Читать книгу Der Meermann - Niels Brunse - Страница 7

4

Оглавление

Thurloe ist gerade gegangen. Wieder diese Mischung aus berechtigter Furcht über seine Entscheidungen und paradoxer Freude über seine Aufmerksamkeit. Er ließ mich erzählen, was ich wollte und wie ich wollte. Heute hatte er nur zwei Fragen: Was Hugh Peters zu diesem Zeitpunkt in Norfolk machte – ich konnte nur antworten, dass ich es nicht wüsste –, und ob ich Frau und Kinder gehabt hätte, dort, wo ich herkam.

Auf die letzte Frage antwortete ich kurz. Nein, ich hatte nur eine Freundin. Er fragte nicht weiter nach. Und ich verspürte keine Lust, ihm von der Sehnsucht nach Christine zu erzählen, die in den ersten Monaten in meiner neuen Welt an mir genagt hatte und immer stärker geworden war, je eintöniger der Alltag wurde. Die Sehnsucht war auch ein Grund, warum ich fort wollte, hin zu aufregenderen Erlebnissen, die mich an etwas anderes denken ließen. Hin und wieder versuche ich noch immer mir vorzustellen, wie es ihr wohl ergangen ist? Sicher bin ich als vermisst gemeldet worden. Vermisste sie mich? Wie sehr? Trauerte sie? Biss sie die Zähne zusammen? Bekam sie den Job im Ministerium, den sie sich gewünscht hatte? Hatte sie einen Mann gefunden, der mehr war als nur ein Wochenendliebhaber wie ich? Hatte sie Kinder? Oder war sie noch immer »aus Prinzip Single«, wie sie es nannte?

Es gab Nächte, in denen ich wach lag und mich im raschelnden Stroh drehte und wälzte, weil ich es niemals erfahren würde. Es gab Nächte, in denen mich die Sehnsucht nach ihrem Körper heftig onanieren und den Samen ins Stroh spritzen ließ, wo er zu undefinierbaren Flecken eintrocknete, die zusammen mit all dem anderen organischen Mist ohnehin ausgekehrt wurden. Es gab Nächte, in denen ich von ihr träumte, aufwachte und erschrak, wenn ich mich daran erinnerte, wo ich war.

Wäre unsere Beziehung anders gewesen, hätte die Sehnsucht nach Christine möglicherweise ein starkes Seil werden können, an dem ich mich ins einundzwanzigste Jahrhundert hätte zurückhangeln können. Aber das Seil hielt nicht, es zerriss, zerfiel, zerbröselte mir unter den Händen …

Die kühle Distanz und Vorläufigkeit, die unsere Beziehung ebenso vereinfachte wie versüßte (nimm nichts als gegeben hin, nimm alles wie etwas Neues), machte sie auch zerbrechlich, das wussten wir genau. Und wenn es überhaupt eine vernünftige physische Erklärung für mein Erlebnis gäbe, hätte mein Sehnsuchtsbild von Christine selbstverständlich nichts mit der theoretischen Möglichkeit meiner Rückkehr zu tun.

Diese Möglichkeit verwarf ich nach den ersten Tagen zwischen Euphorie und totaler Verwirrung im Grunde sofort. Wieso eigentlich? Wenn ich wirklich zurück wollte, wieso glaubte ich nicht weiterhin hartnäckig an diese Möglichkeit? Gefiel es mir besser, all das, was mein Leben ausgemacht hatte, im rosaroten Schein des sicheren Abstands zu sehen? Als ich aus der Nordsee gezogen wurde, war ich fünfunddreißig. Jetzt bin ich fünfundvierzig. Ich habe es noch immer nicht herausgefunden.

Allerdings habe ich keine Lust, all dies dem Staatssekretär John Thurloe zu erzählen, dem Spionagechef von Oliver Cromwell.

Ich kann ja verstehen, dass er mir Informationen über die politischen Akteure seiner Welt entlocken will. Wie Hugh Peters. Aber er lässt mich einfach reden und tut sogar so, als interessiere er sich für meine Welt, die sich nirgendwo mit seiner deckt. Frau und Kinder, wo ich herkomme? Nur sehr wenige haben mir diese Frage gestellt. Meg fragte danach. Laetitia fragte danach. Jurij fragte, natürlich. Sonst haben die Menschen mich eher als Kuriosum betrachtet, als einen interessanten Fremden, und sich mit dem Äußeren begnügt.

Thurloe reicht das Oberflächliche nicht, er will mehr wissen. Was genau?

Ich gehe an das Fenster mit den vielen kleinen Scheiben und den Sprossen aus Blei. Der Garten ist leer. Es muss sich um die Themse handeln, die dort draußen hinter der Hecke so breit dahinfließt. Und nach dem Stand der Sonne zu urteilen, befinde ich mich am Nordufer. Näher kann ich den Ort, an dem ich mich aufhalte, nicht lokalisieren.

Wieso dauert es so lange, bis sie ein Urteil über mich fällen?

Der Meermann

Подняться наверх