Читать книгу Sarah Boils Bluterbe - Nicole Laue` - Страница 51
Kapitel 4
ОглавлениеIch wählte erst die Vorwahl von Berlin, dann die Durchwahl. Das Klingeln schien endlos, meine Finger zitterten, ich hatte das Gefühl, der Hörer nahm pro Klingeln an Gewicht zu. Meine Arme wurden schwer und müde.
Mein Magen drehte sich und ich berechnete die genaue Geschwindigkeit, die ich bräuchte, bis ich im Notfall die Toilette erreichen würde. Ich beschloss das drückende Gefühl in meinem Inneren zu ignorieren. Vermutlich hätte ich es nicht einmal bis ins Bad geschafft, ohne den Schirmständer umzuschmeißen und mich in den Läufer, der im Flur lag, einzuwickeln.
„Boil!“
Ich rief aufgeregt und hektisch: „ Mom, bist du es? Oh Mom, ist das schön dich zu hören. Oh Gott Mom…“
Nach Atem ringend flüsterte ich leise: „ Mom…. Ich werde verrückt…ich… ich weis nicht mehr weiter.“
„ Kind, was ist denn nur passiert? “ fragte sie mit ihrer lieblichen und warmen Stimme, dass ich ihr am liebsten in diesem Moment um den Hals gefallen wäre und mich wie ein kleines Kind in ihrem Schoss verkrochen hätte.
„Mom, bitte lass mich erst aussprechen und bitte sag mir, ob ich verrückt bin!“ Ich holte noch einmal tief Luft.
„Ich habe diese Träume, und dieser Mann, du wirst es nicht glauben, ich meine… er sagte, du wüsstest es, wenn es soweit ist. Er kennt dich, er weiß, wer du bist. Und ich versteh das alles nicht. In meinen Träumen tauchen fremde Männer auf und es fühlt sich alles so real an. Aber dieser Kerl im Nadelstreifenanzug, der ist mir auch im Technicomarkt begegnet. Er hat diese stahlblauen Augen, eine unnatürliche Farbe und wenn ich diese Augen ansehe, dann dreht sich die Welt. Und nein, ich bin nicht verliebt in ihn. Ganz bestimmt nicht. Etwas anderes ist da. Oh Gott Mom, ich glaube ich werde gerade wahnsinnig. “
Nun kam der schwierige Teil. Wie sollte ich ihr erklären, dass dieser Typ behauptet, er sei ein Vampir und die Welt stehe vor einer Apokalypse? Sie würde vermutlich gleich die Jungs mit den weißen Jacken schicken und ich würde mich unter starken Beruhigungsmitteln in einer Psychiatrie wiederfinden. Ich war vollkommen wahnsinnig jemandem davon zu erzählen, also schluckte ich die nächsten Worte wieder runter und hielt meine Klappe.
„Ach Mom, ist schon gut…“
“Sprichst du von Lionel?“ Ihre Stimme klang besorgt.
Mein Atem stockte. Woher wusste sie von ihm? Sprach ich in diesem Moment wirklich mit ihr oder träumte ich auch das? Was war noch Realität und was war Illusion? Existierte ich überhaupt? Oder war ich die Fantasiegestalt und Erfindung eines Wahnsinnigen? Die Konturen meines Lebens verschwammen ins Unergründliche.
Ich stotterte: „ Was? Du kennst ihn? Woher kennst du Lionel? Was ist hier eigentlich los? Wieso weißt du davon?“
Meine Mutter schwieg einen Augenblick, unerträgliche, schmerzvolle Stille breitete umhüllte mich, wie ein schwerer Mantel aus Blei. Mit zaghafter und besorgter Stimme zugleich sagte sie: „ Sarah, ich hatte immer gehofft, dass es nie soweit kommen würde. Doch scheinbar waren alle Sicherheitsvorkehrungen die wir getroffen hatten, umsonst.“
Was für Vorkehrungen? Und was bedeutet wir?
Ich sah vor meinem geistigen Auge die Gestalt, die behauptet hatte, mein Vater zu sein und in mir brannte eine Frage wie glühende Kohlen, die plötzlich zu einer großen Flamme empor schossen: „Ist mein Vater wirklich bei einem Autounfall ums Leben gekommen?“
Tödliches Schweigen. Ich hörte sie kaum atmen. Die Spannung zwischen uns war unerträglich. Es dauerte eine Weile, bis sie endlich zu erzählen begann.
„Du erinnerst dich doch sicher, dass ich, bevor du geboren wurdest, in einer Bibliothek gearbeitet habe. Manchmal habe ich ganze Nächte dort verbracht. Ich liebte meine Arbeit und zuhause wartete niemand auf mich. Eines Nachts, ich hatte den letzten Bus verpasst, lief ich zum nächsten Taxistand, doch es war kein Wagen in Sicht. Die Straßen waren wie ausgestorben. Regen prasselte unaufhörlich auf den grauen Asphalt, es war dunkel und weit und breit war keine Menschenseele zu sehen.
