Читать книгу Meine Familie und ihr Henker - Niklas Frank - Страница 11
BRIGITTES VERRAT
ОглавлениеEs ist nicht so recht glaubhaft, dass die zwei Offiziere überrascht waren, als sie ihn in seiner »Außenstelle Generalgouvernement« antrafen, denn Jahrzehnte später meldete sich bei mir der Enkel von einem der beiden Offiziere und schilderte Wundersames: Sein Großvater und dessen Kollege hätten als Adresse des gesuchten »Schlächters von Polen« nur den Schoberhof gehabt. Also sind sie zunächst dort hingefahren und trafen eine »elegant angezogene Dame« an. Es war Brigitte Frank. Nach der höflichen Begrüßung fragten sie, ob denn ihr Gatte anwesend sei.
Mutter hatte eine Art – das lange Brotmesser sinnend und kalt lächelnd vor sich haltend –, an der Küchenanrichte zu lehnen, mich oder uns ermahnend oder scharf ausfragend, dass ich mir diese Pose auch bei ihrer Antwort wünsche. Sie hatte es in der Hand zu sagen: »Oh, das wüsste ich auch gerne! Ich weiß nur, dass er über Österreich nach Italien wollte. Das war schon im Februar. Bitte geben Sie mir Bescheid, wenn sie ihn finden!«
Sie hätte auch listig sagen können: »Folgen Sie der Spur des Hundes. Tommy heißt er.«
Nein, Brigitte muss diesen letzten Sieg über ihren Hans genossen haben und sagte: »Sie finden meinen Mann in seiner Dienststelle im Josefstal, im ›Café Bergfrieden.‹« Dann beschreibt sie noch genau den Weg dorthin.
Meine Mutter hat ihn tatsächlich verraten. So, wie mein Vater sie zuvor vielfach verraten hatte. Zum Beispiel, als er Hitler wissen ließ, er müsse sich von Brigitte scheiden lassen, weil sie überhaupt nicht nationalsozialistisch eingestellt sei und darum seiner nicht wert.
Die beiden Offiziere bedankten sich, bestiegen ihren Jeep, fuhren am »Café Bergfrieden« vor, stiegen aus, gingen in den großen Gastraum, wo sich die Runde der letzten Getreuen versammelt hatte, und einer der beiden fragte in die Runde: »Wer von Ihnen ist Frank?«
Das wiederum weiß ich von Helene Kraffczyk, seit 1939 treue Privatsekretärin meines Vaters und letzte Zwischendurch-mal-Geliebte. Sie wurde später als Zeugin für den Prozess verhaftet und hielt, im Gegensatz zu seiner großen Liebe Lilly, treu und liebestoll lügend zu ihm. Das beschreibt so auch Major Kelley, allerdings in schäbiger Macho-Manier: »Franks Sekretärin, ein ausgelaugtes, ältliches Frauenzimmer, das sich sehr bemühte, ihm bei seiner Verteidigung behilflich zu sein, behauptete mit großem Nachdruck, dass seine Ernennung in Polen keine Beförderung, sondern eher eine Degradierung bedeutete, die auf den Druck seiner Gegner in der Partei zurückzuführen war. Frank war zum Teil der gleichen Meinung. Um Hitlers Gunst in vollem Masse wiederzugewinnen, konzentrierte Frank in Polen seine ganze Energie auf die Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung.«
Sigrid und Brigitte Frank im Musikzimmer der Krakauer Burg.
Selbst nach der gemeinsamen Flucht aus Krakau, konnte Helene Kraffczyk nicht von Hans Frank lassen, schreibt ihm stattdessen am 2. Februar 1945 aus ihrem Heimatort Amberg den letzten Lobesbrief, den Hans Frank wohl erhalten hat:
Hochverehrter Herr Generalgouverneur!
Es ist mir heute noch nicht glaubhaft, dass das liebe Krakau, das Sie uns zur Heimat gemacht haben, nicht mehr unter Ihrer Führung ist. Aber das, was im Generalgouvernement durch Ihre Initiative aufgebaut, gearbeitet und geschaffen wurde, wird nicht nur in der Geschichte des deutschen, sondern auch des polnischen Volkes einen Höhepunkt bedeuten.
