Читать книгу Endstation Nordstadt - Nicole Braun - Страница 17
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ОглавлениеEin paar Schritte an der frischen Luft waren genau das, was ich jetzt brauchte, außerdem hatte ich noch eine halbe Stunde Zeit, bis Matts Lokal öffnete. Zwar knurrte mein Magen, aber ich würde es so lange noch aushalten.
Nachdem ich den Ford vor meiner Wohnung geparkt hatte, ging ich die wenigen Straßenzüge bis zur Pizzeria zu Fuß. Der Wind pfiff um die Häuserecken und blies den Muff aus den Straßen. Ich hatte den Kragen hochgeschlagen und die Hände in den Manteltaschen vergraben. In der einen fühlte ich den doppelt geknickten Zettel mit einer mir unbekannten Telefonnummer, in der anderen Sharps 100-Mark-Schein. Unwillkürlich begannen meine Finger, den Schein zu liebkosen. Ich beschleunigte meine Schritte und hielt den Blick auf den Asphalt gerichtet. Bloß nicht schwach werden. Durchhalten, bis Matt aufsperrte.
Sein Lokal war eines der wenigen, in denen keine Spielautomaten hingen. Nicht mehr. Matt hatte die Automaten abmontieren lassen, als die Wände einen neuen Anstrich gebrauch hatten. Danach waren die blinkenden, pfeifenden Kisten nicht wieder aufgetaucht. Dabei entging Matt ein gutes Geschäft. In den anderen Spelunken saßen die Spieler oft bis zur Sperrstunde und tranken ein Bier nach dem anderen. Matt hatte behauptet, dass er das Gedudel nicht mochte, insgeheim wusste ich, dass er es wegen mir getan hatte.
Mir spukte die Szene durch den Kopf, die sich in der Wohnung von Dieter Gehrmann ereignet hatte. Er hatte mich in ein Zimmer geführt, in dem es nach Ölfarbe und Terpentin roch. An den Wänden stapelten sich Leinwände in allen Größen, auf einer Staffelei stand ein halbfertiges Gemälde. Ich war sicherlich kein Kunstkenner, doch was ich sah, gefiel mir. Da hatte jemand – vermutlich Sandro Ratstetter – Gefühl für Farbe bewiesen. Diese war zu abstrakten Verschnürungen auf die Leinwand gebannt worden, unterbrochen von schwarzen Strichen, die sich wie Schnitte durch die farbenfrohen Hintergründe zogen.
»Diese Bilder«, sagte Gehrmann, »hätten es niemals in seine eigene Galerie geschafft. Er arbeitete an manchen Tagen wie ein Besessener, aber selbst seinem eigenen kritischen Auge wurde er nicht gerecht. Ich glaube, es gibt genug unsensible Idioten, die überhaupt keine Ahnung haben, was sie mit der Seele eines Menschen anstellen, wenn sie solch ein Urteil fällen wie sein Kunstprofessor seinerzeit.«
»Wie lange ist das her?«, wollte ich wissen.
»Ein halbes Leben. Sandro war 42, als er starb. Er hat es immerhin 20 Jahre lang ausgehalten, mit seiner eigenen Unzulänglichkeit täglich einen Kampf zu führen.«
Gehrmann wirkte in diesem Augenblick älter, als er vermutlich war. Ich schätzte ihn auf Ende 50, Ratstetter war also um einiges jünger gewesen. Die ewige Suche nach dem guten Vater, dachte ich. Selbst das hatte die Wunden nicht heilen lassen. Ich schaute auf das halbfertige Gemälde und war es plötzlich leid, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, warum sich jemand seinem Dämon geschlagen gab. Also hatte ich mich eilig verabschiedet und Gehrmann zuvor noch versprochen, ihn auf dem Laufenden zu halten.
Die Dämonen. Selbst ein Gang durch den beginnenden Nieselregen konnte sie nicht abschütteln. Nun musste ich nur noch zehn Minuten durch die Straßen wandern. 600 ewige Sekunden, wenn ein Hunderter in der Tasche und an jeder Ecke eine Spielhölle locken. Ich biss die Zähne zusammen. »Na los, Meinhard«, sagte ich zu mir selbst, »hast deine Neugier schon im Zaum gehalten und nicht sofort die Nummer angerufen, die auf dem Zettel steht. Da schaffst du auch die zehn läppischen Minuten.«
Ich schaffte es nicht.