Читать книгу ZWEI HERZEN - Nina Heick - Страница 18
Vorbei, aber nicht vergessen
ОглавлениеAls Susi und Klaas mich, Victoria Meyer, am 10.2.1993 zu sich nahmen, war ich fünf. Seit dem 6.12.1991 verbrachte ich meine Zeit im Kinderheim „Nordland“.
Susi hatte den Entschluss gefasst, ein Kind zu adoptieren, da sie einer Abtreibung mit neunzehn Jahren wegen oder aus schlechtem Gewissen aufgrund dieser keine Kinder mehr bekommen konnte. Frau Schlüter, die Heimleiterin, blickte ihr in die Augen und sagte: „Frau Rickert, ich habe ein Mädchen für Sie. Es ist Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten.“
„Ich möchte es sehen!“, antwortete meine zukünftige Mutter und folgte der älteren Dame. Schüchtern saß ich auf meinem Bett – mit einer rothaarigen Puppe im Arm, die nichts anzuziehen hatte. Ich sah auf und begutachtete die fremde Frau in dem langen, dunkelroten Wildledermantel mit Plüschkragen. Ihr kantiges Gesicht, ihr kinnlanges, dunkles Haar und unter dem Pony die braungrünen Augen, die mich freundlich ansahen. „Hallo Victoria, ich bin Susi“, stellte sie sich vor. Ihr puderiger, süßer Duft erfüllte den Raum. „Soll ich deiner Puppe ein Kleid stricken?“
Sie schien aufgeregter zu sein als ich und lächelte breit. Ich nickte. In diesen wenigen Sekunden entstand die Gewissheit, dass sich zwei Menschen fanden, die füreinander bestimmt waren.
Eine Frau, die ich schon bald Mama nannte, und der dazugehörige Mann, den ich wegen seines cholerischen Wesens und weil ich bereits einen Papa hatte, den ich und der mich liebte, nie akzeptierte.
Wenn ich von meinem Vater spreche, handelt es sich nicht um meinen Erzeuger.
Ich unterscheide zwischen „Vater“ und „Papa“. Distanz und Nähe. Mein Vater ist demzufolge Klaas, mein Papa ist Lenn.
Ein neues Leben sollte beginnen – zwischen Himmel und Hölle. Einer Mutter, die alles gab, was ihr nur möglich war, und einem Vater, der mir einen Teil meiner Kindheit stahl, weil er mir Angst machte, wenn er brüllte, wenn der Schädel rot anlief vor Zorn, die Adern in den Schläfen pulsierten und blau heraustraten. Kälte, Herzlosigkeit und Schärfe. Ich war ein kleines Geschöpf ohne Ahnung vom Leben, von Pflichten und Regeln. Freunde, Möglichkeiten, Bildung und Wohlstand waren mir fremd, ebenso wie Strenge. Allein erzogen vom sanften, labilen Alkoholiker – einem Papa, dem es an Kraft, aber nicht an Zärtlichkeit fehlte – geriet ich an das absolute Gegenteil. Ich stand unter Klaas’ ständiger Beobachtung – getadelt, ermahnt und beschimpft. Wie soll ein Kind Regeln beherrschen, mit denen es zuvor nicht konfrontiert wurde? Gute Manieren zu Tisch – gerade sitzen, mit Messer und Gabel essen, den Mund beim Kauen schließen. Klaas gaffte ununterbrochen auf meinen Teller. Seine Stimme begann beim Unterlaufen von Fehlern lauter zu werden, bis ihn die Geduld verließ (was generell zügig passierte) und sein Geschrei durchs ganze Haus donnerte.
Ich brach in Tränen aus und bekam schreckliche Magenschmerzen, sodass ich nicht weiteressen mochte und hoch in mein Zimmer rannte. Mama versuchte verzweifelt, meinen Vater zu beruhigen, woraufhin er gänzlich explodierte und nicht mehr zu halten war. Wenn Mama nach dem verlorenen Kampf weinte, meistens zurückgezogen im Schlafzimmer oder auf der Wohnzimmertreppe im zweiten Stock, kuschelte ich mich in ihre Arme und hoffte, sie mit bunten Schokolinsen trösten zu können. Trost, den Klaas ihr niemals entgegenbrachte. Er bevorzugte es, sich stumm umzudrehen oder den Raum zu verlassen, als habe er mit der ganzen Sache nichts zu tun.
