindruck verschaffen können.“ Sie kramte in ihrer Tasche, holte das entsprechende Dokument heraus und reichte es Frau Funk. „So in der Art werde ich das für Ihre Immobilie auch machen. Das Ganze wird dann, nachdem Sie beide es abgesegnet haben, ins Internet gestellt. Und eine Kurzausgabe hängt in meiner Filiale im Schaufenster aus. Das wäre schon alles. Der Kundenkontakt läuft ausschließlich über mich. Ohne mich sollte keine Besichtigung stattfinden. Ich werde mich immer vorher mit Ihnen abstimmen, wann wir einen gemeinsamen Termin mit Kaufinteressenten vereinbaren können.“
Edgar Funk nickte erneut. Seine Frau saß regungslos am Tisch. „Wenn Sie beide keine Fragen mehr haben“, schlug Charlotte vor, „dann lassen Sie uns gleich mal mit der Besichtigung des Hauses anfangen.“ Dann stand sie rasch auf, in der Hoffnung, so aus dieser unangenehmen Situation zu entkommen. Sie vermutete jetzt schon, dass bei der Größe des Objekts jede Menge Arbeit auf sie wartete.
Und es stellte sich heraus, dass sie mit ihrer Vermutung Recht hatte, denn durch die ständigen An- und Umbauten hatte das alte Bauernhaus mehr Wohnfläche, als es auf den ersten Eindruck vermuten ließ.
Herr und Frau Funk führten Charlotte zuerst durch das große Wohnhaus. Sie fotografierte einen Raum nach dem anderen und notierte sich Informationen zu den Fenstern und den Böden, die teilweise mit alten Holzdielen ausgelegt waren. Immer begleitet von den bösartigen Blicken der Dame des Hauses.
„Ich hab ja nicht gewusst, dass Sie hier jedes einzelne Zimmer anschauen wollen“, stieß Helene Funk mürrisch hervor. „Ich dachte, Sie interessieren sich eher für den Stall und das Land. Wenn ich geahnt hätte, dass Sie überall Bilder machen, dann hätte ich gestern extra noch gründlich geputzt“, brummte sie feindselig und warf ihrem Mann dabei einen vorwurfsvollen Blick zu.
„Frau Funk, nochmal“, entgegnete Charlotte, „nicht alle Bilder kommen in das Exposé, aber ich muss doch den Kaufinteressenten am Telefon Auskunft geben können, wenn sie mich fragen, ob das Kinderzimmer nach vorne oder nach hinten heraus liegt und ob die Decke im Wohnzimmer vertäfelt ist und welche Farbe die Fliesen im Gäste-WC haben. Durch die Bilder habe ich für mich persönliche Informationen, die bei telefonischem Kundenkontakt mit Interessenten der Immobilie von Bedeutung sein können.“ Als Maklerin hatte Charlotte manchmal mit Verkäufern zu tun, die anstrengend waren, was die Immobilienbeschreibung und vor allem die Bewertung ihrer Häuser betraf. Aber Frau Funk schoss den Vogel ab.
Charlotte nahm sich vor, auf alle Fälle Herrn Funk nochmal darauf anzusprechen, ob seine Frau auch wirklich mit dem Hausverkauf einverstanden war, und zwar bevor sie sich zu Hause an die Arbeit der Erstellung des Exposés setzte.
„Hier kommen wir zu einem extra Wohnbereich“, erklärte Herr Funk, als sie vor einer Tür im zweiten Stock des Hauses standen. „Dazu gibt es auch an der Seite des Hauses einen separaten Eingang. Trotzdem haben wir hier auch eine Verbindungstür zu unserem Flur gelassen. Hier haben meine ledige Schwägerin und die Schwiegermutter früher gewohnt. Beide sind verstorben. Nun ist unser Sohn hier eingezogen.“
Charlotte war erstaunt, denn von einem Sohn war bisher gar keine Rede gewesen.
„Gehen Sie ruhig rein“, sagte Herr Funk, „mein Sohn ist, glaub ich, gar nicht da.“ Sie standen in einer kleinen Diele, von der aus mehrere Zimmer zu erreichen waren. „Hier gibt es eine Küche, ein Wohn-Esszimmer, zwei Schlafzimmer und ein Bad mit Dusche und Badewanne“, klärte er Charlotte auf. „Wenn man diese Tür zu unserem Wohntrakt zumauern würde, dann hätte man eine ganz abgeschlossene Wohnung. Das könnte doch sicherlich den Verkaufspreis erhöhen?“ Neugierig sah er Charlotte an. Die „Dollarzeichen“ standen ihm in den Augen.
„Wenn man eine separate Strom- und Heizkostenabrechnung hier machen könnte, wäre es ideal“, erwiderte sie.
Der Landwirt nickte. „Ja, das haben wir damals beim Umbau schon alles geregelt.“
„Na prima“, sagte Charlotte und notierte sich diese Information auf ihrem Block. Nachdem der ganze Wohnbereich besichtigt war, schlug der Landwirt vor, in die Stallungen zu gehen und zur großen Scheune. „Anschließend laufen wir dann zu den Offenställen und den Koppeln rund ums Haus und zu den Maschinenhallen“, kommandierte er Charlotte in einem Ton, als sei sie seine Angestellte.
