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Wenn ich an jenen Herbst und Winter in London denke, sehe ich den Innenraum des Strawberry vor mir. Einige wenige Bohlentische mit blank gescheuerten Bänken, hoch angebrachte Fenster, die nicht sehr viel Licht einließen, an der Längswand ein Kamin, Kannen und Krüge, die ganz hinten im Lokal an Haken hingen, Bierfässer. Das Schild über der Tür zeigte nicht viel mehr als einen roten Klecks umgeben von ein paar grünen Blättern, einige Stammgäste sprachen von dem Schild und dem Wirtshaus als Mother Swottle’s Nose, wobei sie auf die Inhaberin anspielten, die das Lokal mit harter Hand leitete. In der Tat zeichnete sich ihre Nase dadurch aus, dass sie etwas mehr gerötet war als der Rest ihres Gesichts, doch im Übrigen war es insbesondere Mutter Swottles Statur, die sofort ins Auge fiel.

Sie war eine stattliche Frau, beinahe ebenso breit wie hoch. Wie ein Spinnaker beulte sich ihre Schürze über dem gewaltigen Bauch und den enormen Hüften, ihr Mieder hatte sie über einem Paar melonengroßer Brüste verschnürt und aus den aufgekrempelten Ärmeln ragten ihre Unterarme wie zwei weiße Schinken. Immer hingen ein paar verschwitzte Haarsträhnen unter ihrem Kopftuch hervor und ihre Augen saßen so tief zwischen den Fettpolstern, dass man normalerweise nicht sehen konnte, welche Farbe sie hatten. Ihre Hände waren groß und schrundig, aber dennoch so pummelig wie bei einem Kind. Doch die Wucht, die in diesen Fäusten steckte, war Respekt einflößend. Ich habe mal mit angesehen, wie sie einen aufsässigen Betrunkenen zu Boden geschlagen hat, der das Wirtshaus nicht verlassen wollte, als sie es von ihm verlangte. Keinerlei Umstände, nur eine klare Rechte aufs Kinn und bei dem Burschen ging das Licht aus. Seine Kameraden mussten ihn raustragen.

Henry Swottle, ihr Mann und eigentlicher Inhaber des Lokals, war einen Kopf kleiner als sie, ausgemergelt, trocken und zerrupft wie ein abgepulter Tannenzapfen. Gewöhnlich saß er am hintersten Tisch und rauchte Pfeife – an diesem Tisch herrschte ein ständiges Kommen und Gehen von Gästen, man tauschte Gerüchte und Klatsch aus, und wenn es etwas besonders Interessantes zu hören gab, rief Swottle seine Frau dazu, immer mit denselben Worten: »Bessie, komm und küss mich!« Und sie gab ihm einen kleinen Schmatz auf die Wange, der ihn zum Lächeln brachte. Dann wurde erzählt. Eine besondere Attraktion war es, Mutter Swottle zum Lachen zu bringen. Erzählte ein Gast etwas Komisches, brach sie in ein verblüffendes Jungmädchenlachen aus, klar und deutlich und in einer Lautstärke, die die Tabaksschwaden zum Beben brachte. Ihr Lachen war derart ansteckend, dass das ganze Wirtshaus mitlachte, ohne zu wissen, worum es bei dem Spaß eigentlich ging.

Es war an einem der ersten Tage nach meiner Ankunft in London, als mir die imponierende Bessie Swottle und ein junger Mann mit hellen Locken vor dem Wirtshaus auffielen. Ich hatte die Brücke überquert, war um ein paar Ecken in Southwark gebogen und blieb unwillkürlich stehen beim Anblick dieser gewaltigen Frau und des lockigen Jünglings, die gerade Bierfässer von einem Brauereiwagen luden. Das Hemd des Mannes war schweißnass und klebte an ihm, man sah, dass er einen Oberkörper wie ein griechischer Gott hatte. Mutter Swottle war zweifellos sein exaktes Gegenteil. Es dauerte nicht lange, bis sie entdeckte, dass ich sie beobachtete. »Was glotzt du denn so?«, schrie sie mir zu. »Hilf ihm lieber. Das hier ist keine Frauenarbeit.« Dann ging sie mit dröhnenden Schritten ins Wirtshaus und der junge Mann schaute mich mit hellbraunen Hundeaugen Hilfe suchend an.

