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»RACHE FÜR UNSERE GRAUSAMKEITEN«

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Während sich ihr Vater die Zukunft genehm soff, machte seine älteste Tochter eine damals typische Reise durch ein zusammenbrechendes Reich. Am 3. Februar verfasst sie den für mich eindrucksvollsten Brief ihres Lebens, weil er nicht nur einen Blick in ihre – durch den Verlust ihrer großen Liebe, den Doktor, wie sie ihn im Brief nennt – verwundete Seele gibt, sondern auch die damaligen Zustände und Menschen glänzend beschreibt:

Meine liebe Mutti!

18 Tage habe ich nun auf der Eisenbahn zugebracht. Für Strecken von 100 km waren wir 3 Nächte und 2 Tage unterwegs. Wir hatten ein Öfchen im Abteil, und die nötigen Kohlen klauten wir uns dazu. Alle Fenster waren kaputt, und wir verbauten die Fensterhöhlen notdürftig mit Matratzen. Während der ganzen Fahrt kamen wir nicht aus den Mänteln, und Waschgelegenheiten konnten nur selten aufgetrieben werden. So wurden wir mit der Zeit die reinsten Mohren. Als wir endlich an unserem Bestimmungsort anlangten und eine ganze Nacht auf den zugigen Bahnsteigen als Gepäckwachen zugebracht hatten, stürzten wir dann sofort in die nächste Fabrik, um uns dort im Waschraum wieder halbwegs zu reinigen. Noch nie bereiteten mir heißes Wasser und Seife und anschließend frische Wäsche solche Freude und riefen in mir ein so wohliges leichtes Gefühl hervor, wie damals. Nach nochmaligen langen Warten konnten wir endlich todmüde unser Quartier beziehen, und nachdem wir unsere Strohsäcke gestopft hatten, schliefen wir – viel, mehr wollten wir schlafen, denn in dieser Nacht kamen unangemeldet Verwundete in unsere Schule, und wieder hieß es packen und zum Bahnhof marschieren. So geht es immer hin und her, und langsam rücken wir immer näher der Heimat. Von Vati erhielt ich einen Brief. Er ist glücklich in Seichau gelandet, und ich war so froh, dass es ihm gut geht. – Ach Mutti, ich bin so unglücklich! Vom Doktor habe ich noch keine Nachricht. Ich weiß gar nichts von ihm. Posen ist eingeschlossen. Die Stimme des Radiomannes ist mir furchtbar: »Die Besatzung Posens verteidigt heldenmütig!« Ach, liebe Mutti, ich bin so traurig, an nichts anderes kann ich mehr denken. Ich hab ihn ja so lieb! Überall hier ist Elend und Flucht – wie überhaupt nirgends etwas Tröstliches zu finden ist. Keine Arbeit haben wir. Immer nur rumsitzen und denken müssen. Ach ich möchte nur noch einmal seine liebe Stimme hören, aber ich weiß ja recht gut, dass auch, wenn ihm nichts passiert, zwischen uns alles aus ist. – Ich kann meine Kameradinnen nicht verstehen, während ich heulen könnte und verzweifle, nicht nur wegen meines persönlichen Kummers, so sitzen jene und lachen, rennen ins Kino und flirten mit Soldaten. Vielleicht wäre es besser, auch so zu sein wie sie, über einem letzten Rausch noch einmal das Leben in vollen Zügen zu genießen und die Gegenwart zu vergessen. Aber ich kann es nicht. Ich kann auch nicht mehr beten, was kann und darf Gott uns helfen. Eine sehr einstimmige Meinung herrscht hier über die Folgen und Ausmaße des jetzigen Krieges, besonders sehen alle darin die Rache für unsere Grausamkeiten den Juden gegenüber. Man wundert sich sehr. Sie rufen Heil Hitler!, hören gespannt die Hitlerreden, und die meisten von ihnen haben doch einen sehr klaren Blick. Vor einigen Tagen ging das Gerücht, wir würden alle auf Nimmerwiedersehen entlassen werden. Aber es stellte sich dann heraus, dass wir zum größten Teil gar nicht nach Hause fahren können, da die Russen zwischen uns und der Heimat stehen. Ich bin gar nicht weit von Seichau entfernt, aber ich darf nicht zu Vati fahren und möchte es auch nicht sehr gern. Ich könnte nicht mit Vati jetzt über Dinge sprechen, die mich nicht im Geringsten mehr interessieren. Mein einziges Ziel, auf das all meine Gedanken gerichtet sind, ist nur noch, den Doktor und Euch alle noch einmal gesund beisammen zu sehen und eine glückliche Zukunft vor Augen bei Euch sein zu können. Ich bin völlig verlaust und sehr erkältet. Aber das alles ist ja so nebensächlich.

Ich umarme und grüße Dich herzlich

Deine Sigrid

Der für mich erschreckendste Satz ist dieser: Eine sehr einstimmige Meinung herrscht hier über die Folgen und Ausmaße des jetzigen Krieges, besonders sehen alle darin die Rache für unsere Grausamkeiten den Juden gegenüber.