„Ja, einen kleinen Moment noch, ich hole mir meine Gummistiefel aus dem Auto und eine andere Jacke“, rief Charlotte und war auch schon in Richtung Ausgangstür verschwunden. Diese Hofbesitzer sind seltsame Leute, ging es ihr durch den Kopf, die Frau erinnert mich an eine alte Dienstmagd und der Mann hat etwas von einem Feldwebel an sich.
Sie eilte zu ihrem Auto und nun fiel ihr zum ersten Mal ein junger Mann auf, der im Hof in der Nähe der Scheune herumschlich. Als er Charlotte bemerkte, senkte er den Kopf, packte einen Eimer und verschwand wortlos in einem der angrenzenden Schuppen.
Hier gibt’s echt merkwürdige Leute, schoss es Charlotte durch den Kopf. Man konnte doch grüßen, wenn ein Fremder auf dem Hof stand. Etwas verärgert zog sie sich ihre Gummistiefel an und die warme Jacke und lief zurück zum Haus, wo Herr Funk schon an der Haustür auf sie wartete. „Meine Frau bleibt jetzt drin, ich denke, wir brauchen Sie hierfür nicht“, erklärte er. „Zuerst laufen wir mal rüber in den großen Kuhstall.“
Froh darüber, dass die unangenehme Frau Funk nicht mehr mit dabei war, folgte sie dem Landwirt in die Stallungen. Jetzt bot sich die Gelegenheit, endlich mal in Ruhe nachzuhören, ob sich die Eheleute über den Verkauf der Immobilie einig waren. Was würde aus dem Sohn werden, wenn der Hof verkauft würde? Und war der junge Mann da draußen auf dem Hof vorhin der Sohn der Eheleute Funk gewesen? Auf Charlotte hatte er scheu und distanziert gewirkt. Vielleicht nur ein Stallhelfer, schoss es ihr durch den Kopf. Es blieb keine Zeit, länger darüber nachzudenken, denn schon verlangte Herr Funk wieder ihre volle Aufmerksamkeit.
„Kommen Sie, wir gehen weiter“, forderte er Charlotte mit seiner lauten Stimme auf. Bei einer ausführlichen Besichtigung aller Stallungen, Scheune, Schuppen und den Maschinenhallen, in denen die Traktoren, Anhänger, Heuballenpresse, Heuwender und sämtliche anderen Geräte Platz fanden, hatte Charlotte ausreichend Gelegenheit sich mit Herrn Funk zu unterhalten.
„Natürlich wollen wir verkaufen, auch meine Frau. Wir sehen keinen Sinn mehr in unserer Tätigkeit in der Landwirtschaft, wir verdienen ja kaum etwas und die Arbeit wird in unserem Alter immer schwerer. Wir haben schon Pläne, was wir mit dem Geld des Verkaufes von dem allem hier anfangen werden. Unser Sohn hat ja eine andere Arbeit. Er kann sich eine Wohnung in der Nähe seiner Arbeitsstelle suchen. Hier in der Gegend stehen viele Mietwohnungen leer. Meine Frau Helene und ich, wir werden in die Stadt ziehen und uns noch ein paar schöne Jahre machen. Helene hat sich das auch gewünscht. Nun müssen wir das endlich anpacken, bevor es zu spät ist. Sie sehen ja selber, wie groß das hier alles ist. Das ist für mich und meine Frau alleine einfach zu viel Arbeit. Unser Sohn zeigt wenig Interesse daran, zu übernehmen. Also, warum sollten wir uns hier noch jahrelang abrackern? Wir haben das so entschieden und nun wird das endlich angegangen.“ Er hatte ohne Punkt und Komma gesprochen. Seine Stimme klang entschlossen und etwas verbittert.
Charlotte nickte verständnisvoll. „Okay. Herr Funk, dann machen wir folgendes. Ich brauche mindestens eine Woche zur Erstellung des Exposés. Ich lasse Ihnen den Blanko-Maklervertrag schon mal zur Ansicht hier. Wir setzen dann bei meinem nächsten Besuch noch den Kaufpreis ein und sprechen jedes einzelne Detail durch. Dann müssen Sie beide nur noch den Vertrag unterschreiben und danach werde ich das Objekt direkt im Internet freischalten. Ein paar Kunden, die für Ihren Hof Interesse zeigen könnten, und genau so etwas wie hier suchen, habe ich schon in meiner Interessenten-Datei. Denen werde ich die Exposés direkt zumailen und sie zusätzlich telefonisch kontaktieren. Danach werden wahrscheinlich in den kommenden Wochen schon die ersten Besichtigungen hier stattfinden. Es wäre gut, wenn Sie Ihre Frau darauf vorbereiten könnten. Und vielleicht Ihren Sohn auch, denn die eventuellen Käufer werden alle Räume sehen wollen. Sie sollten aber auch wissen, dass es manchmal ein Jahr lang dauern kann, bis so eine große Immobilie verkauft wird, womit ich Ihnen aber keine Angst machen will, ich denke hierfür werden wir auf jeden Fall einen Käufer finden. Es ist ja alles prima in Schuss gehalten.“
Sie spazierten wieder gemeinsam zu der Hofeinfahrt, in der Charlottes Wagen geparkt war.