Ich half ihm. Er reichte mir die schweren Fässer von der Ladefläche, ich nahm sie entgegen und stellte sie senkrecht auf das schmutzige Pflaster. Als wir fünfzehn, sechzehn Fässer abgeladen hatten, schnürte er ein Seil um die restlichen Fässer auf dem Wagen und sprang herunter; und der Kutscher, der die ganze Zeit teilnahmslos und zusammengesunken auf dem Bock gesessen hatte, weckte die ebenso apathischen Pferde mit einem Schlag auf die Zügel und rumpelte weiter zu der nächsten Kneipe. Der junge Mann fing an, die Fässer ins Strawberry zu rollen, und ich tat es ihm nach. Als wir sie an der Rückwand aufgestapelt hatten, bekam ich wie erhofft eine kleine Mahlzeit und einen Krug Bier für meine Mühe. Wir saßen am hintersten Tisch – Swottle war nicht da, ihn lernte ich erst später kennen – und Bessie stellte Hering, Schnittlauch und Bier auf den Tisch und fragte nach meinem Namen. John, antwortete ich nur. »Und das ist Mop«, sagte sie und tätschelte dem griechischen Gott übers Haar. »Er ist unser guter Junge.« Dann segelte sie mit geblähtem Spinnaker in den Hinterhof.

Mop schaute mich an und grinste. »Sie ist gut zu mir«, sagte er mit einer seltsam näselnden Stimme, und plötzlich verstand ich den Ausdruck seiner Augen. Er war ein fünfjähriges Kind in dem muskulösen Körper eines erwachsenen Mannes. Ich wusste in diesem Moment nicht, wie ich mit ihm umgehen sollte, doch darüber hätte ich mir gar keine Gedanken machen müssen, denn Mop hatte ganz einfach Vertrauen zu mir gefasst und dabei blieb es. Ich habe nie erfahren, wie er ins Strawberry kam, ob er ein Verwandter oder möglicherweise sogar der Sohn des Ehepaars Swottle war – ihr Alter war kaum zu bestimmen, allerdings sah er keinem von beiden ähnlich. Vielleicht war er ja genauso wie ich, durch einen Zufall, aufgetaucht und hängen geblieben.

»Sie lässt mich das machen«, erklärte Mop.

»Was machen?«

»Mit dem Stöckchen.« Er nickte vielsagend mit dem Kopf. »Und wenn ich das mit einer anderen Frau mache, dann schneidet sie mir das Stöckchen mit einem Messer ab.«

Beinahe hätte ich mich am Hering verschluckt. Ich spülte mit einem Schluck dünnem, lauwarmem Ale nach.

»Und woher weiß sie, ob du’s mit einer anderen Frau machst?«, wollte ich wissen, als ich mich geräuspert hatte.

Mop lehnte sich mit kugelrunden Augen über den Tisch. »Sie hat’s mir erzählt. Sie kann es hinter ihrem Silberlöffel sehen.«

»Ihrem Silberlöffel?«

»Sie hat so einen«, sagte er mit geflüsterten Nachdruck, als würde das alles erklären.

The Strawberry wurde in diesen Monaten zu meiner Freistatt. Wenn ich ein bisschen Geld verdient hatte, konnte ich bezahlen, was ich trank, manchmal sogar meine Schulden; und wenn ich kein Geld hatte, bekam ich bei Mutter Swottle Kredit, half ein wenig beim Schleppen der Bierfässer oder hackte Brennholz. Fand ich keinen anderen Ort zum Schlafen, durfte ich in einem kleinen dreieckigen Verschlag unter dem Dach übernachten, direkt am Schornstein. War der Kamin richtig angefeuert, wurde es manchmal erstickend heiß – es war allerdings besser, als zu frieren –, und bisweilen musste ich die dreckigen Säcke auf dem Boden mit einem anderen notleidenden Freund des Hauses teilen. Aber ich kam niemals vergebens dorthin.

