Читать книгу Endstation Nordstadt - Nicole Braun - Страница 9
3
ОглавлениеIch nahm den offiziellen Ausgang aus dem Fleur durch den Sexshop im Erdgeschoss. Scharpinskys Puff lag im Keller und war über zwei Wege zu verlassen: Wenn die Luft rein war, ging man durch den Sexshop hinaus auf die Holländische Straße, wenn die Polizei vor der Tür stand, gelangte man über eine Treppe in den Hinterhof und konnte Richtung Bunsenstraße verduften.
Während unserer Unterredung hatte es geregnet, und die Lichter der Leuchtreklamen waberten auf dem nassen Asphalt. Der letzte Schnee im Rinnstein war geschmolzen und hatte Unrat freigelegt, für den sich niemand verantwortlich fühlte: Unmengen an Kippen, verblassende Fetzen der Silvesterböller, die die Häuserschluchten der Nordstadt zum Beben gebracht hatten, Kondomverpackungen und Kronkorken. In den obersten Stockwerken der gegenüberliegenden Häuser blinkten rote Herzen in den Fenstern. Darunter lungerten Kerle mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen vor den Eingängen herum. Sie pressten sich, so weit es ging, unter die schützenden Vordächer und warteten auf Kundschaft, die Stoff brauchte oder Sex.
Ich verdrückte mich mit Sharps Liste in einen windgeschützten Winkel zwischen zwei Wohnblocks und studierte sie. Auf Anhieb erkannte ich zwei der Männer darauf. Richter Drömer war mir selbstverständlich ein Begriff, außerdem Franz Schuhmann – ein Insolvenzverwalter, der skrupellos zerschlug, was ihm in die Finger geriet. Diese beiden waren noch am Leben, genauso wie ein Mann namens Hans Vaas. Die Einträge der Herren Ratstetter, Zanetti und Levin kennzeichnete ein kleines schwarzes Kreuz. Von Letzterem hatte ich in der Zeitung gelesen, dass er mit einer Überdosis Schlaftabletten in seinem Ferienhaus in der Badewanne ertrunken war.
Obwohl ich weit davon entfernt war, mich widerstandslos in Sharps Erpressung zu fügen, trieb mich doch die Neugier. Die Adresse von Schuhmanns Büro kannte ich von etlichen Schreiben, mit denen man Mandanten von mir mitgeteilt hatte, dass man ihre Lohnforderungen leider nicht mehr eintreiben könne. Ich steckte die Liste ein und zog den Mantel enger um mich. Dann ließ ich mich gemeinsam mit dem Unrat, den der Wind über die Bürgersteige vor sich her wehte, bis zu meiner Wohnung wenige Straßen von Scharpinskys Puff entfernt treiben. Dort parkte mein senfgelber Ford Taunus. Aufgrund chronischen Spritmangels hatte ich ihn in der letzten Zeit so selten wie möglich bewegt. Nach einigen Versuchen startete der Motor. Gemeinsam mit dem Feierabendverkehr verließ ich die Stadt Richtung Waldau.
Das Grau des regnerischen Tages und die Dämmerung verschwammen ineinander, die tristen Bauten des Industriegebiets waren zu Schatten geworden.
Zu Schuhmanns Büro hätte ich in eine Seitenstraße abbiegen müssen, aber ich wurde abgelenkt. In einiger Entfernung rotierte der blaue Schein von mindestens drei Einsatzfahrzeugen über die Fassade einer Fabrikhalle. Getrieben von einer Vorahnung lenkte ich den Ford in Richtung der Lichter.
Vor der Halle parkten wie erwartet zwei Polizeifahrzeuge, außerdem ein Krankenwagen und ein Leichenwagen. Ich stellte den Ford in einiger Entfernung am Rand des Geländes ab und näherte mich dem Halleneingang, aus dem gerade zwei Männer einen Sarg auf einem Rollwagen schoben.
Bevor ich einen Blick in das Innere der Halle erhaschen konnte, stellte sich mir ein Mann in den Weg.