Hinter einer Häuserwand trat plötzlich ein Gestalt hervor. Sie ging langsam auf mich zu. Die Umrisse eines jungen Mannes wurden deutlicher und ich dachte, er bräuchte in jener Nacht auch ein Taxi. So machte ich mir keine Gedanken über ihn. Doch eh ich mich versah, stand er dicht hinter mir, hielt er mir ein Messer an den Hals und drohte, er würde mir die Kehle aufschlitzen, wenn ich ihm nicht sofort mein Geld und meinen Schmuck geben würde.“
Sie stockte einen Moment. Ich schluckte schwer. Sie hatte mir nie davon erzählt. Zwischen Mitgefühl und Zerrissenheit um meiner selbst willen, bat ich sie fortzufahren. Es fiel ihr nicht leicht, ihre Stimme klang belegt und ich konnte durch das Telefon hören, dass sie mit den Tränen rang. Als sie jedoch von einem weiteren Fremden berichtete, wurde ihre Stimme wieder klarer und Euphorie machte sich bemerkbar.
„Ein zweiter Mann tauchte aus dem Nichts auf, wie ein Schatten, plötzlich war er da. In Windeseile packte er meinen Angreifer und schlug ihm das Messer aus der Hand und verscheuchte ihn mit einem Faustschlag ins Gesicht. Ich weiß noch genau, wie schnell mein Herz vor Angst schlug, denn der Angreifer flog meterweit durch die Luft. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Mein Retter stand vor mir und blickte mich einfach nur an. Er hatte eine wundervolle beruhigende Stimme. Und in seiner Nähe fühlte ich mich unerklärlich sicher, als würde ich ihn schon ewig kennen, als hätte es ihn schon immer in meinem Leben gegeben. Schließlich brachte er mich dann nach Hause. Die Tage danach tauchte er immer mal wieder in der Bibliothek auf und sah nach mir, fragte, ob es mir gut gehen würde. Eines Abends lud er mich zum Essen ein.“
Ich hörte aufmerksam zu. Meine Mutter hatte um meinen Vater immer ein großes Geheimnis gemacht. Jedes Mal, wenn ich sie nach ihm gefragt hatte, glänzten ihre Augen und ihre Stimme versagte. Ich dachte immer, auf Grund des Unfalls säße der Schmerz zu tief, irgendwann als ich alt genug war, um zu verstehen, fragte ich nicht mehr. Heute war der Moment der Wahrheit und ich verschlang mit den Ohren jedes ihrer Worte. Saugte es regelrecht in mich auf. Die Laute ihrer Worte klangen unerwartet euphorisch, fast schon eine Spur zu hektisch.
„Und dann verliebten wir uns. Wir konnten beide nichts dagegen tun. Wenn er mich ansah, dann gab es nur noch ihn und mich. Er war so unglaublich attraktiv. Was seine strahlende Schönheit ausmachte, waren seine markanten Gesichtszüge und seine blauen, wunderschönen Augen. Du hast deine übrigens von ihm geerbt.“
Ich lächelte. Ja. Ich hatte ihn im Traum gesehen, er war wirklich ansehnlich. Mein Vater! Und ich sagte: „Ja, er war attraktiv und groß und schlank. Und sein Gesicht sieht aus, wie gemalt.“
„Woher weißt du das? Ich habe dir nie von ihm erzählt?“
Die Stimme meiner Mutter wurde plötzlich unruhig und hart. Die vorhergegangene Sanftheit war von einem Moment auf den anderen verschwunden.
„Ich habe ihn gesehen, in meinem Traum…“ flüsterte ich.
„ Oh mein Gott, dann ist es also doch geschehen. Dein Vater hat mich vor diesem Tag gewarnt. Sarah, ich muss dir etwas erzählen und es wird nicht leicht für dich sein. Doch du musst mir jetzt ganz genau zuhören.“
Ihre Stimme zitterte. Gleichzeitig bäumte sich in mir ein Gefühl von Machtlosigkeit auf.
„Mom…“ was ist hier los? Was geschieht mit mir?“ fragte ich verzweifelt.
