Читать книгу Endstation Nordstadt - Nicole Braun - Страница 10
4 Azrael
ОглавлениеBeim Frühstück schlug ich die Zeitung auf. »Insolvenzverwalter erhängt sich in abgewickeltem Betrieb. Hielt er die Gewissensbisse nicht länger aus?«
Beinahe hätte ich den Kaffee auf die Schlagzeilen geprustet. Jetzt hatte ausgerechnet ich diesem Abschaum posthum glatt ein Gewissen verschafft; nur die Ironie des Lebens konnte so eine schräge Geschichte schreiben.
Die Zeilen verrieten mir nichts Neues. Der Mann hinterließ eine Frau und zwei Töchter. Sie fielen weich in ein dickes Vermögen, angehäuft auf dem Buckel Hunderter armer Wichte, die in der Schlange auf dem Arbeitsamt den Tag rumbrachten. Vielleicht hatte ich der Welt ein wenig Gerechtigkeit zuteilwerden lassen – Anstand konnte ich ihr selbst auf diese Weise nicht beibringen, sonst hätte die Zeitung titeln müssen: »Ausbeuter entzieht sich feige der Verantwortung«. Ich seufzte. An Wunder glaubte ich schon lange nicht mehr. Ich stellte mir vor, welche honorigen Mitglieder der Kasseler Gesellschaft bei der feierlichen Beerdigung salbungsvolle Worte für Schuhmann finden würde. Mir stieß der Kaffee sauer auf. Insgeheim hoffte ich, dass die alle allmählich anfingen, sich Sorgen zu machen. Wenn es einen nach dem anderen dahinraffte, konnte es ja möglicherweise auch die Übrigen mit Dreck an den Schuhsohlen treffen. Ich wusste, dass das Getuschel in den Reihen bereits begonnen hatte. Dort kursierten die wildesten Spekulationen, während die Polizei im Dunkeln tappte. Gut so.
Im Anhang des Artikels fand ich den Hinweis, dass die Polizei von Suizid ausging, man aber entsprechende Ermittlungsergebnisse abwarten müsse. Ich musste lächeln. Die mysteriöse Selbstmordserie hatte Aufsehen erregt, dennoch erkannte bislang niemand die Verbindung. Die Abstände hielt ich bewusst variabel. Die ersten Todesfälle trennten viele Monate, obwohl es mir schwergefallen war, so viel Geduld aufzubringen. Auf den nächsten musste ich nicht so lange warten, dennoch war keine Eile geboten. Es gab nicht den geringsten Grund, um aus der Ruhe zu geraten.
Ich schmierte mir ein Brötchen mit Marmelade und ließ es mir schmecken, während ich den Artikel ein zweites Mal las. In Gedanken sah ich Schuhmanns Tod vor mir ablaufen wie einen Film. Ich beobachtete, wie der Kerl auf den Hocker stieg, sich die Schlinge um den Hals legte, den Schemel mit den Fußspitzen wegkippte und baumelte und zappelte. Und bei all dem spielte ich in meiner Fantasie keine Rolle, und das sollte genau so sein. Die Schlagzeilen und die Aufmerksamkeit sollten die erhalten, die so geil darauf waren, dass sie beinahe alles dafür taten. Nur in dieser Geschichte mussten sie für den Ruhm eben sterben.
Ich schaute mir noch einmal das Foto an, das beim Verladen des Sarges vor der Fabrikhalle entstanden war. Im Eingang zur Halle stand ein Mann im Halbprofil. Undeutlich verschwommen durch die grobe Pixelung des Zeitungsdrucks. Ich kniff die Augen zusammen, das Bild wurde ein wenig schärfer. Der Mann trug einen unmodernen Mantel, ausgetretene Schuhe, Haare und Bart wirkten ungepflegt. Die Kasseler Kriminaler, die ich kennengelernt hatte, legten mehr Wert auf ihr Äußeres. Wer auch immer er war, er kam in meiner Planung nicht vor, und das würde sich umgehend ändern.