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Am Morgen plagte mich ein leichter Kater von Matts billigem Rotwein, begleitet von einem widerlichen Knoblauchgeschmack und einer ausgetrockneten Kehle. Ich kippte drei nach Chlor schmeckende Gläser Wasser herunter und putzte mir ausgiebig die Zähne. Das alles half nur mäßig, und ich verließ nach einem verzweifelten Griff in die bereits für die Wäsche aussortierte Kleidung die Wohnung.

Jemand hatte eine Werbung für »70 Jahre Zissel« hinter den Scheibenwischer des Ford Taunus geklemmt. Volksfest mit Umzug und Tamtam, genau meine Veranstaltung. Ich schnappte den Flyer und warf ihn in den Fußraum zu einer Sammlung an Knöllchen und Kassenzetteln. Der Ford gurgelte kurz, bevor der Motor sich erbarmte anzuspringen. Die Tankanzeige war einen Strich über Reserve. Bis Wilhelmshöhe sollte das locker reichen.

Das Grundstück am Mulang lag versteckt hinter einer soliden Backsteinmauer. Vor dem Tor beobachtete mich ein Kameraauge, während ich die Klingel betätigte. Den klapprigen Ford hatte ich eine Straße entfernt geparkt, denn die auffällige senfgelbe Kiste hatte mir schon so manchen Auftritt vermasselt, das konnte ich mir heute nicht erlauben.

Ich zog den Knoten des Schlipses gerade, atmete tief ein und blickte möglichst selbstsicher in die Kamera.

»Ja?«, fragte eine blecherne Stimme aus der Gegensprechanlage.

»Mein Name ist Meinhard Petri. Ich bin Anwalt und vertrete einen Geschäftspartner von Herrn Levin. Es gäbe ein paar Fragen zu klären.«

Am anderen Ende folgte Rauschen. Jemand schien zu überlegen. Lange zu überlegen. Als ich drauf und dran war, den Klingelknopf noch einmal zu drücken, ertönte ein Summen. Das Tor sprang automatisch auf und drehte sich wie von Geisterhand in den Angeln.

Kaum war ich wenige Schritte auf das Grundstück getreten, schwenkte das Tor hinter mir zu und fiel mit einem Scheppern ins Schloss.

Ich war angemessen beeindruckt. Der Garten und das Haus waren geradewegs einer Zeitschrift für modernes Wohnen entsprungen. Der Landschaftsgärtner hatte ganze Arbeit geleistet, jeder Grashalm sah aus wie nach Plan gesteckt und die Hecken waren mit einer Perfektion gestutzt, als hätte jemand eine Wasserwaage drangehalten. Während in sämtlichen Winkeln der Stadt Frühblüher anarchisch bunt aus dem Boden sprossen, wagte auf diesem Grundstück nichts, den Kopf aus der Erde zu stecken, was das perfekte Bild zerstört hätte. Auf Kassels Straßen stach einem an jeder Ecke der Geruch von diesen gelben Büschen, deren Name ich mir nicht merken konnte, in die Nase. Ich schnupperte. Hier roch es nach nichts.

Ich näherte mich dem Haus, das durch überdimensionale verspiegelte Fenster wie ein Geist auf mich hinabstarrte. »Geh weg«, schien es zu sagen. Zwischen den Villen am Mulang wirkte es wie ein Schuhkarton auf Stelzen, dessen Auftraggeber ein großer Fan des Bauhauses gewesen sein musste. Wie der für das Ding eine Baugenehmigung erhalten hatte, wussten wohl nur der Bauherr und jemand auf dem Amt, der sich das Beamtengehalt ein wenig aufgebessert hatte.

Ich drückte die Beklemmung weg und marschierte Richtung Eingang, begleitet von dem sicheren Gefühl, dass ich beobachtet wurde.

Der Eingang lag zwischen zwei Säulen. Ein Kubus aus Sichtbeton mit einer glatten Haustür aus Stahl, die sich mit einem Summen öffnete, kaum dass ich einen halben Meter von ihr entfernt war.

Ich trat ein und fand mich am unteren Ende einer Treppe wieder. Am oberen Absatz wartete eine Dame mittleren Alters in hellblauer Kittelschürze. Sie sah misstrauisch zu mir herunter und musterte mich auf die Art und Weise, auf die man auf keinen Fall gemustert werden möchte, wenn man geglaubt hatte, dem Anlass entsprechend korrekt gekleidet zu sein. Ihr Blick blieb an meiner Krawatte hängen. Vielleicht war Paisleymuster zum Jeanshemd doch die verkehrte Wahl gewesen, aber alle übrigen Krawatten hatten Flecken gehabt.