Die Streitereien und das geteilte Leid schweißten Mama und mich zusammen. Oft fragte ich sie, wen sie mehr liebe – Klaas oder mich. Sie versuchte, mir zu erklären, dass sich diese Lieben in ihrer Unterschiedlichkeit nicht miteinander vergleichen ließen, wir ihr aber beide gleich viel bedeuteten. Später gab sie zu, dass sie sich schon immer sicher gewesen war, mich mehr zu lieben als alles andere.
Mein Vater fühlte sich ausgegrenzt, wodurch sich seine Feindseligkeit verstärkte. Warmherzigkeit und Emotionalität galten in seinen Augen als Schwäche, der man nicht nachgeben durfte. Er war nicht in der Lage, Rührung zu zeigen und eine Umarmung zuzulassen, geschweige denn sie zu verschenken. Ich habe meine Eltern kein einziges Mal liebevoll miteinander umgehen sehen. Meine Mutter war es, die sehnsüchtig auf seine Berührungen oder wenigstens einen Kuss auf die Wange wartete, wenn er von der Arbeit heimkam und seine Aufmerksamkeit stattdessen leidenschaftlich unseren Hunden widmete, Mama und mich ignorierte und sich bereit zum Angriff machte. Er gab uns nie das Gefühl, uns freudvoll zu empfangen, denn wir sollten auf ihn losgerannt kommen. Wir schienen ihm lästig zu sein und stellten die ideale Zielscheibe für seine Unzufriedenheit, seine Wut dar. Es fanden sich immer Gründe, belanglose Kleinigkeiten, die ihn zur Weißglut brachten. Unter anderem das Fahrenlernen auf dem Dreirad, womit ich mich ultraschwertat. Er schüttelte den Kopf – eine seiner häufigsten Gesten, wenn er zum Ausdruck bringen wollte, wie begriffsstutzig wir jeweils waren. Seine Wut galt auch der ihm nicht nachvollziehbaren Fürsorge und intensiven Zuwendung einer Mutter für ihr Kind, dem sie jeden Wunsch von den Lippen ablas. Verwöhnung und Großzügigkeit provozierten seine Kriegsverkündung. Einmal schenkte Mama mir eine goldene Sternschachtel aus Pappe. In ihr war diverser Naschkram enthalten. Als ich klein war, glaubte ich fest an ihre Worte, dass sie mir einen Stern vom Himmel geholt hätte – ohne jeden Zweifel. Ein Stern, der mir gehörte. Zuneigung, die Mutti und ich meinem Vater anboten, lehnte er grundsätzlich ab. Versuchte Umarmungen meinerseits wurden verlegen lächelnd fortgedrückt. Er schloss sich selbst aus und vermied es, uns zu beachten. Am Frühstückstisch teilnahmslos hinter der Zeitung verbarrikadiert – einer Mauer zur Abgrenzung ähnlich –, wagte Susi, ihn zur Rede zu stellen. „Klaas, warum bloß streiten wir uns immer?“ Ohne aufzublicken erwiderte er: „Ich streite mich nicht mit dir, du streitest dich mit mir. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Ich bin tadellos, ich bin tadelfrei.“ Punkt. Bei Spaziergängen lief mein Vater in drei Metern Abstand voraus, als würden wir nicht zusammengehören, als wären wir ihm peinlich. „Klaas, kannst du nicht mal warten?“, rief Mama ihm hinterher. Sein Beitrag: „Dann müsst ihr eben aufschließen.“ Manchmal machten wir uns einen Spaß daraus und blieben einfach stehen, um zu testen, ob er unsere Abwesenheit bemerken würde. Er drehte sich nicht um. Wir hätten verloren gehen können und es wäre ihm nicht aufgefallen. Susi hisste stets die weiße Flagge und bemühte sich, ein Friedensgespräch einzuleiten. „Kannst du nicht ein Mal sagen: Ich bin auch nur der einfache kleine Klaas, ein ganz normaler Mensch?