So gut wie jeden Tag begab ich mich auf die Suche nach Arbeit. Die wenigen Pence, die ich in die Stadt mitgebracht hatte, reichten nicht lang, nur hatte ich nichts anderes anzubieten als meine Muskeln. Ich fragte Priester und ich fragte Diener, ob ihre Herrschaften nicht einen des Schreibens und Lesens kundigen Mann benötigten, aber ich hatte kein Glück. Ich beherrschte kein Handwerk, ich konnte nicht reiten, nicht einmal Pferde versorgen, ich fühlte mich wie ein vollkommen überflüssiges Produkt meines eigenen Jahrhunderts. Ich bekam eine Chance als Aushilfe in der Küche der venezianischen Botschaft, die plötzlich Leute brauchten, aber nach ein paar Stunden wurde ich gefeuert, weil ich die anderen Küchenhilfen behinderte und anrempelte. Die Arbeitsgänge in dem dunklen Raum mit der offenen Feuerstelle waren für mich einfach nicht durchschaubar. Einen Tag oder vielleicht auch mal eine ganze Woche hatte ich das Glück, Schiffe entladen zu dürfen, auf einem Bauplatz Steine oder Bretter zu einem Lager zu transportieren, Kornsäcke zu schleppen oder aus einem Weinkeller Fässer über eine Holzrampe zu rollen – es war harte und schlecht bezahlte Arbeit, die zusätzlich dadurch erschwert wurde, dass es überall Gilden, Zünfte, Vereinigungen und Cliquen zu geben schien, die Fremde von allem fernhielten, was nach einer festen Anstellung aussah. Die Buchhändler rund um St. Paul’s schauten misstrauisch auf meine dreckigen und aufgerissenen Hände, wenn ich sie fragte, ob sie einen Assistenten benötigten. Die Bootsmänner auf der Themse, die Passagiere hin- und herruderten, hatten in ihrer Verwandtschaft genügend eigene Leute. Sogar die Bettler achteten eifersüchtig auf ihre Plätze. Als ich ein einziges Mal aus Verzweiflung versuchte, mich an eine Hausmauer zu setzen und bettelnd die Hand auszustrecken, wurde ich von einem Invaliden, der neben mir hockte und plötzlich überraschend gesund und rüstig schien, regelrecht aus dem Weg getreten.

Die Stadt stank. Nach Pisse und Scheiße, nach Kohlenqualm und Brennholzmief, nach vergammeltem Abfall und Pferdeäpfeln. Das Pflaster war selten ganz trocken, nicht einmal, wenn die Sonne schien, denn Abwässer und undefinierbarer Dreck flossen in den Rinnsteinen und verteilten sich über die runden Rücken der Straßen – wenn das holprige Pflaster nicht ohnehin planlos eingesunken war und sich überall Pfützen und schlüpfrige Drecklachen bildeten. Wagen und Kutschen rollten vorüber, dazwischen zwängten sich Reiter: mal eine Standesperson zu Pferde, dann wieder ein reitender Bote. Fußgänger hielten sich meist an den Straßenrändern auf, bisweilen liefen sie in diesem chaotischen Verkehr aber auch quer über die Straße. Ich lernte die Straßen ziemlich gut kennen, denn ich durchstreifte sie beinahe täglich. Von anderen Tagelöhnern, die ich in den Docks oder auf den Bauplätzen traf, hörte ich Gerüchte, wo möglicherweise neue Arbeit zu finden war; und oft gingen wir mehrere Meilen, nur um herauszufinden, ob es stimmte.

Das größte Angebot gab es am Nordufer der Themse. Auf der Südseite hatte man noch nicht sonderlich viel gebaut, dort musste man nicht sehr weit laufen, bis man auf offene Felder mit grasenden Kühen stieß. Dennoch ging ich häufig auf die Südseite, nicht nur, weil The Strawberry dort lag, sondern auch, weil die Brücke einfach nicht aufhörte, mich zu faszinieren. Die einzige Brücke über den Fluss, London Bridge, mit ihren zwanzig Steinbögen, den massigen Strompfeilern und diesen unglaublichen Häusern, die man auf der eigentlichen Brücke gebaut hat – mit Anbauten und Lokushäuschen, die über dem Wasser hingen. Wenn man die Brücke überquerte, war es beinahe so, als ginge man durch eine Straße oder eine lang gezogene Torwölbung, denn vielfach waren die Häuser an den Giebeln zusammengebaut. Es gab nur wenige Stellen mit freier Sicht auf die Themse und in der Mitte hatte die Brücke eine Zugbrücke, damit größere Schiffe passieren konnten. Händler hatten kleine Buden aufgebaut, die Leute traten aus den Türen der Häuser direkt auf die Fahrbahn, und auf ein paar Stangen am Torgebäude des südlichen Endes der Brücke hatte man die Furcht einflößenden, geteerten Köpfe von enthaupteten Staatsfeinden gespießt.