»Können Sie mir verraten, was Sie hier suchen?« Kommissar Richard Sachs hatte extra tief eingeatmet und sich aufgepustet. Völlig unnötig, denn muskelbepackt, wie er war, könnte er sich ohne Probleme zwei Hänflingen meiner Sorte in den Weg stellen. Zu seinem Pech war ich mindestens einen Kopf größer als er und sah ohne Probleme über seinen kurz rasierten Schädel hinweg. Mein alter Freund Kommissar Matthias Frank hatte mir einmal anvertraut, dass Sachs gerade eben so die Mindestgröße für den Polizeidienst erreicht hatte. Dass Sachs karrieremäßig im Schatten des altgedienten Kommissars Frank vor sich hin dümpelte, machte es nicht besser. Sachs nutzte jede Gelegenheit, um sich in den Vordergrund zu spielen, und allzu oft gab er dabei im Gegensatz zu Matthias Frank eine unglückliche Figur ab.
Ich konnte es mir nicht verkneifen, aus dem aufgeplusterten Kerl die Luft rauszulassen. »Wo ist denn Kommissar Frank?«
Sachs knirschte mit den Zähnen. »Hat sich in den Innendienst versetzen lassen.«
»Niemals!«, entfuhr es mir. Das konnte nur ein Scherz von Sachs sein, wahrscheinlich steckte Frank mitten in einem anderen Einsatz. »Frank geht doch niemals in den Innendienst.«
»Das besprechen Sie dann wohl besser mit ihm selber, und jetzt würde ich Sie bitten, das Gelände zu verlassen.«
Ich linste über Sachs hinweg und erhaschte einen kurzen Blick in das Innere der Halle. Man hatte Scheinwerfer aufgestellt, die die Szene wie eine Filmkulisse wirken ließen. Exakt in der Mitte lag ein umgekippter Stuhl, darüber baumelte eine Schlinge aus grobem Seil. Ich hatte eine ungefähre Vorstellung davon, was hier geschehen war.
»Suizid?«, fragte ich dennoch.
»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.« Sachs’ Aufmerksamkeit wurde von einem Wagen abgelenkt, der mit quietschenden Reifen auf das Gelände gerast kam. Eine Frau und ein Mann mit Kameras im Anschlag sprangen heraus und fotografierten wild drauflos. Schnell drehte ich mich weg, aber die Aufmerksamkeit der Journalisten wurde ohnehin von den Männern angezogen, die gerade den Sarg verluden. Offensichtlich war ich nun Sachs’ geringeres Problem. Er stürzte auf die beiden zu und gab damit den Weg für mich frei. Während ich ein paar Schritte in die Halle tat, vernahm ich von draußen lautes Gezeter.
Im Innern gab es nicht mehr zu entdecken als das, was ich vorhin bereits erkannt hatte. Ein Stuhl, ein Seil. Das Ganze ergänzt durch Absperrband und Menschen in Schutzanzügen, die fotografierten und den Boden nach Beweismitteln absuchten. Die weitläufige Halle ähnelte tausend anderen leerstehenden Fabrikhallen – bröckelnder Beton, rostiger Stahl, zerborstene Oberlichter –, wenn nicht mittendrin diese Schlinge von der Decke gebaumelt hätte. Hier gab es nichts weiter zu sehen.
Draußen war Sachs immer noch in eine Diskussion mit den Presseleuten verwickelt. Die Frau deutete auf einen Mercedes, der neben dem Eingang zur Halle parkte und den ich hinter den Einsatzfahrzeugen zuvor gar nicht bemerkt hatte. »Können Sie uns bestätigen, dass es sich um Franz Schuhmann handelt?«
Mir genügte als Antwort das Kennzeichen »KS-FS«.
Sachs gestikulierte wild herum. »Das ist ein Tatort und Sie verziehen sich jetzt. Alles Weitere erfahren Sie später von der Presseabteilung.«
Die zwei Journalisten verrenkten sich die Hälse, um einen Blick in die Halle zu werfen, doch ein Beamter schob gerade das Tor zu.
Ich tippte mir an die Stirn, um Sachs beiläufig zu signalisieren, dass ich auf dem Sprung war, und schlich zu meinem Auto, bevor die Journalisten womöglich auf die Idee kamen, mich abzulichten. In diesem Zusammenhang in der Presse aufzutauchen, würde den letzten Rest Wohlwollens, den ich bei Scharpinsky genoss, vollends zerstören.
Sachs lief hinter mir her und holte mich ein, kurz bevor ich am Wagen ankam. »Was hatten Sie hier eigentlich zu suchen?«
»Ich bin ganz zufällig vorbeigefahren.«
Klar, dass er mir kein Wort glaubte. »Darüber reden wir noch.«
»Gibt es Hinweise darauf, dass es keine Selbsttötung war?«
Sachs’ Miene durchzog ein feistes Grinsen. »Einen Unfall können wir ziemlich sicher ausschließen.« Dann zog er ab.