Die schönen Stunden, die ich bei Ihnen auf der Burg, oft in Ihrer unmittelbaren Umgebung, erleben durfte, werde ich bis ins Einzelne ewig im Gedächtnis behalten. Ich glaube, es gibt keinen Menschen mehr auf der Welt, der es so versteht, nicht nur alles Schöne so intensivst zu erleben, sondern auch allen Mitmenschen unvergessliche Feierstunden zu bereiten. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für alles das, was Sie im Laufe der Jahre in verschwenderischer Fülle in mich hineingelegt haben.
Der letzte Satz schweift schon stark ins Doppeldeutige ab, was mein Vater sicher voll Wollust als eindeutig auffasste: Prompt stellte er das erinnerungsselige Fräulein wieder ein, weil Helene in seinen Augen wohl als einzige sein segensreiches Wirken als Generalgouverneur erkannt hatte. Sie begab sich direkt ins Josefstal und dort in seine Arme.
Am 25. September 1946 wird er ihr in einem Brief für ihre Hingabe danken und noch einmal ein bisschen eitel darauf hinweisen, wie bedeutend seine innere Umwelt ist: Meine herbstlichen Gedanken sind klar wie goldener Wein und ich genieße die Abendstunden meines Lebens wie reife Früchte aus dem Wundergarten des Daseins. Und alle die guten großen Geister der herrlichen Jahrhunderte unseres Volkes sind um mich – oh, welch’ herrliche, unzerstörbaren Reichtümer haben wir gesammelt in Musik, Literatur und Weisheit: Bleiben Sie in diesem Reich, mein liebes Fräulein! Denn sehen Sie, dort werden Sie auch mich immer wieder treffen – wenn längst der Tag schwand.
Brigitte Frank mit ihren Kindern während des Prozesses, Frühjahr 1946.
Haarklein erzählte mir sein liebes Fräulein alles über Vaters Verhaftung, auch dass er trotz ihres Flehens freiwillig den Offizieren seine Diensttagebücher aus dem Generalgouvernement übergab. Dann erwähnte sie noch eine funktionierende vergoldete Pistole, die den beiden Offizieren als Andenken offenbar bestens gefiel: Im Gegensatz zu seinen geraubten Kunstschätzen und seinen Diensttagebüchern wird sie nirgends von den Amerikanern aufgezeichnet.
Als ich sie fragte: »Warum hat er sich denn mit dieser Pistole nicht erschossen?«, lächelte sie mich mit dieser nur Frauen eigenen Gabe eines trotz Liebe gnadenlosen Sezierens ihrer Partner an und antwortete: »Niklas, dazu war Ihr Vater zu feige.«
Eine Giftpille muss er als Top-Nazi auch gehabt haben – und er hatte einen Pass auf den Namen »Fischer«. Nichts hat er benutzt. Ja: Aus Feigheit.
Bepackt mit den rund 40 Bänden »Diensttagebuch«, fahren die beiden mit Hans Frank nach Tegernsee. Die dort stationierten Amisoldaten hatten kurz zuvor Dachau befreit und waren ob der deutschen Verbrechen geschockt. Als sie nun hören, der »Butcher of Poland« wird geliefert, bereiten sie ihm den traditionellen Spießrutenlauf, bei dem nur das Gesicht des zwischen zwei Reihen von Soldaten durch getriebenen Delinquenten nicht verletzt wird. Sie dreschen ihn dermaßen zusammen, dass er Stunden später seinen ersten Selbstmordversuch verübt.
Jetzt, in seiner Zelle, schreibt er nur: Was in Tegernsee geschah, verdecke ein gütiger Nebel.
Die Einzelheiten über den Spießrutenlauf erfuhr ich von seinem Anwalt Seidl.
Norman, der jahrzehntelang in Schliersee lebte, überhöhte unseres Vaters Fahrt nach Tegernsee zum Gang eines unschuldigen Jesus nach Golgatha. Mit der Zigarette in der Hand starrte er bis zu seinem Tod 2009 immer wieder auf die Straße hinunter, die unser Vater damals am 4. Mai im offenen Jeep entlanggefahren worden war.