»Kommen Sie hoch, Herr Petri.« Sie rollte das »R«. Ein Akzent aus dem Osten.

Ich erklomm die Treppenstufen, bis ich neben der Frau stand. Jetzt wirkte sie winzig.

»Dort lang bitte. Frau Levin wird gleich bei Ihnen sein.« Erwartungsvoll hielt sie die Hände ausgestreckt, bis ich verstand, dass sie mir den Mantel abnehmen wollte. Ich legte ihn über ihre Unterarme und ging in die Richtung, in die sie gezeigt hatte.

Ich spürte ihre Anwesenheit im Rücken, bis ich das Wohnzimmer erreicht hatte. Als ich mich umdrehte, war sie verschwunden.

Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten war ich beeindruckt. Zwischen dem weitläufig im Raum verstreuten Mobiliar hätte ohne Platznot eine Formation Walzer tanzen können. Von den hochglänzenden beigefarbenen Fliesen stieg eine angenehme Wärme auf. Klar, Fußbodenheizung. Eine Front aus bodentiefen, beinahe rahmenlosen Fenstern eröffnete die Aussicht auf das Kasseler Becken, nur abgelenkt durch einige Bäume auf dem darunterliegenden Grundstück. Durch die nackten Äste erahnte ich bekannte Kirchturmspitzen; sie ragten aus der Dunstglocke, die über der Stadt hing. Ich stellte mir vor, wie die Aussicht erst im Dunkeln sein musste, wenn sich die Wilhelmshöher Allee wie ein leuchtender Wurm durch die Stadt wand. Beinahe schade, dass der Ausblick bald eingeschränkt sein würde, sobald die Bäume austrieben.

Schritte näherten sich. Die Frau schob beim Schreiten die Schultern trotzig nach vorne, wobei die Schulterpolster unter ihrer Bluse vor- und zurückwippten. Ihre langen Beine steckten in schwarzem Samt, und während die meisten im Haus vermutlich etwas Bequemes bevorzugt hätten, trug sie Schuhe mit mörderischen Absätzen, in denen sie lief wie in Turnschuhen. Sie musste das stundenlang geübt haben, ihre hohen Hacken machten kaum ein Geräusch auf dem Fliesenboden. Für einen Körper wie ihren hätte manche Frau ein Vermögen hingeblättert, ich entdeckte jedoch an ihr nichts, was auf etwas anderes als die Gnade guter Gene schließen ließ. Mit einiger Erleichterung fand ich schließlich an ihren goldblonden Locken doch etwas, wo der Natur nachgeholfen worden war: An der Kopfhaut verriet sie ein glatter brünetter Ansatz.

Ich hatte eine Witwe in Sack und Asche erwartet, stattdessen stand mir eine Frau gegenüber, die weder gebeugt noch gebeutelt wirkte. Sie schien es zu genießen, dass ich sie anstarrte, verharrte demonstrativ und hielt den Rücken gerade. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie trotzig die Fäuste in die Hüften gestemmt hätte, stattdessen streckte sie mir die rechte Hand entgegen.

»Salvina hat gesagt, Sie seien ein Geschäftspartner meines Mannes gewesen.«

Ich war versucht zuzustimmen, die Steilvorlage war zu verführerisch. Doch ich war immer noch Anwalt, ganz gleich, wie tief ich bereits im Schlamm versunken war. »Da muss sie etwas falsch verstanden haben, wir waren keine Geschäftspartner. Mein Name ist Meinhard Petri. Ich bin Anwalt für Strafrecht.« Ich fummelte eine zerknautschte Visitenkarte aus der Jacketttasche und hielt sie ihr hin.

Sie nahm sie, aber würdigte sie keines Blickes. »Ich habe einen Anwalt«, sagte sie trocken.

»Ich vertrete die Interessen eines Mannes, der mit Ihrem Gatten Geschäfte gemacht hat.« So formuliert klang die Sachlage verdammt harmlos, allerdings nur, wenn einem das Knacken brechender Finger nicht ständig im Ohr lag. Unbewusst rieb ich mir die Hände.