Bedacht fuhr sie fort: „Dein Vater und ich, wie erkläre ich dir das jetzt? Am besten einfach gerade heraus. Als dein Vater und ich uns näher kamen, fand ich schnell heraus, dass er anders war, als alle Männer, die mir je begegnet sind. In einer stillen Stunde, bevor wir uns allerdings zu nah kamen, gestand er mir, dass er viele hundert Jahre alt sei. Einen `Wärter der Stadt` nannte er sich. Er erzählte mir, dass all die Geschichten über Vampire und Mythen einen realen Ursprung hätten. Und dass er noch einer der wenigen Vampire sei, die es auf Erden gebe. Vor vielen hundert Jahren gab es unzählige dämonische Wesen hier auf unserem Planeten, doch die rumänischen Hexen hatten das Tor in die leere Dimension gefunden, es geöffnet und die meisten Vampire dorthin verbannt. Nur wenigen ist es gelungen, ihrem magischen Ritual zu entkommen. Darunter war auch dein Vater.“
„Ich träume das Ganze doch gerade, oder?“
Das alles war nicht real. Konnte nicht real sein. Ich verwechselte die Realität mit meinen Träumen. Ich hatte zu viele Filme gesehen, zu viele Bücher gelesen. Mein Geist schien dem nicht mehr gewachsen zu sein und vermischte Traum und Realität zu einem kranken Hirngespinst. Die Stimme meiner Mutter klang jedoch ziemlich lebendig.
„Nein, es tut mir leid, das alles ist kein böser Traum, eher ein realer Albtraum. Ich weiß, es ist alles sehr schwer für dich. Du hättest dich besser ins Auto gesetzt und wärst zu mir gekommen.“
Ich schloss die Augen und sagte leise: „Nein, das hätte nichts geändert….“
„Lass mich dir noch den Rest erzählen. Die letzten Nachtjäger, die nicht verbannt werden konnten, da die Macht der Hexen nur begrenzt war, flohen und versteckten sich, soweit es ihnen möglich war, und beendeten die Jagd nach menschlichem Blut. Um ihre Spezies zu schützen, ernährten sie sich von dem Tag an ausschließlich von Wild aus den Wäldern, von Ratten aus der Kanalisation oder sie stahlen das Vieh der Bauern. Im Laufe der Jahrhunderte schien sich ihre DNA auf seltsame Weise zu verändern. Sie passten sich den Umständen an, vertrugen bis zu einem gewissen Maße Sonnenlicht. Konnten sogar normale Nahrung zu sich nehmen. Die Evolution schien ihres dazuzutun. So kehrten sie zurück unter die menschliche Bevölkerung und fielen nicht mehr auf. Sie sahen menschlich aus, sie bewegten sich wie Menschen und lebten wie ganz normale Menschen. Ihr Wesen hatte sich jedoch nie verändert. Sie waren und sind Vampire, Gestalten der Nacht. Blutsauger und Bestien.“
Geschockt und immer noch ungläubig hatte ich ihre Worte vernommen. Ich konnte jedoch kein Wort von dem, was sie erzählte, glauben.
„Mein Vater soll ein Vampir gewesen sein? Das ist doch lächerlich. Warum erzählst du mir so einen Blödsinn?“
Ihre Stimme klang plötzlich sehr ernst, jegliche warmherzige Gefühlsregung war verschwunden. Dominierend, fast schon eine Spur zu laut, antwortete sie in einem strengen Ton, der mir fremd war: „Es tut mir leid, und ich kann dich verstehen. Aber du musst dich damit abfinden, dass nichts ist, wie es scheint.“
Ich schluckte: „Das hat Großvater immer gesagt. Wusste er es auch?“
„Ja, er wusste es. Allerdings erst später, als ich schwanger war. Er erfuhr es durch einen dummen Zufall. Dein Großvater wollte einen alten Wohnzimmerschrank abbauen, dabei ist die vordere Front ins Wanken geraten und auf ihn gefallen. Er wurde regelrecht unter dem schweren Holz begraben. Dein Vater war wie ein Schatten blitzschnell zur Stelle und hat sofort den Schrank gepackt und in die Höhe gehoben. Christopher hatte wahnsinnige Kräfte. Als dein Großvater das bemerkte, mussten wir es ihm erklären. Aber er vertraute deinem Vater. Sarah, dein Vater war anders. Nachdem er mir begegnet war, veränderte sich sein Wesen zunehmend. Er hatte mich, einen Menschen, gegen seine Natur gerettet, irgendwie muss er in dem Moment einen Teil seiner Seele zurück bekommen haben. Wir wussten damals alle nicht, wieso und warum die Dinge so geschehen waren. Wir haben uns einfach damit abgefunden. Ich war jung, ich war verliebt und blind. Ich habe nicht die Gefahr gesehen, die auf mich zukommen könnte. Als ich dann unerwartet schwanger war, konnten wir es anfangs erst gar nicht glauben.“
„Du hast dich von einem Toten …“ ich sprach nicht weiter. Die Beleidigung, die mir auf der Zunge lag, war aus meinem Empfinden heraus geboren, ich hatte kein Recht, meine Mutter derart zu verletzen. Abgesehen davon, dass ich dabei entstanden war. Also startete ich einen zweiten Versuch. Fast schon leise, ja weinerlich fragte ich; „Du hast ein Kind von einem Toten bekommen, mich, wie geht das? Und wieso bin ich dann ein Mensch? Ich bin doch ein Mensch, oder?“