Zurück in der Nordstadt hinderte mich ein hartnäckiges Magenknurren daran, auf direktem Weg nach Hause zu gehen, da in meinem Kühlschrank mal wieder gähnende Leere herrschte. Mit der Hand rührte ich in der Manteltasche. Ein paar Markstücke klimperten um die gefaltete Liste herum, die Sharp mir überlassen hatte.
Ich könnte beim Türken ein Fladenbrot kaufen, es mit nach Hause nehmen und die Glotze dudeln lassen, während ich es allein in mich hineinstopfte. Oder ich könnte die restlichen Stunden des Tages bei Matt im Vesuvio absitzen, wie die meisten Abende im letzten Jahr, und anschreiben lassen. Ich entschied mich für Pizza und eine Unterhaltung mit Matt und seiner Frau Rosetta.
Kaum hatte ich die Tür zum Vesuvio geöffnet, fühlte ich mich augenblicklich zu Hause. Matt – Matteo Ferrugio – stand hinter dem Tresen und grölte einen italienischen Gassenhauer. Irgendwas von Tozzi oder Ramazzotti, für mich klangen die alle gleich. Das schwarze Haar klebte ihm in öligen Wellen an der Stirn und durch das verschwitzte weiße Hemd schien seine üppige Brustbehaarung durch.
Als er mich bemerkte, brüllte er durch den Raum: »Meinardo, meine Freund, entra! Setz dich und trink eine Rote mit mir. Heut isse ein Tag zum Feiern!«
Die Gäste hoben kurz die Köpfe, registrierten, dass ich zur Tür hineingekommen war, und senkten sie wieder über ihre Teller. Die lautstarken Ausbrüche von Matt hielten hier niemanden vom Essen ab.
Ich arbeitete mich bis zum Tresen vor. So dicht an der Küche biss der Knoblauchgeruch mehr, als dass er duftete.
»Was gibt es denn zu feiern?«, fragte ich.
Er zog einen Wisch hinter sich aus dem Regal und wedelte damit durch die Luft. »Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis! Da futterst du seit Jahren die Nutten von Kassel fett und trotzdem musse du denen bei die Behorde jedes Jahr die Arsch kussen.«
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte ich.
»Das hat mit die Gluck nichts zu tun«, raunte Matt über die Theke gelehnt. »Sondern mit ein paar braune Scheinchen. Oder glaubst du, das funktioniert in Kassel anders als in Sicilia?« Er zog mit dem Zeigefinger das Unterlid herunter.
»Trotzdem Glückwunsch.« In Wahrheit gratulierte ich mir selbst, denn wenn Matt sein Lokal dichtmachen müsste, würde ich den einzigen Ort verlieren, der als Ersatz für ein Zuhause taugte.
Ich sah mich um. Die meisten Gäste mummelten schweigend das Essen in sich hinein. Ein Pärchen saß sich gegenüber. Ob das Glänzen in ihren Augen an ihrer Stimmung, am Wein oder etwas ganz anderem lag, ließ sich nicht ausmachen; selbst wenn die beiden total zugedröhnt gewesen wären, hätte man ihnen schon Blut abnehmen müssen, um es mit Sicherheit sagen zu können. An einem anderen Tisch entdeckte ich drei aufgetakelte Mädchen stumm nebeneinander. Ihre Röcke waren für die Jahreszeit zu kurz, und ihre knabenhaften Körper verrieten, dass sie kaum 18 sein konnten. Ihre Blicke wieselten wie die von hungrigen Straßenhunden durch den Raum.
Luca Ferrugio – Matteos alter Herr – saß in einer Ecke und war eingeschlafen. Sein Körper war zu einem atmenden Buckel zusammengefallen, das Kinn hing ihm auf der Brust. Das Gebiss war halb aus dem geöffneten Mund gerutscht, aber den zwischen die Beine geklemmten Spazierstock hielten seine Hände fest umklammert.
Ich deutete auf den alten Kerl. »Auch gut für ihn. Das mit der Verlängerung, meine ich. Der käme ja gar nicht damit klar, wenn er woanders sein Nickerchen halten müsste.«
Matt grinste. »Gestern ich hab gedacht, er wär tot. Ich hab ihm eine Grappa unter die Nase gehalten und schwupps – er war wieder da. Hat die Grappa runtergeschuttet und auf die Cosa Nostra geflucht. In Italiano versteht sich.«
»Versteht sich.«
»Was darf’s sein, meine Freund?«, fragte Matt.
