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»HEIL HITLER« ZUM ÄRGERN
ОглавлениеWar das auch der Grund, warum Michel und ich unsere Cousine, die uns nichts getan hatte, auf ein von der Wehrmacht zurückgelassenes Pferd setzten, selbigem auf die Flanken hieben, sodass es wie wild losgaloppierte und die Cousine in den Straßengraben direkt vor dem Schoberhof warf? Ohnmächtig blieb sie liegen. Ihre Mutter kam schreiend herbeigelaufen.
Michel und ich verzogen uns umgehend, analysierten aber mitnichten, warum wir plötzlich diese nachgerade mörderisch aggressive Art entwickelt hatten, sondern grinsten nur erleichtert, weil wir nicht in Mutters Besenkammer gesperrt wurden. Auch diese Begebenheit erfuhr Vater nicht, ebenso wenig, dass Michel und ich die Volksschulleiterin, Frau Hosp durch das Gartentor mit laut geplärrten »Heil Hitler« Grüßen und mit hoch gerissenem rechten Arm erschreckten. Denn das hatten wir mitbekommen: Seit die Amis einmarschiert waren, sagte kein Mensch mehr die zwei Worte oder riss den Arm hoch. Frau Hosp ließ sich unsere Verhohnepiepelung nicht gefallen, öffnete das Gartentor, wir stoben davon, sie beschwerte sich bei Mutter, und jetzt landeten wir wirklich in der dunklen, stickigen Besenkammer. Mutters Pädagogik war schlicht, aber wirksam.
Auch sonst veränderte sich das Verhalten der Neuhauser nach Kriegsende erheblich. Ehrerbietung vor der Top-Nazi-Familie war plötzlich nicht mehr in Mode. Die Nachbarbäuerin unterhalb des Schoberhofs ließ einmal ihre neue demokratische Wut an mir aus, putzte mich als verlogenen winzigen Großkopferten, der jetzt gar nichts mehr sei, runter. Das tat weh. Als Tage später ein Jeep hielt und mich der Fahrer fragte, wo’s hier Eier gibt, führte ich ihn zum Eierversteck der Bäuerin unterm Heu, sodass er sich mit Dotter ohne Bezahlung eindecken konnte. Er schenkte mir für meinen Verrat eine der von uns heiß begehrten Ami-Schokoladen. Ich fühlte mich im Recht, weil gerächt.
In der Schule schrie mir ein Klassenkamerad mal hinterher: »Minister, Minister, Benzinkanister!«
Der Satz brannte sich mir ein, weil er Verachtung pur war.
Bruder Norman wurde von einem Bauernburschen, mit dem er noch Monate zuvor fröhlich auf einer selbst gebauten Schanze hinter unserem Haus Skispringen geübt hatte, angeschrien: »Was bist’n Du? Nix bist! Nur a depperter Ministerbankert!« Bankert ist das bayerische Wort für uneheliches Kind. Was nun Norman ganz bestimmt nicht war. Das galt eher für mich.
Gitti hatte eine gleichfalls zehn Jahre alte beste Freundin namens Inge, zu der sie öfters zum Spielen ging. Ein Nachbar aus der Dürnbachstraße kam hinzu und sagte zum Vater ihrer Freundin: »Das ist aber kein rechter Umgang für deine Tochter!«
Der Vater antwortete großartig: »Kinder sind immer unschuldig!«
Offenbar der erste Demokrat mit Empathie im Schlierseer Tal.
Inges Bruder Wolfgang Hahn, von dem ich diese Erinnerung habe, setzte hinzu: »Über diese kurze Antwort war der Herr Lössel doch a bisserl verschnupft.«
Das war ich auch, zumindest als es darum ging, wer auf die riesige grüne Schultafel ein ebenso riesiges Hakenkreuz mit Kreide hingequietscht hatte. Der Deckert Schorsch, Hausmeister, nahm mich auf Anordnung der Lehrerin, die in mir den Schmierer entdeckt haben wollte, an der Hand, um mich bis runter zum See zur Schulleiterin, eben jener Frau Hosp, zu bringen. Ich heulte, während wir über die Straße gingen. Zu meinem Glück und zum baldigen Erschrecken vom Deckert Schorsch kam genau in diesem Augenblick meine leicht o-beinige Mutter vom Einkaufen hochgehaatscht. Sie sah ihren Jüngsten heulend im Schraubgriff des Hausmeisters, nahm sofort ihre Nicht-Erschießen- und Nicht-Fahrrad-Klauen-Stimme an und putzte den Deckert Schorsch so zusammen, dass der mich erschrocken zurück in die Klasse brachte. Ich hatte tatsächlich nichts mit diesem Hakenkreuz zu tun.