“ Daraufhin sprang er auf und krakeelte rasend vor Zorn: „Ich bin doch kein einfacher kleiner Idiot! Du bist ja vollkommen bescheuert!“ Mein Vater entschuldigte sich never ever. Er war immer im Recht. Er machte keine Fehler. Noch so viele Freunde konnten sein Verhalten für falsch erklären, er trug keine Verantwortung. Er wusste alles. Vor allem besser. Von Mama weiß ich, dass sie eines Nachts, erfroren wie ein Eisklotz, neben meinem Vater gelegen hatte und seine Distanz nicht mehr auszuhalten schaffte. Ihre Kräfte versagten und in ihrer Verzweiflung wand sie sich an den großen Herrn und bat ihn um Hilfe. „Mir ist so kalt. Bitte schicke mir Wärme und Mut, um durchzuhalten. Ich kann nicht mehr.“ Ihr Ruf wurde erhört und sie wurde von einem hellen Licht, in Form weißer Feuerflammen, durchflutet, das ihr Energie und Traute lieferte, Klaas kundzutun, dass es nicht weitergehe wie bisher und entweder sie oder er ausziehen müsse. Er nahm sich ihrer Entscheidung an und zog ins Gästezimmer im Erdgeschoss. Ich fürchtete mich allein im Dachgeschoss, wo ich zwei Kinderzimmer bewohnte und Geister sah, die es vermutlich nicht gegeben hat. In meinem Kopf erschienen Bilder von einem Mann, der schaurig lachend durchs Fenster spähte oder in der Küche an der Türklinke rüttelte. Visionen solcher Art hatte ich nur im Bauernhaus oder in unserem hundert Jahre alten Haus in Spanien. Das Gefühl, so verrückt es auch klingen mag, verfolgt zu werden. Zweimal wurden die Vorstellungen bittere Realität. Eine davon ganz gewiss, da meine Mutter es bezeugte. Vor dem Dachboden über meinem eigentlichen Kinderzimmer gruselte ich mich abscheulich. Nachts kletterte ich die schmale Holztreppe hinauf, weil ich in meiner Einsamkeit ein Kuscheltier suchte. Dunkelheit machte mich beklommen, ihr musste ich zügig entkommen. Ich suchte blind nach einem Lichtschalter und wurde panisch, als ich weder diesen noch mein Plüschviech fand. Abrupt brach ich das Nachforschen ab, um schnellstmöglich die Flucht zu ergreifen. Erfolglos. Etwas packte mich an der Schulter und drückte mich zurück. Ich erschrak so heftig, dass ich schrie, sich der Griff löste und ich die Treppe runter fiel. Von dem Zeitpunkt an wollte ich nicht mehr allein schlafen und kroch regelmäßig in das Bett meiner Mutter. Die Schlafzimmertür, vor der unser Rottweilerweibchen Maja stets wachte, wurde grundsätzlich nach meinem Eintreffen abgeschlossen. Die Alarmanlagenbedienung lag immer griffbereit auf dem Nachttisch neben uns. Mamas Vorsicht war nicht unbegründet, da mein Vater es nicht für notwendig erachtete, die Haustür zu verriegeln, wenn er die Hunde ausführte. Eines Morgens hörten wir ihn wie gewöhnlich das Grundstück durch das quietschende Gartentor verlassen und unsere Köter bellen. Kurz darauf wurde mein Albtraum wahr – die Türklinke unseres Schlafzimmers wurde heftig gerüttelt. „Klaas?“, rief meine Mutter ängstlich in die Stille – ohne Antwort. Ich versteckte mich unter der Decke. Nach einer gefühlten Ewigkeit hörten wir ihn und die Tiere zurückkehren. Susi fragte ihn, ob er es gewesen sei, der die Türklinke so heftig gerüttelt hätte, ohne reagiert zu haben, als sie nach ihm gerufen hatte. Sein Kommentar dazu: „Du bist doch vollkommen durchgeknallt!