Ein randvolles Glas Rotwein stand bereits vor mir auf dem Tresen. »Nur eine Kleinigkeit.«
Matt legte den Kopf schief. »Kanns anschreibe«, flüsterte er.
»Dann nehme ich eine Vierjahreszeiten ohne Peperoni.«
»Studierte Weichei«, meinte er lächelnd und brüllte anschließend die Bestellung in die Küche.
In der Durchreiche tauchte das runde Gesicht von Rosetta auf. Sie strahlte von einem Ohr zum anderen. »Wo is meine Lieblingsanwalt?«, rief sie.
Ich bückte mich über den Tresen und winkte ihr zu.
»Wann wirst du endlich eine richtige Kerl? Pizza ohne Peperoni isse wie Liebe ohne …« Sie klatschte die flache Hand auf die Faust.
Matt grinste und nickte wissend, und ich hatte Bilder vor Augen, auf die ich gerne verzichtet hätte.
»Los, Freund, wir setzen uns.« Matt war hinter dem Zapfhahn hervorgekommen und plötzlich um einiges kleiner geworden. Um den Größenunterschied zwischen sich und Rosetta auszugleichen, hatte er sich eine Stufe hinter dem Tresen installieren lassen. Ich hatte ihr Hochzeitsfoto gesehen: Man hatte Matt auf eine Kiste gestellt und die Schleppe von Rosetta darum drapiert, um sie zu kaschieren. Trotzdem guckte Matt selbstbewusst wie ein König in die Kamera. Sizilianische Männer waren vielleicht klein, aber stolz auf jeden Zentimeter.
Wir setzten uns an einen Tisch. Ich hatte den freien Blick in den Raum gewählt. Seit einiger Zeit ertrug ich es nicht mehr, Eingangstüren den Rücken zuzudrehen.
»Auf die deutsche Behorden!« Matt erhob das Glas.
Wir stießen an.
Er musterte mich durchdringend. »Meinardo, du siehse unglucklich aus.«
Matt war der einzige Mensch, dem ich nichts vormachen musste. In Wahrheit kam mir in letzter Zeit immer öfter der Verdacht, dass ich eigentlich niemandem mehr etwas vormachen konnte, egal, wie viel Mühe ich mir gab. Wenn man erst mal am Bodensatz kratzte, half weder Anzug noch Krawatte.
»Sharp hat mich an den Eiern.«
Scharf sog Matt die Luft ein. »Merda, das isse schlimm.«
Ich nickte und nahm einen Schluck Wein. Nicht die Sorte, die ich gerne getrunken hätte, dafür umsonst und mit Liebe eingeschenkt.
»Ziemlich schlimm sogar«, sagte ich. Ich brauchte nichts zu erklären. Kiezgröße Scharpinsky war jedem ein Begriff, der sich zwischen Wiener und Wolfhager Straße aufhielt und den Kopf senkte, sobald ein Polizeiauto vorbeifuhr.
»Geld oder Drogen?«
»Himmel, Matt! Keine Drogen.«
Er guckte kurz erleichtert, doch schnell verdüsterte sich seine Miene wieder. »Wobei … Geld isse nich unbedingt eine kleinere Problem.«
»Nicht im Mindesten. Er will, dass ich meine Schulden bei ihm abarbeite.«
»Klingt fair.«
»Ja, falls ich erfolgreich bin. Ansonsten kannst du mich mit Betonschuhen aus der Fulda fischen.«
»Nein, so was mache nur die Mafia«, Matt grinste. »Sharp wurde dich vielleicht …« Das Grinsen verschwand.
