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ОглавлениеIch kann den Wachwechsel draußen vor der Tür hören. Die schweren Schritte, die kurzen, leisen Befehle. Die Stimmen tauschen Informationen in einem nicht ganz so kommandoartigen Ton aus. Tag und Nacht steht ein Soldat dort draußen – natürlich nicht, um mich zu beschützen, sondern um aufzupassen, dass ich nicht flüchte. Bestimmt gibt es auch noch einen Posten am Haupteingang, und unten im Garten habe ich hin und wieder einen Dragoner mit Rock und einem breitkrempigen Hut auf und ab gehen sehen; allerdings gibt es auch längere Zeiten, in denen offensichtlich niemand da ist. Es wäre nicht unmöglich, das Fenster mit einem Stuhl einzuschlagen, aus dem ersten Stock zu springen und sich einen Weg durch die Hecke zu bahnen.
Die Wahrheit ist allerdings, dass ich einfach nicht in der Lage bin zu fliehen. Mein Schicksal liegt in anderen Händen und dort soll es liegen bleiben. Ich schaffe es nicht, mich zu verstecken, Angst zu haben, unruhig zu schlafen, mich im Verborgenen aufzuhalten und ständig die Orte zu wechseln, bevor jemand entdeckt, wer ich bin. Die einzige Hoffnung wäre, an Bord eines ausländischen Schiffes zu kommen und England zu verlassen, aber ich habe nicht einen Penny bei mir, was die Sache nicht einfacher macht. Ich ertrage den Gedanken nicht.
Heute Nacht träumte ich, dass ich im Hafen ein Schiff mit dem Danebrog am Achtersteven fand. Es sah aus wie die Fregatte im Tivoli. Glücklich lief ich die Gangway hinauf und sagte zu den Matrosen: »Nehmt mich mit nach Hause, nach Dänemark!« Doch sie sahen mich misstrauisch an und der Kapitän – er trug eine moderne Tarnuniform mit goldbestickter Baseballkappe – kam von der Brücke und richtete seine Pistole auf mich. »Förrädare! Spion!«, zischte er und die Matrosen riefen Ähnliches. Zu meinem Entsetzen erkannte ich, dass sie alle Schwedisch sprachen. Dann wachte ich auf.
Thurloe blieb heute nicht so lange, er schien in Eile zu sein. Dennoch fragte er diesmal detailliert nach den Büchern, aus denen ich für Pastor Strongworth Abschriften anfertigen musste. Die Autoren, Titel, Themen … Leider waren mir die meisten entfallen, ich hatte mich ja darauf konzentriert, korrekt abzuschreiben, aber ich versicherte ihm, dass es sich ausschließlich um theologische Themen gehandelt hätte. Er setzte mich unter Druck, ich sollte versuchen, mich an Namen zu erinnern, und mir fiel ein Name ein, weil Strongworth ungewöhnlich viel von diesem Autor kopiert haben wollte: Jacobus Arminius. Thurloe reagierte mit einem Achselzucken und der Bemerkung: »Nicht überraschend.« Dann ließ er es gut sein und fiel zurück in seine sphinxartige, geduldig zuhörende Rolle.
Ich habe keine Ahnung, worum es in Arminius’ Schriften geht, aber als ich mich an den Namen erinnerte, konnte ich mich auch daran entsinnen, dass der braune Ledereinband des dicken Buches speckig war und ein wenig nach Pferd roch. Und dass die Pastorin sich am Vormittag des Tages, an dem ich mit dem Buch begann, an einem Rosenstrauch die Hand blutig gerissen hatte. Die merkwürdigsten Dinge tauchen auf, wenn ich die Erinnerungen heraufbeschwöre.
Das ist die einzige Aufgabe, die ich im Augenblick zu bewältigen vermag. Mich zu erinnern.