“ Beschränkt, untauglich, für nichts zu gebrauchen. Dieses Gefühl wurde uns übermittelt. Wir sollten funktionieren und dabei auch noch gut aussehen. Vorzeigefrau und Vorzeigetochter. Was wir von uns gaben, war „gequirlte Scheiße“. Ich, die eigentlich aus ungebildeten und armen Verhältnissen kam, brauchte lange, um Neues zu kapieren. In der Schulzeit hinkte ich immer als Letzte hinterher und stellte ein paar Fragen mehr als die anderen. Klaas impfte mir mit Gewalt den Lernstoff ein, den ich verpasste. Handgreiflich wurde er nie, aber er schlug mit Worten um sich, die tiefere Wunden verursachten, als Fäuste es jemals geschafft hätten. Worte, die sich nicht vergessen lassen. Ich besitze die Stärke zu vergeben, wohingegen Mama ihm nicht verzeihen kann. Unmöglich bei seinen zahlreichen Ablehnungen, sobald sie seine Nähe suchte und darauf verwiesen wurde: „Wenn ich nach dem zehnten Mal keine Lust habe, hast du Pech gehabt und musst es eben ein elftes Mal versuchen.“ Überdies nahm er für sein Verhalten gern zum Vorwand, lieben nicht gelernt zu haben. Er sei von seinen Eltern vernachlässigt worden, hätte weder Wärme noch Verbundenheit erfahren, trug kurze Hosen im Winter bei Eis und Schnee, ein eigenes Kinderzimmer besaß er nicht, sein Raum bestand aus einem Bett, das hinter dem Kleiderschrank stand. Tragisches Schicksal, zugegeben. Seinen respektlosen Umgang allerdings kann er damit nicht entschuldigen. Wie viele Beleidigungen musste Mama einstecken. Wie vielen Aufgaben sollte sie nachkommen und wie oft wurde sie kleingehalten, in Stücke zerrissen und verurteilt. Sie war das Aschenputtel, das sich die Finger wund schrubbte, sich beim Kochen verbrannte, sich die Haut an den Einkaufstüten einschnitt, Klaas die Sachen hinterherräumte und an seiner Seite verhungerte, verzichtete und ihre beste Zeit an einen Mann verschenkte, der sie nicht verdiente. Wie ertrug sie diesen Käfig? Sie ertrug ihn für mich. Um mich behalten zu können. Solange ich Pflegekind war, wurden wir regelmäßig von einer Sozialarbeiterin heimgesucht, die den Stand der Ehe und die Familienatmosphäre prüfte. Meine Mutter kämpfte wie eine Löwin und gaukelte frohe Miene zum bösen Spiel vor, weil sie mich um keinen Preis der Welt wieder hergeben wollte. Erst in meinem Alter von fast zehn Jahren, es war Mamas fünfzigster Geburtstag, erhielt sie die Adoptionsurkunde. Eine der seltenen guten Taten, in denen sich mein Vater für mich und uns eingesetzt hatte und Susi das größte Glück auf Erden, wie sie immer so schön sagt, bescherte. Die einzige Freiheit, die sie sich gewährte, bestand aus den Treffen mit der ehemaligen Agenturrunde aus ihrer Zeit als Werbekauffrau. Für mich bedeutete das, den Abend allein mit Klaas zu verbringen. Es verging kein Mal, bei dem ich nicht mit aller Kraft strampelnd plärrte und Mama anflehte, bei uns zu bleiben. Für mich gab’s nichts wie Verlässlichkeit, keine Sicherheit auf ihre Rückkehr. Meine leibliche Mutter Christina ging fort, als ich eineinhalb war. Woher sollte ich dieses Vertrauen nehmen? Mein kreischendes Verhalten verärgerte Klaas bis aufs Maximum und vertiefte mein Entsetzen. Ein Funken Mitleid muss ihn ergriffen haben, wenn er es auf seine Art wiedergutmachen wollte, indem er sagte: „Komm Victoria, setz dich auf meinen Schoß.