»Genau. Ich hab überhaupt keine Chance. Was er da von mir verlangt, ist eine Nummer zu groß für einen kleinen Anwalt wie mich. Und außerdem hab ich ja noch meine Klienten. Wenn ich kein Geld verdiene, kann ich mich auch ohne Sharps Hilfe aufhängen.«
»Da has du dich ganz ordentlich in der Scheiße geritten, meine Freund. Was solls du denn tun fur ihn?«
»Ihm ist eine Reihe gut situierter Schuldner durch Selbstmord abhandengekommen. Das Geld kann er abschreiben. Und ich soll rausfinden, warum, und verhindern, dass es so weitergeht.« Als mir klar wurde, dass es bereits weitergegangen war, wurde mir schummrig. Es war keine gute Idee gewesen, den Wein auf leeren Magen in mich reinzuschütten. Bevor ich Matt von Schuhmanns Selbstmord erzählen konnte, trat seine Frau Rosetta an den Tisch. Sie balancierte einen Teller und stellte ihn vor mir ab, dann nahm sie meinen Kopf, presste ihn zwischen ihre Brüste und rubbelte mir den Schopf. Ich befreite mich aus ihrer Umklammerung, sie kniff mir in die Wange. »Meine Lieblingsanwalt, du. Und jetzt iss, siehse schlecht aus.«
Matteo hatte die Szene grinsend verfolgt. Rosetta holte die Weinflasche vom Tresen, goss die Gläser voll und setzte sich neben ihren Mann. Nun verschwand Matteos Gesicht zwischen ihren Brüsten. Sie gurrte, während sie seine Locken kraulte.
Währenddessen widmete ich mich der Pizza. Die erste warme Mahlzeit seit Tagen. Rosetta hatte mich mit einer extra dicken Schicht Käse und Schinken bedacht. Ich hatte solchen Hunger, dass ich zu schnell aß. Der heiße Käse brannte mir augenblicklich eine Blase in den Gaumen, und ich spülte mit einem Schluck Wein nach.
Matteos Gesicht tauchte puterrot aus Rosettas Dekolleté auf. »Passe bloß auf. Mit Sharp isse nich zu spaße.«
»Ich weiß«, hauchte ich. Das Stück Pizza in meinem Mund war noch immer zu heiß, um es zu schlucken.
»Sharp?« Rosetta angelte nach einem kleinen Kruzifix, das an einer Kette zwischen ihren Brüsten baumelte, und küsste es. Dann verschwand der Gekreuzigte wieder in der üppigen Hautfalte. Ich konnte mir schlechtere Orte vorstellen, um an ein Kreuz genagelt rumzuhängen.
Matt legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Lass uns mal kurz allein, ja?«
Sie warf mir einen mütterlich besorgten Blick zu und stand auf. »Aber alles aufesse«, sagte sie im Weggehen.
»Und was willse jetzt mache?«, wollte Matt wissen.
»Was kann ich schon tun? Mich als freundlicher Anwalt den Witwen der Selbstmordkandidaten vorstellen und herausfinden, was da los war.«
»Nich dass du am Ende Ärger mit die Anwaltskammer bekomms.«
»Ach, Matt. Wenn das meine einzige Sorge wäre.«
Er nickte wissend. »Wenn du brauchs Hilfe oder musse einfach nur reden – unsere Tur isse immer offen.«
Vom Nachbartisch klapperte es laut. Matteos altem Herrn war tatsächlich das Gebiss aus dem Mund gefallen. Verschlafen guckte er in die Runde, dann sah er mich und seine grauen Augen blitzten. »Meinardo«, nuschelte er. »Come schtai?«
»Va bene, Luca«, antwortete ich.
Matt krabbelte unter dem Tisch herum. Endlich hatte er das Gebiss gefunden. Vorwurfsvoll zeigte er es dem alten Mann. Der hatte das Fehlen noch gar nicht bemerkt.
Ich schaufelte schnell den Rest Pizza in mich rein, bevor mein Appetit vollends zum Teufel war.
Matt hatte das Gebiss unter dem Wasserstrahl am Zapfhahn gesäubert und gab es seinem Vater zurück. Der ließ es in den Mund gleiten und klapperte ein paarmal damit wie ein Storch.
»Nachtisch?«, fragte Matt.
»Heut nicht, danke.«
»Eine Grappa?«
»Da sag ich nicht nein.«
Matt goss drei Gläser voll, stellte zwei auf unseren Tisch und eines vor seinen alten Herrn. »Desinfiziert«, rief er lauter als notwendig, und der Alte verzog den Mund zu einer schaurigen Grimasse.
Matt sah mich ernst an. »Ich bin nich Sharp, aber ich hab auch einflussreiche Freunde. Bevor du stecks tief in die Scheiße, komms zu mir. Capisce?«
Ich war mir nicht sicher, wovor ich größeren Respekt hatte. Vor Sharp und Sergej oder der sizilianischen Mafia. Ich schüttete den Grappa herunter. Das Brennen lenkte mich einen Augenblick ab.
Schließlich sagte ich: »Verstanden.«