Ach, meine guten, lieben Kinder! In was für ein Elend reißt Euch das Schicksal! Wenn ich so die frischen amerikanischen Soldaten sehe, denke ich an meine beiden Größten. Ach, möge doch endlich, endlich Friede auf der Welt werden und bleiben. Meine gute tapfere Frau hat nun alles zu tragen. Sie wird es.
Gott hülle Deinen Mantel um uns und gib uns die Fahrt ins Licht.
Amen!
Zum ersten Mal wieder Sehnsucht nach der Familie! Er bestätigt sie in seinem Brief vom 24. August 1945:
Meine herzliebste Brigitte!
Mir geht es gut. Aber die Sorge um Euch ist mein Kummer Tag und Nacht. Wie geht es Euch? Wo seid Ihr? Von was lebt Ihr? Ich sehne mich sehr nach Euch, und meine heißen Wünsche für Euch verlassen unausgesetzt meine Seele. Gewaltig ist das Schicksal, doch gewaltiger sind die Menschen, die es tragen. Es werden wir mit Gottes Hilfe alles schaffen. – Seid Ihr alle gesund?
Da ist es ja wieder, dieses Mal sogar gewaltig, das Schicksal!
Die heiß bewünschte Familie hatte inzwischen einiges erlebt. Erst wurde der Schoberhof von den endlich befreiten Zwangsarbeitern aus Polen und der Ukraine geplündert, amerikanische Soldaten machten fröhlich trunken mit. Noch heute sehe ich vor mir einen von ihnen, der, beladen mit einem Teil von Mutters Puppensammlung, den Gartenweg entlang zum Jeep schwankte. Dazwischen wurden Mutter und wir drei Jüngsten auf dem Hof unseres Hauses versammelt, weil uns ein gleichfalls vom guten Wein aus Vaters Keller beschwipster Soldat erschießen wollte. Er hatte aber nicht mit der Unerschrockenheit meiner Mutter gerechnet. Die kanzelte ihn eiskalt und laut, aber kein bisschen hysterisch, dermaßen ab, dass er erschrocken das Gewehr sinken ließ und von einem anderen, etwas nüchterneren Soldaten, weggeführt worden ist. Während Gitti und Michel neben der Mutter heulten, war ich seltsamerweise ruhig und dachte, dass der Ami mit dem Gewehr irgendwie Recht hatte, uns zu erschießen.
Natürlich klingt das unglaubhaft für einen damals 6-Jährigen. Ich hatte auch keine Ahnung, dass unser Vater ein Massenmörder war. Sicher auch noch keine rechte Vorstellung von Sterben und Tod. Vielleicht war es aber auch, dass ich den Grund erahnte: Wir sollten wegen Vati erschossen werden. Und dem hatte ich ja die Brille zerbrochen. Und er hatte mir eine Ohrfeige gegeben. Jetzt kann er dafür büßen, wenn er sieht, dass ich tot bin!
Wochen später verlangte ein Ami von meiner Mutter den Autoschlüssel, um uns den Maybach wegzunehmen. Mutter wehrte sich, wieder mit lauten Worten, wurde aber mit noch lauteren Worten im Befehlston ruhiggestellt. Ich ging mit dem Ami in unsere Garage und sah dann dieses wunderbare, verwunschene Dunkelgrün der Karosse dicht vor meinen Augen langsam an mir vorbeigleiten.
Geblieben war uns Mutters blaues Fahrrad. Das wollte ein polnischer Zwangsarbeiter vom Hof, wo es angelehnt stand, mitnehmen. Ich stand neben meiner Mutter in unserer Küche. Sie öffnete das Fenster, nahm wieder jenen Ton an, der zuvor den Ami am Schießen gehindert hatte, und erzielte den gleichen Erfolg. Als ob Mutter noch die volle Power einer mächtigen Frau Generalgouverneur hätte, lehnte der erschrockene Pole das Rad wieder brav an die Hauswand und ging.