Es kam vor, dass in Southwark Handlangerarbeiten gebraucht wurden. Einmal lud ich auf einem leeren Grundstück in der St. Tooley Street Bauholz ab, da ein Kaufmann sich dort ein dreigeschossiges Haus bauen wollte. Einige der Hölzer waren gebraucht, darunter einige schwere Eichenholzbalken, die rot bemalt und mit gelben Verzierungen versehen waren. Ich fragte den Zimmermeister, der neben mir stand, woher das Holz käme. Seine Gesellen nannten ihn heimlich »Beerless«, weil er nur Wasser trank und sich damit brüstete, dass ein hochgestellter Kunde ihn einmal den beispiellosen Baumeister genannt hatte, the peerless builder.

»Das da?«, fragte er. »Das ist vom Globe, diesem gottlosen Ort. Es wurde vor drei Jahren abgerissen, der Herr sei gepriesen. Aber das Holz ist noch gut.«

The Globe, Shakespeares Theater. Ich legte die Hand auf einen der roten Balken und dachte daran, was sie wohl erzählen würden, wenn sie reden könnten. Eine Ohrfeige des bier- und beispiellosen Baumeisters brachte mich allerdings rasch auf andere Gedanken. »Träumst du, du Köter!«, brüllte er. »An die Arbeit!«

Demütigungen. Kälte. Läuse. Häufig ein knurrender Magen. Erbärmliche Unterkünfte, aus denen ich mich einige Male nachts fortschleichen musste, weil ich sie nicht bezahlen konnte – der Dachboden im Strawberry war lediglich ein Nothafen, das hatte Mutter Swottle mir klar zu verstehen gegeben. Flöhe, die in meine Kleider zogen und dort ausharrten, selbst wenn ich meine Wäsche auf einem Hof in eiskaltem Wasser wusch und vor einem qualmenden Kamin trocknete, so dass ich am nächsten Tag roch wie ein Brandherd.

An guten Tagen war das Leben indes auszuhalten und ich lauschte ebenso begehrlich wie die anderen Tagelöhner dem Strom von Gerüchten und Neuigkeiten, von denen die Stadt die ganze Zeit schwirrte; nach und nach hatte ich mir ein Bild von der politischen Situation gemacht, die mir anfangs vollkommen unklar erschienen war. Das Parlament hatte die Macht, aber das Heer war nicht dessen gehorsames Werkzeug. König Karl, der den Kampf gegen das Parlament verloren hatte, hatte man in Hampton Court regelrecht gefangen gesetzt. Seine Anhänger organisierten sich im Westen – und auf dem Kontinent, wohin viele von ihnen geflüchtet waren. Der Bürgerkrieg war vorbei, doch manch einer war der Ansicht, dass er wieder aufflammen werde, wenn die Schotten ein Heer ausheben und gegen England marschieren würden. Und je größer die Bedrohung durch einen Krieg wurde und je länger das Parlament sich Zeit ließ, den unzufriedenen Soldaten ihren Sold zu zahlen, auf den sie seit Monaten warteten, desto größer war das Risiko, dass die militärischen Anführer die Macht in die eigenen Hände nahmen.

Im November überschlugen sich die Gerüchte, dass der König auf die Isle of Wight entkommen sei. Bald darauf wurde mehr bekannt: Seine Majestät war tatsächlich geflohen, aber der Kommandant der Burg Carisbrooke, die ihn hätte beherbergen sollen, hatte sich dem Parlament gegenüber als loyal erwiesen und den König verhaftet. Nun saß er dort. Einige amüsierten sich, andere bedauerten ihn, es gab sogar ein wenig Geschrei in den Straßen; aber das war nichts gegen die wütenden Unruhen, die am 25. Dezember in London begannen, weil das Parlament sämtliche traditionellen Weihnachtsscherze verboten hatte. Revolution oder nicht, gefeiert werden musste.

Meine beste Gerüchtebörse war und blieb jedoch der hinterste Tisch im Strawberry unter Swottles Nebelbänken aus Tabakrauch. Dort hörte ich auch eine Geschichte, bei der ich wirklich die Ohren spitzte. Ein Schreiber erzählte, dass man im Sommer bei Yarmouth einen Meermann aufgefischt hätte, der auf einem Kriegsschiff nach London gebracht worden sei. Vom Meeresgrund hätte er ein Wundermittel mitgebracht, das jegliche Schmerzen heilte, daher wurde er nun von Adligen, Geistlichen und den höchsten Führern von Heer und Parlament empfangen.

Der Meermann bin ich, dachte ich, und der Rest ist pure Erfindung. Es sollte mich lehren, nicht auf Gerüchte zu hören. So dachte ich damals.