Wieder wurden sie von dem jungen Mann beobachtet, der vorhin in der Nähe stand. „Ah, das ist unser Sohn. Rainer, komm her“, rief Herr Funk. Dieser setzte sich nur langsam mit gesenktem Blick in Bewegung.
„Guten Tag, Charlotte Schumann“, stellte sich die Maklerin selber vor und reichte dem Sohn die Hand. Der schaute kurz zu ihr auf, erwiderte den Gruß und sah seinen Vater fragend an. Charlotte betrachtete den Sohn von der Seite. Er hatte braune lockige Haare mit einem ordentlich gekämmten Seitenscheitel. Seine dunkelbraunen Augen wichen Charlottes Blick aus. Der junge Mann war groß und schlank. Er hatte herabhängende Schultern. Rainer wirkte schlaksig, was vermutlich mehr an seinem Gang als am Körperbau lag. Er trug Jeans und ein grün kariertes Hemd, darüber eine aufgeknöpfte dicke schmutzige Stalljacke. An seinen Gummistiefeln klebten Reste von Kuhmist. Das war nicht nur zu sehen, sondern auch zu riechen.
„Die Maklerin hat sich heute umgesehen und wird uns nächste Woche sagen, was das alles Wert ist. Ab dann wird alles zum Verkauf stehen. Du kannst also schon mal langsam nach Wohnungen Ausschau halten“, sprudelte es aus Edgar Funk heraus, während er seinen Sohn Rainer betrachtete.
Dieser wirkte erschrocken. „Was, so schnell?“, sagte er leise. Die Stimme klang bekümmert.
„So schnell wird das sicherlich nicht gehen, Herr Funk, und selbst wenn wir direkt einen Käufer hätten, dann wird eine ganze Weile vergehen, bis alles drumherum geregelt ist“, unterbrach Charlotte und versuchte den jungen Mann etwas aufzumuntern. Dieser aber zeigte keinerlei Reaktion. Er stand da mit gesenktem Kopf und verschränkten Armen und als Charlotte sich verabschiedete und versprach, sich so bald wie möglich zu melden, zeigte er keine Regung. Als sie wenig später mit ihrem Auto in Richtung Saarland zurückfuhr, hatte sie Zeit, sich mit Gedanken über ihren neuen Kunden zu befassen. Sehr seltsame Familie, diese Funks, schoss es ihr durch den Kopf, während sie der Musik, die aus dem Autoradio dudelte, lauschte.
Ihre Geschäfte als Immobilienmaklerin liefen mittlerweile bestens. Sie hatte ein kleines Verkaufsbüro in der Stadt angemietet, wo sie ihre Kunden empfing. Das große Schaufenster am Büroeingang war bestückt mit zahlreichen Abbildungen von Verkaufsobjekten. Am Abend arbeitete sie manchmal von zu Hause aus, wo sie sich ein kleines Büro eingerichtet hatte. Charlotte war glücklich über ihre Entscheidung zur Selbständigkeit und zufrieden mit ihrer finanziellen Situation. Einen gewissen Teil ihres Wohlstands verdankte sie dem Geld, das ihr geschiedener Mann Wolfgang, ihr als Abfindung ausbezahlt hatte, nachdem er sie wegen der pummeligen Sekretärin seiner Firma verlassen hatte. Charlotte lebte seit einigen Jahren in einem winzigen Häuschen mit Garten, zusammen mit ihrem erwachsenen Sohn Johannes und ihrer Hündin Ella auf dem Land. Weit weg war sie nicht gezogen, nur ein paar Orte weiter. Ihr Exmann hatte einige Zeit in ihrem ehemaligen gemeinsam erbauten, und eigentlich viel zu großen, Haus gewohnt. Nach kurzer Zeit hatte er es verkauft und war zu seiner neuen Frau in das benachbarte Bundesland Rheinland-Pfalz gezogen. Mit seinem Umzug war er völlig aus Charlottes Leben verschwunden, was sie mittlerweile nicht mehr bedauerte. Sie war keine neue Beziehung eingegangen, obwohl sie eine sehr attraktive Frau in den besten Jahren war. Sie war gesellig, weltoffen und ein meist fröhlicher und gutgelaunter Mensch. Sie hatte grünbraune Augen und trug ihre blonden langen Haare gerne offen, bei Kundenbesuchen manchmal elegant hochgesteckt. Es bereitete ihr keine Probleme auf Menschen zuzugehen und so schaffte sie es meist in kürzester Zeit, neue Kontakte zu knüpfen. Trotzdem hatte sie es vorgezogen, vorerst Single zu bleiben. Sie genoss ihre Freiheit und liebte es, ihre freien Tage selbst zu gestalten. Da ihr Sohn Johannes schon eigene Wege ging, fühlte sie sich nicht mehr verpflichtet, sich immer nach seinen Wünschen zu richten. Alles war perfekt, so wie es war.