Da ist kein: Und stell Dir vor, Mutti, die sagen hier, wir hätten den Juden was angetan! Weißt Du davon was?

Nein, die Kenntnis wird vorausgesetzt – weil sie es alle wussten hierzulande! Erst nach der totalen Kapitulation am 8. Mai 1945 setzte die große Verdrängung ein, die bis heute unsere Psyche schlaucht und mich meinen Volksgenossen gegenüber sehr misstrauisch gemacht hat.

Schon einen Tag vor Sigrids Brief ist Hans Frank, aus Bad Aibling von seiner Lilly kommend, in Neuhaus am Schliersee eingetroffen und hat im Josefstal seine neue Dienststelle bezogen. Wo er auch wohnt. Brigitte erfährt es, auch wir Kinder wissen es. Ich kann mich allerdings nicht mehr daran erinnern. Gitti und Michel, 8 und 10 Jahre alt, leiden: Der Vater lebt in zwei Kilometer Entfernung und will uns nicht mal sehen!

Zunächst muss er dort für seine wohnliche Ausstattung sorgen. So schreibt sein Kunstbeauftragter Palézieux an einen Herrn Sylvester Hupfloher in München am 21. Februar 1945: Ich fordere Sie hiermit auf, folgende in Ihrer Verwaltung befindlichen Gegenstände aus dem Besitz des Herrn Generalgouverneurs jederzeit zur Abholung durch einen von ihm Ermächtigten bereitzuhalten.

Ein Radioapparat, italienisches Fabrikat

Eine Auto-Pelzdecke, gezeichnet H.F.

Ein Herrenfahrrad mit elektronischer Beleuchtung

Ein Damenfahrrad

Eine holzgeschnitzte Figur (Johannes)

Ein Kruzifix aus Metall

Ein Kraftfahrzeugbrief

Eine Kraftfahrzeugzulassung

Ein Kraftfahrzeugschein und

zwei Schlüssel von dem PKW I Ost 10. Außerdem den Schlüssel zur Reichsautobahn München-Sauerlach, den Sie seinerzeit gegen Quittung erhalten haben.

Das gibt’s doch nicht! Einen Schlüssel zur heutigen A 8! Was gäb’s heutzutage für endlose Warteschlangen! Vor allem, wenn der vor einem sagt: »Ich hab’ meinen Autobahnschlüssel vergessen – kann ich ganz dicht hinter Ihnen mit durchwitschen?«

Am gleichen Tag setzt sich Vater selbst hin und lässt wieder etwas aus einer inneren Kälte raus, das mich noch heute verletzt:

Liebe Mama!

Ich bin nunmehr nach Überwindung kolossaler Schwierigkeiten in Neuhaus bei Schliersee, Josefstalerstraße 12, Haus Bergfrieden, untergekommen und habe mir hier eine kleine Dienststelle errichtet. So ist also nun zurzeit das schöne Generalgouvernement mit allem dahin.

Ich bin fest überzeugt, dass wir den Ansturm der Russen überwinden werden und dass dann bald eine glücklichere Zeit kommt. Drum Kopf hoch und mit Vertrauen weitermarschiert.

Norman wird voraussichtlich in den nächsten Tagen einrücken. Er befindet sich zurzeit mit den anderen Kindern am Schoberhof. Dort herrscht dicke preußische Luft. Ich fahre heute Abend wieder einmal auf einige Tage nach Aibling zur alten Lilly, mit deren Mann ich zurzeit fast besser stehe wie mit ihr selbst. So komisch ist das Leben. Lilly ist ein lieber herziger Mensch und hat mich mit aller Güte und Fürsorge aufgenommen. Sie ist mir im Innersten aufs herzlichste verbunden. Aber Du weißt ja, sie hat es auch mit mir sehr schwer. Aber Rache muss sein, hätte sie mich vor 25 Jahren geheiratet, wäre alles gut, auch für sie.

Mutter bettelt für die gemeinsamen Kinder um einen Besuch, er will die dicke preußische Luft partout nicht inhalieren, lebt wieder Mal, wie Mutter ihm schon mehrmals vorgeworfen hatte, nur seinen Trieben. Wobei die sich jetzt mehr auf Lillys Ehemann zu richten scheinen. Der Arme hat sich von ihrem Nazi-Bonzen-Geliebten schon seit zwei Jahren mit seltenen Briefmarken bestechen lassen.

Bis zum 1. März wird er sich dort verlustieren. Bevor er sich nach Bad Aibling begibt, schreibt er am Abreisetag noch seinem Freund Othmar Schrott-Vorst, dem Bildhauer mit besten Kontakten zu den Nazi-Machthabern:

Lieber Othmar!

