Читать книгу Meine Familie und ihr Henker - Niklas Frank - Страница 10
»ICH KLAGE NICHT, ICH WARTE«
ОглавлениеStatt sich schriftlich über seinen Verrat am Recht Gedanken zu machen, philosophiert er voll des Selbstmitleids weiter: Der Gefangene ist die Antithese Gottes: der der Freieste aller ist und daher ein Widerspruch zur Schöpfung. Die Gefangenschaft ist auch zu allen Zeiten nicht Gottes, sondern der Menschen Werk. Was die Feinde über uns noch alles verhängen werden, weiß ich nicht. Unschuldig, wie ich mich fühle und bin, sehe ich mit Gottes Trost allem entgegen. In Essen steht ein Denkmal, es ist den in den Ereignissen des Jahres 1923 gestorbenen Ruhrarbeitern gewidmet, darunter steht: »Deutschland! Wehe denen, die Dich lieben!«
Das ist es wohl.
Das ist es wohl bei ihm: Noch kein Prozess, noch keine vorgelegten Beweise für seine Verbrechen, aber schon das Endurteil gesprochen: Unschuldig, weil Deutschland liebend.
Meine Kleidung ist interessant und zeigt mir die ganze Gutmütigkeit mancher amerikanischen Männer, die um mich in diesen Monaten besorgt waren. Ich trage ein amerikanisches Soldatenjackett, eine amerik. Militärhose und feste deutsche Militärstiefel, an deren Stelle ich bei leichtem Sommerwetter ein Paar amerikanischer Militärschuhe mit Gummisohlen trage.
So wäre mein Leben schön und ruhig. Denn wer ist so umsorgt, so umwacht wie wir? Ich denke immer an den Fidelio Beethovens. Man ist entweder ein ganz schlimmer Verbrecher, oder man hat mächtige Feinde, das kommt auf dasselbe heraus.
Ich klage nicht. Ich harre und warte.
Und indem ich dieser Gedanken Fäden langsam durch mein Bewusstsein fließen lasse, bin ich ganz ruhig. Wie in Gottes Schoß geborgen. Glaubst Du an Gott: Wohl denn. Er wird Dir plötzlich zum Zimmergenossen! So vertraut bist Du ihm! So direkt körperlich nah, wie einem guten Freunde, der bestimmt alles für Dich tun wird, und Du ertappst Dich bei Ahnungen seiner Gegenwart von solcher Intensität, dass die Wände gefallen scheinen.
Mit Gott durch die Wand! Den hat er aus Mondorf mit in seine Nürnberger Zelle überführt. Er wird neben »Schicksal« zum zweiten Schuld-Tilger berufen.
Gott und Schicksal anstatt sich zu fragen: Was habe ich wirklich getan? Und warum, um Gotteswillen?
Norman, mein ältester Bruder, sagte zu Vaters wachsender Religiosität: »Der suchte nach Hitlers Selbstmord einfach einen neuen Gott.«
Fühle ich mich in seine Zellensituation hinein, kann ich es nachvollziehen: Wen gibt es noch, der dich nicht sofort schuldig spricht? Da bleibt ja nur der liebe Gott, wenn du dich dir selbst nicht stellen willst!
Vergeblich beschwört er beim Weiterschreiben: Man lernt sich kennen, nur in der Gefangenschaft. Gibt aber sofort auf: Im Grunde begreift man nichts um einem, und Unwirklichkeit, unfassbare Traumverzerrung, scheint die Wirklichkeit der Gefangenschaft zu sein. Und dann ist all’ dies Wähnen und Denken weg. Und es kommt das Sinnen über Deine Kinder, Dein Zuhause, Deine Jugend, Deine Lebensentwicklung – und dann bist Du ein kleiner, weinender Mensch, müde, nervös, abgespannt, verzerrt und gejagt – und Du rollst Dich in einem Elendspfuhl und rufst um Schlaf, den gnadenreichen Unterbrecher des Bewusstseins, die Erlösung, die Erholung – ja, so ist es. Die einsame Kreatur kniet vor Gott im Staub.