»Und was kann ich für Sie tun? Sie haben sicher Verständnis, dass ich bisher nicht alle Angelegenheiten von Roman ordnen konnte.«

Sie wirkte extrem gefasst, beinahe bemüht, so als trüge sie unter der Bluse ein Korsett, das ihr das Rückgrat stützte.

»Mein Mandant hatte geschäftlich mit den Männern zu tun, deren Selbstmorde in den vergangenen Jahren hier in Kassel in den Medien Wellen geschlagen haben, und er fragt sich, ob es einen Zusammenhang zwischen ihnen gibt.«

Sie seufzte, und beim Ausatmen wich die Spannkraft aus ihrem Rücken. Sie ließ sich in einen schwarzen Lederkubus mit Chromgestell fallen. Eines dieser Möbelstücke, bei denen ich mich immer gefragt hatte, ob die Würfelform bequem sein konnte. Einen Augenblick später wusste ich, dass sie es nicht war.

Sie hatte mir einen Platz gegenüber angeboten, und ich rutschte auf dem kalten, harten Leder herum auf der verzweifelten Suche nach einer lässigen Haltung.

»Das hat mich die Polizei auch schon gefragt, und ich kann Ihnen nur sagen, dass ich die Herren nicht persönlich kannte.«

»Die Polizei hat Sie befragt?«

»Sicher. Ist es nicht üblich, bei Selbstmord nachzuforschen, wenn kein Abschiedsbrief vorliegt?«

»Sie haben recht, das ist üblich. Und Sie haben die anderen Männer nie getroffen?«

»Vielleicht ist man sich mal auf einer Abendveranstaltung begegnet.«

»Haben Sie eine Ahnung, für welchen Zweck Ihr Mann sich 300.000 Mark geliehen hat?« Die Taktik, mit der Tür ins Haus zu fallen, hatte der Wahrheit schon häufig auf die Sprünge geholfen.

Sie sah mich an, als sei ich verrückt geworden. Ich meinte, sogar ein leises Lächeln zu erkennen.

»Roman hatte es nicht nötig, sich Geld zu leihen. Wir haben nie über Finanzielles gesprochen und auch nie über den Verlag, aber glauben Sie mir, Geld war ganz bestimmt das geringste Problem.«

»Wer führt die Geschäfte, jetzt, wo Ihr Mann …?« Ich biss mir auf die Unterlippe.

Ihre Augen verengten sich und sie schob das Kinn nach vorne. Verwirrt stellte ich fest, dass sie die Frage weniger betroffen machte als ärgerlich. »Sein Sohn aus erster Ehe ist schon vor Jahren in die Geschäftsführung eingestiegen. Roman wollte ihm ohnehin in Kürze den Verlag übergeben und sich zurückziehen. Er hat sein ganzes Leben davon geträumt, selber mal etwas zu schreiben. Daraus wird nun nichts mehr.«

Ich fragte mich, welcher Teil ihrer Antwort Grund für den Ärger in ihrer Stimme war. »Hat er sich gut mit seinem Sohn verstanden?«

»So gut, wie zwei Leitwölfe sich eben verstehen können. Es gab immer wieder mal Unstimmigkeiten, aber am Ende wurden sie sich irgendwie einig.«

Dieses Thema machte sie eifersüchtig, das spürte ich. »Und Sie sind finanziell versorgt?«

Sie setzte sich sehr gerade hin. »Ich denke nicht, dass Sie das etwas angeht, oder?«

Ich hatte mich schon gefragt, wann sie dichtmachte. »Da haben Sie recht. Das geht mich nichts an.« Freundlich den Schwanz einzuziehen war der zweite Teil der Taktik. Tatsächlich wurde ihr Rücken wieder rund. Zeit für die ultimative Frage. »Hat Ihr Mann jemals Selbstmordabsichten geäußert?«

Sie zuckte zusammen, überlegte kurz, schien mich dann einer Antwort für würdig zu erachten. »Er hatte manchmal Phasen, in denen ihm alles über den Kopf zu wachsen schien. Wissen Sie, er war einer dieser Männer, denen der Erfolg in den Schoß fiel. Was er anpackte, gelang. Aber das war nur beruflich. Privat sah es anders aus.«

Sie blickte mich an, und je länger sie das tat, desto mehr Unbehagen stieg in mir hoch. Unvermittelt stand sie auf und sagte: »Kommen Sie mit. Ich will Ihnen etwas zeigen.«

Endstation Nordstadt

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