In der Hohen Zeit: Hans und Brigitte Frank bei einem offiziellen Empfang.
Michel hingegen schon, denn der malte mit Tinte unten beim Schnapperwirt, wo seine Klasse unterrichtet wurde, auf das Hemd des Knaben in der Bank vor ihm ein solches, nunmehr als verbrecherisch eingestuftes Hoheitszeichen. Mutter musste ein neues Hemd bezahlen, Michel bekam als Ausgleich eine Tracht Prügel. Die vollzog unsere Mutter immer mit dem hinteren Ende eines Teppichklopfers, dort, wo ein runder Blechpfropfen die einzelnen Baststränge zusammenhielt.
Einige Wochen nach Hans Franks Verhaftung wurde auch Norman verhaftet. Mutters Lieblingskind und unser bester Freund, der mit uns im Winter immer »Stalingrad« gespielt hatte. Michel und ich bauten Schneeburgen und verschanzten uns darin. Norman machte aus Schnee riesige Minen und zerbröselte damit unseren Unterstand. Obwohl Jahre älter als wir, entwickelte Norman die Tendenz, nicht älter werden zu wollen. Und war es dann doch plötzlich in bewundernswerter Manier. Er wurde in ein Gefangenenlager hinter Rottach am Tegernsee gebracht. Die Amis standen als Wache davor. Das Lager war nicht mal eingezäunt. Die Sieger kannten den kriecherischen Charakter deutscher Soldaten, denn die gehorchten der deutschen Lagerleitung aufs Wort. Norman ging wie befohlen zum Lagerleiter, einem deutschen Offizier, der ihn im Schnauzton mit den Lagergesetzen vertraut machte. Mein Bruder war genervt: Geht man so mit dem Sohn eines Mannes um, der gerade noch mächtig war und jetzt immerhin von den Amis persönlich im Jeep abgeholt worden war? Er sah sich um, entdeckte, dass das Lager nach hinten ohne Stacheldraht in eine Wiese überging, überredete einen anderen, ebenso jungen Gefangenen, und beide stolzierten in aller Ruhe hinten wieder aus dem Lager raus und wanderten über die Bodenschneid zurück zum Schoberhof.
Ich spielte gerade im Garten, als ich ihn kommen sah, lief ins Haus und schrie: »Mutti, Mutti, der Norman ist da!«
Nie habe ich meine Mutter glücklicher gesehen. Sie lief ihm entgegen, umarmte ihn. Das erstaunte mich sehr, denn Umarmen waren wir von ihr nicht gewohnt. Er war wirklich ihr Lieblingssohn, wogegen wir nichts hatten, weil auch wir ihn liebten. Obwohl er ein so hundsgemeiner Kerl sein konnte. So hatte ich von irgendeinem Fest noch eine Tafel Schokolade übrig, saß in unserer Bauernstube und machte mich egoistisch daran, sie zu vertilgen. Da kam Norman, legte sich eine Decke um die Schultern, kniete sich vor mich hin und jammerte: »Ich bin so ein armer Bettler, und ich habe solchen Hunger. Seit Tagen habe ich nichts mehr gegessen.« Dann streckte er eine zittrige Hand vor, und ich Depp heulte los und gab ihm meine Schokolade. Obwohl ich wusste, dass es der Norman war!