Den Winter zu überstehen, war hart. Es schneite selten, aber es war fast schlimmer, wenn der schwere, kalte Regen meine Sachen durchweichte. Meine Strümpfe waren längst fadenscheinig und Pastor Strongworths Schuhe hielten sich kaum noch an meinen Füßen. Manchmal musste ich mir die Füße eine halbe Stunde und länger massieren, wenn ich unterwegs gewesen war.

Vielleicht ließ ich mich deshalb eines Abend von einem der Stammgäste im Strawberry überreden, ihm bei etwas zu helfen, das sich als widerwärtiger erwies, als ich gedacht hatte. Der Mann hatte einen schlechten Ruf, aber eine charmante Art. Er hieß Waring. Er kam zu mir, als ich einen Augenblick allein an meinem Tisch saß, und setzte sich mir gegenüber. Dann wies er mit den Augen auf einen Mann in einem Lederkoller und großen Stiefeln, der mit dem Rücken zu uns an einem anderen Tisch saß und seinen breiten Filzhut auf die Bank gelegt hatte. »Der da«, sagte Waring, »ist Leutnant und schuldet mir Geld, aber er will nicht bezahlen. Wenn du ihn hier rauslocken kannst, sobald ich gegangen bin, dann werde ich ihn draußen ein bisschen erschrecken. Sag ihm, was du willst, Hauptsache, du kommst mit ihm raus und dann rechts die Straße runter. Du bekommst fünf Schilling dafür.«

Fünf Schilling waren für mich der Lohn mehrerer Tage und ich schlug ein. Waring stahl sich hinaus, ohne dass der Leutnant ihn bemerkte, und ich setzte mich auf die Bank neben den Filzhut und hörte zunächst ein wenig zu. Der Leutnant erzählte von einer Wunde, die ihn bei schlechtem Wetter noch immer quälte, obwohl sie bereits seit langer Zeit verheilt sei. Das griff ich als Stichwort auf und begann, ihm von dem Meermann und seinem Wundermittel zu erzählen. »Ich weiß, wo er wohnt«, behauptete ich, »ich kenne ihn und kann ihn überreden, Euch etwas von seinem Elixier zu geben. Es ist ein wirklich mirakulöses Mittel, das kann ich beschwören.«

Der Leutnant hatte zunächst kein Interesse, doch dann biss er an. Wir standen auf und gingen hinaus, ich führte ihn nach rechts. Es war ziemlich dunkel und schon so spät, dass die Wirtshäuser ohnehin bald schlossen; ich sprach absichtlich laut, damit Waring uns kommen hörte.

Als wir an einer engen Gasse vorübergingen, sprang Waring plötzlich heraus und zog den Leutnant mit einem überrumpelnden Griff von hinten um den Hals mit sich. Ich hörte nur einige merkwürdig dumpfe Laute, eine Art Husten und das Geräusch eines Falls – und als ich mich umdrehte, sah ich den Leutnant in der Gasse auf dem Boden liegen; dunkles Blut strömte aus seinem durchgeschnittenen Hals. Waring hielt den zuckenden Körper fest, nahm ihm das Portemonnaie und den Degen ab und beugte sich dann über die Füße; er riss die Stiefel von dem sterbenden Mann und warf sie mir zu. »Nimm sie«, sagte er heiser, »du kannst sie gebrauchen, sie sind mehr wert als fünf Schilling.« Dann verschwand er am anderen Ende der Gasse.

Fassungslos blieb ich stehen, starr vor Schreck. Mitschuldig an einem Mord wegen eines Paars Stiefel – niemals würde ich die Füße hineinstecken können. Der Leutnant rührte sich nicht. Kalter Schweiß stand mir auf der Stirn, als ich strauchelnd in die entgegengesetzte Richtung davonstürzte, hinunter zum Fluss, zur Brücke, fort, fort, fort.

Waring zeigte sich in den nächsten Monaten nicht im Strawberry.

Als der Frühling kam, wurden die Tage natürlich länger und milder, aber der tägliche Kampf um die Arbeit noch schwieriger. Es hatte den Anschein, als ersticke die allgemeine Erwartung des Kriegs den größten Teil der Bautätigkeit und der Unternehmungslust bei den Leuten, die es sich leisten konnten, andere anzuheuern. Alle waren vorsichtig, wachsam und warteten ab. »Schlechte Zeiten«, war die Antwort, die ich nahezu überall zu hören bekam. Immer häufiger musste ich im Strawberry Zuflucht suchen. Mop freute sich jedes Mal, mich zu sehen, doch Mutter Swottle wurde zusehends unwilliger.

