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Kapitel 5

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Ich weiß nicht mehr, wie lange ich mein Spiegelbild angestarrt haben musste, jegliches Zeitgefühl war mir entwichen. Irgendwann nahm ich irgendwo in der Ferne die Kirchenglocken wahr, wankte aus dem Badezimmer, stolperte über den Läufer und tapste unbeholfen durch die Wohnung. Was sollte ich tun? Wohin sollte ich gehen? Auf den Schuhschrank im Flur zusteuernd, jagten meine Gedanken wie eine Rakete der NASA nach dem Countdown, durch meine Gehirnwindungen. Ich musste raus. Die Wände erdrückten mich, sie kamen bedrohlich näher, als wollten sie mich mit einem Atemzug verschlingen. Ich griff nach meinen Laufschuhen. Sauerstoff war jetzt meine einzige Rettung. Ich stürmte wie eine wild gewordene Tarantel aus der Wohnung und lief ziellos durch die Straßen von Nippes. Die Sonne ging unter wie immer. Der Abend brach herein. Die Gesichter der Menschen auf der Straße wirkten müde und abgespannt. Die Luft stank nach Autoabgasen. Irgendwo bellte ein Hund, die Sirene eines Polizeiautos ertönte. Die Kulisse einer typischen Großstadt. Nie zuvor war mir bewusst aufgefallen, in welcher Hektik ich eigentlich lebte. Das Quietschen näher kommenden Autoreifen und das laute Tönen einer Hupe riss mich aus meinen Gedanken und ich realisierte in diesem Moment erst, wo ich mich befand. Mitten auf einer Kreuzung stehend, starrte ich entgeistert in einen alten, schäbigen, dunkelroten VW-Bus. Der Mann hinter dem Steuer fuchtelte wild gestikulierend mit den Armen. Seine dunklen Augenbrauen hüpften auf und ab und er tippte sich demonstrativ mit dem Finger immer wieder an seine runzlige Stirn. Ich löste mich aus der Erstarrung und sah mich um. Irgendwie musste ich die Orientierung verloren haben und war mitten auf die große Kreuzung, kurz vor der Zoobrücke, der Stadtautobahn gelaufen. Entschuldigend winkte ich ihm zu, lief zurück auf den Gehweg und verschwand schnellstens zwischen den Häusern. Ich lief weiter durch die Straßen von Nippes in Richtung Rhein, vorbei an den belebten Straßenbahnen, vorbei am Zoo, bis ich die Rheinpromenade erreichte. Hier sah alles so friedlich aus. Die Großstadt war wie immer. Nichts hatte sich wesentlich verändert. Nur ich war anders. So musste sich ein nicht endender Koma-Zustand anfühlen. Man sieht alles, hört alles und versteht dennoch nichts. Man kann sich nicht bemerkbar machen und man wird einfach nicht wach. Ich blickte in die Gesichter der wenigen Menschen, die mir entgegen kamen. Wie konnte ich mir jetzt noch sicher sein, ob da ein Mensch über die Straße ging? Oder ob dort an der Ecke ein Vampir stand? Obwohl meine Kleidung bereits durchgeschwitzt war, überkam mich eisige Kälte. Mein Puls schlug viel zu hoch. Dennoch lief ich weiter. Immer weiter, solange mich meine Füße tragen konnten. Endlich hatte ich den kleinen Wald am Rhein erreicht und lief parallel zum Fluss weiter. Die untergehende Sonne spiegelte sich schimmernd auf der Wasseroberfläche. Seichte Wellen erreichten das Ufer und verloren sich irgendwo zwischen Steinen und Sand. Es roch nach altem Fisch und Muscheln. Das leise Plätschern des Flusses beruhigte mich ein wenig. Alles war friedlich, nur in mir brannte die Hölle. Mein T-Shirt klebte nass an meinem Körper und der Puls ging immer noch viel zu schnell. Doch ich blieb nicht stehen.

Irgendwann erreichte ich die kleine Allee, die sich hinter der Mülheimer Brücke erschloss. Das Grün der Baumkronen bog sich über den Gehweg, wie ein großes Dach und verdeckte den Himmel. Die Dämmerung war düster hereingebrochen. Hier und da begegnete ich noch vereinzelt Fußgängern. Bis irgendwann niemand mehr zu sehen war. Ich bremste das Tempo und beugte mich nach vorne. Mit den Händen auf den Knien abgestützt, atmete ich tief durch. Ein schmerzhafter Stich, hatte mein Zwerchfell durchbohrt. Seitenstiche nahmen mir die Luft. Ich ging ganz langsam einen Bogen und kehrte über die Wiese zurück zum Wasser. Hier war der Rhein seicht. Ein kleiner Sandstrand zierte das Ufer inmitten einer lang gezogenen Bucht. Kiesel knirschten unter den Sohlen meiner Schuhe. Ein Stück weiter wucherte ein Baum, unförmig und verkrüppelt, krumm und schief ragte er seitlich über den Sand. In seinem Schatten musste jemand vor nicht allzu langer Zeit ein Lagerfeuer errichtet haben. Es war noch nicht ganz ausgebrannt. In einer Vertiefung im Sand lagen noch kleine Holzscheite und glühten vor sich hin. Ich ging in die Hocke und lehnte mich mit dem Rücken an den Stamm eines Baumes und blickte in den Abendhimmel. Am Firmament sah ich die ersten Sterne leuchten. Ich weiß nicht, wie lange ich einfach so da saß, die Zeit hatte aufgehört zu existieren. Das Klingeln meines Handys riss mich jäh in die Realität zurück. Ich wollte niemand hören und sehen. Ich wollte allein sein. Martins Name blinkte auf dem Display. Mir war nicht nach Konversation zumute, aber ich konnte ihn auch nicht einfach wegdrücken.

„Ja, Martin,“ und ich versuchte so ruhig wie möglich zu bleiben.

Er klang verwundert und enttäuscht. „Du bist nicht zuhause. Es ist schon spät. Wo steckst Du? Ist alles ok?“

„Joggen, ich bin joggen gegangen, ich komme aber bald Heim,“ mehr brachte ich nicht heraus, doch es entsprach gewissermaßen der Wahrheit. Ich hatte ihn nicht angelogen und das beruhigte mein schlechtes Gewissen. Er schien mit der Antwort zufrieden zu sein und erwähnte beiläufig, er wäre kraftlos und müde und würde dann schon mal baden gehen.

Sarah Boils Bluterbe

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