Was sich so alles einbrennt in einem Kinderhirn. Michel wird in späteren Jahren nie mit mir über seine Brandmale aus jener Zeit reden, als die Franks plötzlich nichts mehr waren. Sigrid, die Älteste von uns Fünfen, lässt sich auf den Seitz Hansi ein. Das ist der jüngere Sohn von Franz Seitz, einem bayerischen Filmregisseur, der einen so widerlich anschleimenden Nazifilm gedreht hatte, dass ihn hinfort sogar die NSDAP selbst schnitt: »SA Mann Brandt« heißt der Streifen. Unsäglich! Hansi ist schon in der Hohen Zeit der Franks in Sigrid verliebt, überredet sie, weil der Generalgouverneur gegen diese Verbindung ist, sogar zum gemeinsamen Selbstmord – und schneidet ihr die Pulsadern auf. Bei sich selbst war dann wohl das Messer zu stumpf. Sigrid wird nahezu blutleer gerettet. Als sie, zumindest körperlich gesund, wieder nach Hause kommt, ist sie von sich begeistert: »Mutti, findest du nicht, dass ich jetzt wieder so bin, wie ich es früher – vor Hansi – immer war? Es war mir so, als wenn einer einen Strick um einen immer fester und enger schnürt, und plötzlich fühlt man, man bekommt keine Luft mehr, und es bleibt einem keine Möglichkeit mehr, weiterzuleben.«
Jetzt allerdings, wo ihre Familie einen ganz niedrigen Status verpasst bekommen hat, erkennt sie, dass ein Strick vom Hansi doch nicht das Schlechteste ist. Da muss sie nicht um ihr täglich Brot fürchten. Also lässt sie Hansi gewähren. Obwohl der ihre und unsere Mutter schriftlich erpresst hatte: Wenn sie ihm nicht 50 000 Reichsmark gäbe, würde er den Amis das Versteck ihres Schmucks verraten. Mutter bleibt hart, Sigrid lässt sich schwängern, entflieht der runtergekommenen Familie und setzt ihr stinkfaules Leben fort. Das wird in Südafrika enden, wohin sie mit ihrem zweiten Ehemann auswandert, weil sie die Apartheid sehr schätzt. Wenigstens dort kann sie wieder auf Untermenschen herabsehen.
Am 25. August 1946 schreibt Brigitte ihrem Hans über uns Kluges: Auch Sigrid ist ja letzten Endes ein Opfer der Verhältnisse, der unglückseligen, geworden. Alle haben wir einen Schock erlitten durch die Plötzlichkeit, mit der das Unheil kam. Aber man muss doch wieder einen Weg zu den Wirklichkeiten des Lebens, zu sich selber und den wahren Werten des Lebens finden. Norman, der ja jünger ist, hat ihn gefunden, und er war wirklich welt- und lebensfremd. Vielleicht hat ihn die Erkenntnis der Erbärmlichkeit des äußeren Scheins noch tiefer getroffen. Und Norman hat auch die Führung des Vaters entbehren müssen zu einer Zeit, wo er Dich am dringlichsten gebraucht hätte resp. braucht.
Auch ich hatte einen Schock. Den wollte ich nie wahrhaben – dank meiner immer größer werdenden Wut auf unseren Vater, je erwachsener ich wurde. Doch dann entdeckte ich über 60 Jahre nach meiner Kindheit jene Bilder wieder, die im Umschlag farbig zu sehen sind. Da hatte ich als 16- bis 18-Jähriger meine Seele geöffnet. Zuvor, als Kind, habe ich wie Michel den Schock weiter in Aggression umgesetzt. So erschoss ich mit meinem Luftgewehr den zahmen Igel eines Nachbarjungen durch die Hecke hindurch. Irgendwie hatten mich der Typ oder der Igel geärgert. Vielleicht war auch das Rache am Vater, weil ich vielleicht damals schon wusste, dass er als 14-Jähriger selbst einen Igel besessen hatte. Schreibt er doch in seinen privaten Erinnerungen am Tag, als er von der Ermordung des österreichischen Kronprinzenpaars in Serbien erfahren hatte: Mir war einfach unvorstellbar, dass es solche Mordtat auf Gottes schöner Welt geben sollte. Ich hatte an diesem Tage einen Igel gefangen, den ich dann auch glücklich nach Hause brachte, dort aber wenig Freude damit verursachte.
Oder ich schlug einem Schulkameraden auf der Wiese hinter der Leonhardi-Kirche einen Milchzahn aus. Der heulte los und wollte es seinem Papa sagen. Auch das hat sich mir eingebrannt.
Einmal mussten Michel und ich auch den fetten Dackel einer Neuhauser Villenbesitzerin sprengen, denn die hatte uns beim Stehlen ihres Spalierobstes erwischt und es unserer Mutter verpetzt. Das tut man nicht, natürlich auch nicht das, was wir dem armen Dackel antaten, dem es den Bauch aufriss, genau gegenüber von der Judith am Neuhauser Bahnhof, wo er angebunden wartete. Erwischt hat uns keiner. Auch erklärten wir Meisen, Spatzen, Schwalben, Krähen zu entsetzlich schädlichem Ungeziefer und jagten es mit unseren Luftgewehren oder Steinschleudern. Michel gelang es sogar einmal, mit einem Steinwurf eine Krähe von einem Strommast runterzuholen. Es gab auch keinen Ameisenhaufen, den wir nicht mit trockenem Gras und mitgebrachtem Papier in Brand gesetzt hätten. Dabei lauschten wir auf das leise Knacken, das Ameisen verursachen, wenn sie Feuer fangen.