»John«, sagte sie eines Tages im April zu mir, »hier kannst du dich nicht länger herumtreiben, du wirst niemanden finden, der für dich bezahlt. Meld dich zum Heer, die bekommen bald wieder Geld, das Parlament kann auf sie nicht verzichten.«

»Meld dich lieber bei den Royalisten«, sagte Swottle mit einem bauernschlauen Gesichtsausdruck. »Der König kehrt bald zurück, dann ist es gut, auf seiner Seite zu stehen.«

»Das wird bei Gott nicht passieren!«, rief Bessie Swottle entrüstet. »Cromwell und Ireton sind viel zu stark für ihn, wart’s nur ab! Hast du nicht gerade gehört, wie sie die Lehrlinge und Lümmel abgewehrt haben, die Whitehall angreifen wollten? Sie haben die Reiterei geschickt. Zwei sind gestorben. Sie haben harte Fäuste, diese Herren. John, geh nach Whitehall und meld dich bei Oberst Barksteads Regiment, die haben Geld.«

»Ich kann nicht reiten.«

»Oberst Barksteads Regiment ist eine Infanterieeinheit, du Blödmann!«

Der Gedanke war neu für mich. Ich hatte keine Lust. Aber andererseits wusste ich nicht, wie ich mich weiterhin auf diese Weise durchschlagen sollte. Ich wusste, dass die Königstreuen schließlich den Sieg davontragen würden, doch bis dahin verging noch einige Zeit. Und das Parlamentsheer warb derzeit Leute an und hatte außerdem die Macht in London. Ich ging im Viertel spazieren und dachte nach. Ich hatte keinen besonderen Grund, eine Seite der anderen vorzuziehen, es ging darum, sich durchzulavieren und etwas zu finden, um seinen Lebensunterhalt zu sichern; außerdem vertraute ich Mutter Swottles politischem Instinkt mehr als dem ihres Mannes. Eine halbe Stunde ging ich immer wieder an denselben Fachwerkhäusern und stinkenden Toreinfahrten auf und ab, dann hatte ich einen Entschluss gefasst.

Vom Dachboden des Strawberry holte ich meinen kleinen Beutel mit der wenigen zusätzlichen Kleidung, die ich mir trotz allem beschafft hatte, und stieg die steile Treppe wieder hinunter. In der Schankstube sah ich, dass Mop wie ein gehorsamer Hund mit schräggelegtem Kopf dasaß, während Mutter Swottle prüfend auf die Rückseite eines blanken Silberlöffels starrte. Sie schaute mich an und hatte offensichtlich bemerkt, wie sehr mich dieser Anblick amüsierte, denn sie brach in ihr gellendes Jungmädchenlachen aus. Sämtliche Gäste des Wirtshauses lachten mit, ohne zu wissen warum.

Ich überquerte die Brücke und ging nach Westen, dann setzte ich meinen Weg über St. Paul’s und Ludgate Hill fort und lief an den großen Häusern und Gärten an The Strand und dem Kreuzmonument von Charing vorbei, bis ich Whitehall erreichte. Und die ganze Zeit hatte ich das Gefühl, dass dies meine bisher wichtigste Wanderung durch London war.

In einem der labyrinthischen Seitengebäude des Palastes gab mir ein Regimentsschreiber den Bescheid, am nächsten Morgen wiederzukommen. Leicht fröstelnd schlief ich unter einem Busch in der Nähe.

Am Morgen trat ich zusammen mit einigen weiteren potenziellen Rekruten vor einen Offizier. Er taxierte mich mit den Augen und fragte: »Was kannst du?«

»Nichts«, antwortete ich.

»Wir schätzen ehrliche Soldaten«, erklärte er sarkastisch und reichte mir eine fünf Meter lange Lanze, die ich unbeholfen in die Hand nahm. »Beide Hände«, befahl er. Dann trat er einen Schritt zurück, als ob er mich beurteilen wollte – und mit einer so raschen Bewegung, dass ich sie gerade noch registrieren konnte, zog er sein Schwert und holte aus. Als ich die Klinge aufblitzen sah, parierte ich instinktiv mit der Lanze und ging in die Knie.

»Du kannst etwas«, sagte der Offizier.

Als der Schreiber kurz darauf nach meinem Namen fragte, gab ich ihm dieselbe Erklärung, die ich die ganze Zeit in London benutzt hatte: Dass ich aus Norwegen käme und John Gammeldags hieße.

John Gambledays of Norway, hielt der Schreiber sorgfältig auf seinem Papier fest. Ich war rekrutiert.

Der Meermann

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