“ Ekel und Abneigung im Wissen seines nackten, alten Männerkörpers, der sich unter dem Bademantel verbarg. Er gab mir keinen Grund zu der Annahme, mich unsittlich anzufassen. Ich weiß nicht, warum ich daran dachte und seine Bitte verweigerte. Vielleicht weil das der einzige Versuch war, mir zu zeigen, dass auch er eine zärtliche Seite in sich trug, den er wagte. Der Wunsch, dass ich mich auf seinen Schoß setzte. Ich kann mich nur an drei Freuden erinnern, die er mir bereitet hatte. Die Gabe aus freien Stücken, zu der er sonst nicht fähig war. Eine davon war das Mitbringen einer kleinen Naschtüte, wobei er mir sonst den Verzehr von Süßigkeiten untersagte. Die andere – das erste Album von Natalie Imbruglia mit der Single „Torn“, die ich rauf und runter sang. Die dritte – mein siebter Geburtstag, an dem er meine Grundschulkumpanen und mich auf einem Trecker zum Spielplatz chauffierte. Das fand ich großartig. Auf anderen Geburtstagen spielte er den DJ und kochte leckerste Speisen. Ich kann mich aber nicht daran erinnern, dass diese Feiern jemals friedlich ausklangen. Es war ja nicht alles schlecht. Dennoch ruft mein Gedächtnis überwiegend die eingebrannten Auseinandersetzungen auf. Alles, was ich darüber hinaus erträumte, wurde nicht ohne Gegenleistung oder überhaupt nicht erfüllt. Ich wünschte mir ein Barbiehaus. Die Forderung: „Dann musst du erst mal ausrechnen, wie groß das exakt sein soll, wie viel Holz und was sonst noch benötigt wird, mit mir ins Bauhaus fahren und das gebrauchte Zubehör besorgen.“ Welches Mädchen interessiert sich dafür? Diese Bedingungen habe ich nicht erfüllt, also bekam ich auch kein Barbiehaus. Irgendwann kaufte Mami mir ein Puppenhaus mit Biegepüppchen und wurde sozusagen hingerichtet. Für wie klug sich Klaas auch hielt, war er dennoch naiv genug, auf einen Millionenbetrüger reinzufallen. Samuel Weigel zockte den Reichen das Geld aus der Tasche, indem er sich eine Riesensumme Schotter lieh und versprach, das Doppelte zurückzuzahlen, was natürlich nie geschah. Er hielt sich seine Opfer warm, indem er sie zu prächtigen Events und Reisen einlud. Wir waren gern gesehene Gäste. Meine Mutter misstraute diesem Geschäft und warnte Klaas inständig. Davon wollte er aber nichts wissen und blätterte Schein für Schein hin. Um zu imponieren, baute er Weigels Söhnen ein Baumhaus in Afrika und prahlte auf seiner Rückkehr, was für ein toller Hecht er sei. Und bei mir machte er einen Aufstand wegen eines Barbiehauses. Unter Freunden war er ein freundlicher, charmanter Geselle, großzügig und humorvoll. Wie kleinkariert er sein konnte, wusste er herrlich zu verbergen. Ich wollte nach Disney Land – ohne gute Noten aussichtslos. Solange ich mein Zimmer nicht aufräumte, gab es sowieso gar nichts geschenkt. Ich war ein chaotisches Kind. Meine Unordnung dokumentierte er als Beweismittel in Fotos. Spielzeug, das ich von Mama bekam und nach geraumer Zeit liegen ließ, wurde mir zur Strafe von ihm vorgehalten. Auch dann noch, als eigentlich Gras darüber hätte gewachsen sein sollen. In meiner Jugend, wenn ich an Dingen, die ich begann, das Interesse verlor und aufgab, wurde ich an „Rappelzappel“, „Kroko Doc“ und „Baby Born“ erinnert. Ebenso an die angefangenen Ballett-, Stepptanz-, Gitarren- und Klavierunterrichtstunden. Neben dem hohen Anspruch auf Erfolg war die optische Erscheinung das Wichtigste. Klaas arbeitete mit Bedacht an seiner Beharrlichkeit, uns eine gesunde, fettarme Ernährung beizubringen. Ich durfte beispielsweise kein Weißbrot essen. Wenn ich in den Korb griff, so gab es spätestens nach der ersten Scheibe eine Abmahnung. Sein Ehrgeiz galt selbstverständlich nur uns. Er selbst hielt sich nicht an die aufgestellten Forderungen. Susi fragte er, wie viel sie eigentlich zugenommen habe, seit sie verheiratet seien, und an mir beäugte er jedes Gramm, das sich in meiner Pubertät in weibliche Züge formte. Ständig frischte er mein Gewissen mit dem Ansprechen auf meine Figur auf. Eines Abends – wir saßen in der Küche – nahm er mein Aussehen genau unter die Lupe. Er bemängelte nicht nur meinen Kurzhaarschnitt, sondern meinen wahrlich zierlichen Körper, an dem langsam eine Brust heranwuchs. Ich war empört über seine Meinung, darauf achten zu müssen, nicht zu dick zu werden, und wollte meinen flachen Bauch unter Beweis stellen, indem ich mein Nachthemd hochriss – ungünstigerweise ein wenig zu hastig, sodass mein Busen für ihn ersichtlich wurde. Er starrte darauf und bekannte, dass ich doch ganz gut geraten sei. Ich versank in unangenehmer Verlegenheit und ergriff voller Scham die Flucht. Wenn Klaas Komplimente machte, beschränkten sich diese ausschließlich auf Leistung und Äußerlichkeiten. Das führte zu Rebellion und gegensätzlichem Handeln meinerseits. Ich wollte nicht oberflächlich geliebt werden, sondern als Mensch. Egal, ob dick, dünn, klug oder dumm. Ich verachtete ihn, wenn er mit mir ausging, nur weil meine Haare gewachsen oder die Fettpölsterchen geschmolzen waren. You think you know me? Du weißt gor nüscht!!!Ich schiss auf seine Erwartungen und lief rum, wie es mir gefiel. Es plagte mich, dass er sich daraufhin abwendete und Desinteresse demonstrierte, nie danach fragte, wie ich mich fühlte oder wie ich meinen Tag verbracht hatte. Nur die Schulnoten erwiesen sich als wissenswert. Wenn diese nicht zufriedenstellend ausfielen, gab’s Schnauzereien satt. Somit kränkte ich ihn bei Streitereien mit der Aussage: „Du hast mir gar nichts zu sagen, du bist nicht mein Papa!“ Nein, ein Vater liebt sein Kind, so wie es ist. Klaas verstand meine Verletzung nicht. Er sah sich zweifellos als guten Vater an, der hart für seine Familie arbeitete. Als ich zwölf war, trennten sich meine Eltern. Ich erfuhr, dass Mama mit mir die Wohnung im Nebenhaus beziehen würde. Ich wollte ihn umbringen, meinen Vater. Ich schnitt ein Foto von ihm in tausend Stücke und hasste ihn abgrundtief für das unermessliche Leid, das er uns zufügte. Wir blieben in regelmäßigem Kontakt, der meinen Kummer und meine Wut intensivierte. Die zahlreichen Lokalbesuche endeten unverändert in Rauferei und Schluchzen. In gleicher Weise unsere Spanienurlaube. Wie hielt ich das alles aus? Gar nicht. Wären Mama, die innige Freundschaft zu Judy seit unserer Kindheit und meine Liebe für Maja, in deren Fell ich mein verheultes Gesicht vergrub, wenn ich keinen Ausweg mehr sah, nicht gewesen, würde ich vielleicht heute nicht mehr da sein.