Читать книгу Endstation Nordstadt - Nicole Braun - Страница 18
12 Azrael
ОглавлениеIch hatte Latexhandschuhe übergezogen und eine Auswahl Glückwunschkarten vor mir auf dem Küchentisch ausgebreitet. Während der entkorkte Bordeaux atmete, grübelte ich, welches Motiv wohl geeignet war, um die Partie mit dem Anwalt zu eröffnen, und ließ die Ereignisse der letzten Stunden an mir vorüberziehen.
Ich hatte mich über ihn erkundigt. Vor über einem Jahr war er von einer netten Neubausiedlung in die Nordstadt gezogen. Das sprach Bände. Ich hatte mir angesehen, was er zurückgelassen hatte: Auf dem Klingelschild seines ehemaligen Hauses stand noch der Name »Petri«. Eine hochgewachsene blonde Frau hatte einen Volvo aus der Einfahrt gefahren, in den sie vorher zwei kleine Kinder gesetzt hatte, die dem Anwalt ähnlich sahen. Ich war gespannt, ob die drei in meinem Plan noch eine Rolle spielen würden.
Seine Kanzlei hatte der Anwalt ebenfalls verlegen müssen. Von einer angesehenen Adresse in der Wilhelmsstraße zog man nicht unterhalb des Königsplatzes, wenn man gehobene Mandantschaft beriet. Es musste einiges in seinem Leben schiefgelaufen sein, und jetzt wollte ich unbedingt wissen, was.
Ich hatte einen Parkplatz mit Blick auf seine Wohnungstür ergattert und wartete im Wagen auf seine Heimkehr. Wenn ich richtig lag, hatte er Scharpinskys Auftrag angenommen und die Hinterbliebenen der lieben Verstorbenen aufgesucht. Ob es ihn wohl überrascht hatte, im Fall von Ratstetter keine Witwe anzutreffen, sondern Gehrmann? Die beiden Männer erfüllten jedes Klischee eines homosexuellen Paares, und doch war es nicht allein Ratstetters promiskuitives Sexualleben, das ihm einen Platz auf meiner Liste gesichert hatte. Es war die schäbige Art, wie er seine Mutter abserviert hatte. Die Frau hatte große Stücke auf ihn gehalten, weiß der Teufel warum. Sie hatte ihm die Galerie finanziert und ihn bei Flauten immer wieder den Arsch gerettet. Und statt die betagte Dame zum Dank in einem angemessenen Alterswohnsitz unterzubringen, hatte Ratstetter sie in eines der miserabelsten Pflegeheime abgeschoben und sie seither kein einziges Mal besucht. Als sie ihm nicht mal einen Pfennig des Geldes, das er von Sharp erhalten hatte, wert gewesen war, war sein Todesurteil besiegelt gewesen.
Endlich hatte der Anwalt seine Rostlaube in eine Parkbucht in meiner Sichtweite gelenkt. Statt in seine Wohnung zu gehen, war er durch die Straßen gestreift und ich war ihm gefolgt. Er hatte fahrig gewirkt, häufig das Tempo gewechselt, sich immer wieder in die Manteltasche gegriffen, als wollte er sich vergewissern, dass ihr Inhalt noch da war. Als er kurz gestoppt hatte und dann in einer Spielhölle verschwunden war, hatte ich genug gesehen.
Ich goss mir von dem Bordeaux ein und ließ den Finger über die Karten wandern. Der kluge Spruch der Peanuts schien mir genau der richtige zu sein, um erste Verwirrung zu stiften und den Anwalt aus der Reserve zu locken. Nach dem, was ich über ihn zu wissen glaubte, schien mir das keine allzu große Herausforderung zu werden. Aber etwas sagte mir, dass ich mich in Bezug auf ihn auch irren konnte.