Auch diesen Elendspfuhl kann ich nachfühlen. Ich habe mehrmals im Nürnberger Gefängnis eine Zelle besucht, die der seinen völlig gleich ist. Der Original Trakt, in dem die Nazi-Verbrecher einsaßen, war bald nach Prozessende abgerissen worden, doch die baugleichen anderen Flügel bestehen bis heute. In dieser Zelle zu stehen, zu sitzen, sich hineinzuversetzen in meines Vaters Einsamkeit, ließ auch dort wieder die Wut in mir aufsteigen: Warum hat er da mitgemacht? Er wusste, dass er ein Verbrechen ums andere mit angeschoben hat! Dass er Sätze wie diesen plärrte: »Mit den Juden, das will ich Ihnen ganz deutlich sagen, muss so oder so Schluss gemacht werden.« Oder: »Wenn ich für je sieben Polen, die ich erschießen lasse, Plakate kleben ließe – die Wälder Polens würden nicht ausreichen, um all das Papier herzustellen.«
Er unterdrückte, was schmerzhaft, aber richtig gewesen wäre: Selbsterforschung. Stattdessen schreibt er weiter: Am 4. Mai abends wurde ich in der Geschäftsstelle meines letzten Amtes in Neuhaus am Schliersee in Oberbayern von den Amerikanern verhaftet. Meine Familie befand sich in unserem Schoberhof, der in Fischhausen am Schliersee, kaum 2 km von der Dienststelle meiner Abführung entfernt, ist. Ich war, seit ich von Krakau am 17. Januar 1945 weggefahren war, meist bei meiner Familie gewesen, und noch am Nachmittag hatte ich etwas Brot auf dem Fahrrad zum Schoberhof gefahren.
Was für ein erstaunlicher Lügenbold offenbart sich da mal wieder. Mitnichten hatte er bei uns gewohnt! Für wen schreibt er denn seine Gedanken und Erlebnisse nieder? Vermutlich doch für ein geneigtes Publikum.
Nur manchmal tauchte er bei uns im Schoberhof auf. Sehnlichst erwartet von den vier Kindern. Ich, das fünfte und jüngste, kann mich aus dieser Zeit vor seiner Verhaftung nur daran erinnern, dass ich ohne Anlass in unserer Halle, früher war’s der Kuhstall des Schoberbauern, von einer Kommode seine Lesebrille genommen und beide Bügel nach außen gebrochen habe. Dabei lugte ich von unten zu ihm hoch. Noch heute sehe ich sein entsetztes Gesicht, denn selbst für ihn, den Nazi-Bonzen, war es in dieser Endzeit des Reichs schwer, eine Brille repariert zu bekommen. Er gab mir eine Ohrfeige. Die tat nicht weh. Er war eh sehr unsportlich. Von richtiger Hebelwirkung wusste er nichts.
In jener Zeit, als er starr auf seine Verhaftung wartet, hin und wieder seine Lilly in Bad Aibling besucht, telefonieren Brigitte und Hans allenfalls oder giften einander offen und versteckt per Brief an. So empfindet Brigitte sicher klammheimliche Freude, als sie ihm dies zur Übergabe unseres Hundes schreibt: Lieber Hans! Durch Peter schicke ich Dir Tommi mit. Dort gibt es sicher eher für ihn eine Fütterungsmöglichkeit. Außerdem ist gestern Götz wieder zu Norman gekommen, der rührend an ihm hängt. Beide Hunde vertragen sich nicht. Wir können sie wirklich nicht noch füttern.
Es war eben ohne den gewohnten köstlichen Nachschub aus dem Generalgouvernement schwierig geworden, die eigene Brut zu nähren – geschweige denn obendrein noch einen Hund!