Ich selbst habe nunmehr nach dem schrecklichen Angriff der Russen gleichsam über Nacht Krakau und Kressendorf verloren. Ich habe nunmehr in Neuhaus bei Schliersee, Josefstalerstraße 12, Haus Bergfrieden, eine Ausweichstelle bezogen, wo ich meine Abschlussarbeiten vollführe. Du würdest, wenn Du einmal hierherkommen solltest, viele alte Bekannte von Krakau und Warschau wiedersehen. Meine Tochter Sigrid ist als Schwester des Roten Kreuzes in einem Kriegslazarett tätig. Norman, der mit 16 Jahren das wehrfähige Alter erreicht hat, wird in den nächsten Tagen einrücken. Den drei kleinen Kindern geht es gut, sie leben am Schoberhof, den Du ja kennst.

Mit freundlichsten Grüßen, in der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen, zumindest aber auf einen Brief von Dir, bin ich in alter Verbundenheit

stets Dein

Hans


Der Wawel – die Burg in Krakau, Hans Franks Dienstsitz.


Hans Franks Wochenend Schloss Kressendorf mit Hakenkreuzfahne.

Kein »leider« für Sigrid, keines für Norman, dafür hohe Worte für sich selbst. Er beendet nicht seine Abschlussarbeiten, nein, er vollführt sie.

Mit poetisch gespitzten Lippen reimt er an seinem »Bergfrieden« Schreibtisch zu Sigrids 18. Geburtstag am 17. März 1945:

Frühling 1945

von

Hans Frank

Die Blüten leuchten auch durch diese Zeit

Die Farben strahlen aus der Sonnenewigkeit –

Die Düfte linder Frühlingspracht erquicken Dich und mich

Im Glanze jungen Werdens schmückt unsere Erde sich.

Die Vögel kehren mit neuen Liedern zum frischen Grün

Und singen, was sie lernten an frohen Melodien

Sie zwitschern täglich süßer und bauen sich das Nest

Unmusikalisch knurrt Herr Winter. Hinschmilzt des Eises Rest.

Was soll doch all’ das Sprühen und Glühen der Natur?

Erscheint uns Armen aus dieser Not der Rettung Spur?

Ich will es nicht entscheiden. Gott weiß da besser Rat!

Er ist der Herr des Lebens, des Sterbens und aller Tat.

Er mag es füglich wenden, das Grauen seiner Welt

Die mitten in den jungen Tag das schwerste Elend gellt

Und doch. Und ja. Frag doch Dein Herz, oh frag!

Er kommt, er naht, der Gnaden großer Tag!

Ein Frühling soll dann werden, so frisch und neu,

Dass jeder hier auf Erden wie eine Blume sei –

Die tief verwurzelt in dem düstern Erdenschoss

Erlöst und glaubensfroh empor sich richtet schmerzenlos

Oh Mensch! Oh Kind! Die Schreckensnacht: Sie weicht!

Oh Mann! Oh Weib! Des Unheils Grauen: Es bleicht!

Erhebe Dich aus diesem Joch der tiefsten Qual

Wie eine Blüte Gottes demutsfroh zu seinem ewgen Lebensstrahl

Warum hatte er in den ersten beiden Strophen nicht so losgelegt:

Die Toten keuchen auch durch diese Zeit

Geschundne strahlen aus der Sonnenewigkeit –

Die Düfte vieler Öfen erquicken Dich und mich

Im Glanze unsres Mordens drückt unsere Erde sich.

Die Deutschen kehren mit neuen Lügen zum frischen Grün

Und singen, was sie lernten an falschen Melodien

Sie zwitschern täglich übler und bauen sich das Nest

Unmusikalisch knurrt die Wahrheit, Hinschmilzt der Juden Rest.

Und so weiter. Dass ich acht Tage zuvor sechs Jahre alt geworden war, hat ihn nicht mal zu so einem Gedichterl gereizt:

Mein gülden haariges Nikilein,

Das böse Brillentöterschwein,

Es wird nun sechse ganze Jahr,

Was sollte mich das kümmern gar?

Bin ich sein Vater – ich hoff’s nicht,

Dafür ist mir sein Hirn zu schlicht,

Nur seine Augen fürchte ich,

Am Ende gar durchschau’n sie mich!

Als Reichsminister bekam er noch immer täglich, wenn auch manchmal verspätet, eine ausländische Zeitung, in der er die Fortschritte der alliierten Armeen auf deutschem Boden verfolgen konnte. Vielleicht stand gerade an diesem Tag Neues über sein verlorenes »Reichsnebenland« drin, vielleicht gar etwas über die Vernichtungslager, für die er politisch verantwortlich gewesen war. Vielleicht war genau das der Anlass für seinen Ausbruch an kurzfristiger Ehrlichkeit gegenüber Lilly in einem Brief vom 28. März 1945: Dabei denke ich nur an das äußerliche der allgemeinen Situation, an der ich mein nicht wegdeutbares Teil grässlicher Schuld in mich täglich mehr quälender Weise aufsteigen spüre.

Einmal echt! Einmal sich geöffnet haben!

Meine Familie und ihr Henker

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