Nachdem Mutter unsere Erschießung verhindert hatte und die Plünderung in vollem Gange war, eilte sie mit uns drei Kleinen ungefähr 300 Meter zu Frau von Langsdorf, direkt unten am Schliersee.
»Frau von Langsdorf, können wir über Nacht bei Ihnen bleiben? Der Schoberhof wird geplündert.«
»Ja, ich weiß. Meine ukrainische Magd plündert mit«, antwortete kühl die Ehefrau des ortsansässigen Arztes, der mir sechs Jahre später meinen Blinddarm entfernen und dabei eine 20 cm lange Narbe auf meinem Bauch hinterlassen wird, die Bruder Norman mir wenig hilfreich so erklärte: »Der Langsdorf braucht immer viel Platz, um einen winzigen Blinddarm zu finden.«
Jetzt allerdings überreichte Mutter dessen Gattin eine große, prall gefüllte Handtasche und bat sie, selbige für ein paar Wochen aufzubewahren. Frau von Langsdorf versprach es und sagte dann: »Frau Frank, Sie dürfen sich oben auf dem Speicher verstecken, müssen sich aber mit Ihren Kindern ganz ruhig verhalten, damit meine Ukrainerin nicht aufmerksam wird.«
Was für eine Umstülpung für die Herrenrasse! Eben noch oben auf, Vater stolz wie ein Goldfasan, dass er über eine Million Zwangsarbeiter ins Reich deportiert hatte, und jetzt diese Angst der Deutschen vor den eben noch als Untermenschen Behandelten!
Wir verbrachten die Nacht mucksmäuschenstill auf dem Dachboden, schlichen uns morgens leise aus dem Haus, offensichtlich schlief die vom Plündern des Schoberhofs ermattete Ex-Zwangsarbeiterin noch.
Wochen später erbat Mutter die Tasche zurück. Frau von Langsdorf gehorchte, war aber Gott sei Dank neugierig genug, einen kurzen Blick hineinzuwerfen: Sie war vollgepackt mit Schmuck!
Er wurde Mutters Rettung. Allerdings war sie raffiniert genug, diesen sicher von Polen und Juden geraubten Schatz erst einzusetzen, als ihr Mann schon hingerichtet und über zwei Jahre ins zerbombte Land gegangen waren. Dann erst wagte sie, auf ihrem blauen Fahrrad mit ein oder zwei Ringen oder Armbändern zu einem Heim für »Displaced Persons« zwischen Schliersee und Neuhaus zu fahren, um dort bei Juden den Schmuck gegen Lebensmittel einzutauschen. Zwei von ihnen erkannten sie wieder von ihren Raubzügen durchs Krakauer Ghetto und nannten sie weiterhin ironisch »Frau Minister«. Sie machten ein kleines Vermögen, und wir mussten nicht mehr hungern.
Von all dem wusste Vater nichts. Und wir nicht, wo er abgeblieben war. Mir ging »Vati« in der Erinnerung nicht ab. Den älteren Geschwistern sehr. Michel und ich lebten die neue Freiheit aus. Unsere ach so tapfere und saubere deutsche Armee war auf einen Haufen Herumtreiber zusammengeschmolzen, die sich in den letzten Apriltagen von 1945, als Vater noch starr im Josefstal saß, im Schoberhof einquartiert hatten. Sie versuchten, aus ihren Uniformen Zivilkleidung zu machen und ihre Waffen loszuwerden. So hatten Michel und ich neben Pistolen auch Handgranaten, Gewehre und jede Menge Munition. Geschossen haben wir allerdings nicht. Dafür schlug ich mit einer Zaunlatte meinem Vetter von hinten dermaßen ins Genick, dass der heulend zu seiner Mutter lief. Noch heute sehe ich das runde Loch an seinem Hals, denn am Ende der Zaunlatte lugte ein verrosteter Nagel hervor. War das doch eine Reaktion von mir auf den äußeren Abstieg, das Verschwinden des Vaters, des Maybach, unserer ausländischen Bediensteten?