Der Herr Generalgouverneur hatte plötzlich in seiner Dienststelle einen Köter!
Früher waren es der gepanzerte Mercedes, seine Adjutanten, Staatssekretäre, Geliebten, die polnische Gräfin, die nackt vor ihm tanzen durfte, und jetzt nur noch dieses Hundsviech!
Endlich bist du auf den Hund gekommen, wird sich Mutter bei ihrer fellsinnigen Übersendung gedacht haben.
Ich freue mich noch heute darüber.
Er schreibt weiter in seiner Zelle: In der allgemeinen Aufregung und Unruhe hatte ich mich noch allein in mein Arbeitszimmer in der Höhe des Schoberhofs begeben und in Vorahnung des Kommenden – denn der Einmarsch der Amerikaner in das Schlierseetal stand unmittelbar bevor – Abschied, ja Abschied fürs Leben von all’ dem dort Vorhandenen, für mich so werten und würdigen Gut genommen. Da saß ich oben in meinem Speicherstübchen gegenüber dem Harmonium, schaute über den Fauststuhl und den langen in Mitten des Raumes stehenden Schreibtisch auf das Fischhauser Kirchlein hinaus und ging dann feierlich meine Bücher ab. Meine Monacensia-Bavarica Sammlung vor allem. Welch ein Reich haben wir Deutschen nicht in über 1000 Jahren errichtet und immer wieder verloren. Was ist mit uns? Für die Politik nicht geschaffen, gewogen und zu leicht befunden. Und wieder einmal ein Reich dahin – für immer, wieder einmal alles an Einheit verloren, den Krieg verloren, die Ideenkraft verspielt, der Führer tot, das Heer dahin, die Städte zertrümmert, die Jugend dahingemordet. Grauenvoll zu denken und sich vorzustellen, was in der Seele wogt, nennt man vor sich nur Deutschland. So dachte ich und war des Lebens müde. Wozu weiterleben? Ich grüßte all’ die Erinnerungen meines Lebens in meinem Raum und ging dann noch zu Weib und den Kindern. Alles war sehr erregt, denn es schoss immer noch, und so begab ich mich ohne größeren Abschied gegen Abend zurück in das Diensthaus, um dort alles abzuschließen.
Seinem Weib steckte er damals – beobachtet von Norman – 5000 Reichsmark zu. »Wie einer Nutte!«, fügte Norman Jahrzehnte später bitter hinzu.
Warum hat er es nicht insgeheim ohne Zeugen übergeben? Kleine Rache für den übersandten Köter? Oder Rache für sein durch Brigitte verpfuschtes Liebesleben? Oder wollte er tatsächlich vor Norman den Eindruck erwecken, er bezahle eine Dirne? Denn Brigittes Affären waren auch ihm bekannt.
Norman hat unter dieser Geldübergabe sein Leben lang gelitten. Gegen 8 Uhr kamen noch Sigrid und Norman dorthin (in seine Dienststelle im Josefstal), blieben eine Weile und berichteten über den Einmarsch der Amerikaner. Die Kinder waren begeistert über Haltung und Verhalten, Auftreten und Ausrüstung der amerikanischen Soldaten. So plauderten wir, sie verabschiedeten sich und ich sagte noch, dass ich später nachkommen wollte.
Da geschah meine Verhaftung etwa eine Stunde später durch zwei Offiziere mit Auto, die offenbar überrascht waren mich überhaupt anzutreffen. Ich gab ihnen, was ich hatte an Waffen und derlei, machte sie auf die Kunstschätze und Akten aufmerksam. Da sagte der eine: ›Sie brauchen nicht viel mitnehmen an Kleidern, denn morgen kommen sie wieder hierher zurück. Sie brauchen auch heute nicht mehr zu Hause Abschied nehmen, denn das können Sie morgen tun!‹ Ich verließ mich darauf und fuhr mit.